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Im September 1951 - dem Monat, mit dem Martin Walsers Tagebücher beginnen - ist er 24, und Jahre trennen ihn von seinem ersten Buch. "Noch kann mich niemand kennen. Ich bin noch nicht da" schreibt er in dieser frühen Zeit. Er berichtet von Romanen und Romanideen, von Reisen und Sylvesterpartys, von Krankenhausaufenthalten, Begegnungen, Gesprächen. Sein Tasten und anfängliches Zweifeln als Autor finden sich ebenso darin wie sein Lebenshunger und der Wunsch, die "freundlich-schmerzlichen Wege weiterrutschen und die Welt wie ein Beerenfeld leer essen" zu können. Er erzählt vom "Abschlachten von…mehr

Produktbeschreibung
Im September 1951 - dem Monat, mit dem Martin Walsers Tagebücher beginnen - ist er 24, und Jahre trennen ihn von seinem ersten Buch. "Noch kann mich niemand kennen. Ich bin noch nicht da" schreibt er in dieser frühen Zeit. Er berichtet von Romanen und Romanideen, von Reisen und Sylvesterpartys, von Krankenhausaufenthalten, Begegnungen, Gesprächen. Sein Tasten und anfängliches Zweifeln als Autor finden sich ebenso darin wie sein Lebenshunger und der Wunsch, die "freundlich-schmerzlichen Wege weiterrutschen und die Welt wie ein Beerenfeld leer essen" zu können. Er erzählt vom "Abschlachten von Erwartungen", von der "Sucht der Sehnsucht", vom Schreiben als "Spielen vor einem Altar". Doch Martin Walser ist ein Verwandlungskünstler: Er verwandelt das Leben in Literatur. Stets werden seine Romane für autobiographisch gehalten, selten zu Recht. Wer nun seine Tagebücher aufschlägt, erkennt, dass sogar sie eher Dokumente seines Schreibens als seines Lebens sind. Genau dies macht sie zu einem Kunstwerk von hohem Rang.
Autorenporträt
Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2006

So kam er ganz gut durch
Spielen vor einem leeren Altar: Martin Walsers frühe Tagebücher

"Bloß probieren, ob ich's sagen kann. Nicht hellwach sein. Die Hand soll's allein versuchen. Später beteilige ich mich. Oder nicht." 1952 war Martin Walser ein ehrgeiziger junger Schriftsteller, der noch nicht wußte, wohin ihn seine Schreibhand einmal tragen würde. "Bei nächster Gelegenheit werden wir. Das ist sicher. Bloß was?" Der Weg war das Ziel, aber Gangart, Haltung und Ausdauer mußte der kommende Schmerzensathlet erst noch trainieren. "Mein Dasein und mein Schreiben berühren sich nur ganz selten und dann nur flüchtig und mit Scham": So schrieb ein Kafka- und Beckett-Epigone, dem die Parabeln und Grotesken nur so zuflogen. Jedes Frage- war ein Ausrufezeichen, jede Niederlage ein Sieg seiner "wohlkalkulierten Schwäche" und "abgefeimten Wehrlosigkeit": "Morgens lüge ich. Mittags sage ich die Unwahrheit. Abends erfinde ich etwas Passendes. So komme ich ganz gut durch."

Aber so blieb es nicht. "Wie war das Schreiben leicht und mühelos, als ich aus Kafka eine Manier machte", notiert Walser 1957. "Damals war jede noch so absichtslose Bewegung gesichert. Inzwischen ist alles gefährlich geworden und voller Risiko. Ich überlege alles, wahrscheinlich zuviel. Der Mut hat mich verlassen." Walser hatte sein Thema gefunden: die narzißtisch-masochistische "Selbstbeobachtung beim Leiden", gespiegelt in der Seelenarbeit der Angestellten, Aufsteiger und Liebhaber, die er in seinen Rundfunkreportagen und auf seinen Reisen durch die Wirtschaftswunderrepublik kennengelernt hatte. "Gefährlich" war dieses Schreiben nur insofern, als es jederzeit in zirzensische Leidensakrobatik abstürzen konnte. "Zur Zeit ist meine Schreiberei ein Spielen vor einem Altar, ich will bemerkt werden, und ich will mich abhalten, ihn zu berühren. Ich will mich müdespielen, ich will zuviel tun, bis ich einen Ekel empfinde und ruhig in mein Zimmer zurückkehren kann, mit milder Verachtung und Mitleid gegenüber der Welt und mir selbst."

Das Spielen vor dem leeren Altar ist Walser nie schwergefallen. Die "Tagebücher" zeugen von einem produktiven, sich selbst verzehrenden Hunger nach Fakten, Erfahrungen und Stimmungen, der ihn zum Chefdokumentaristen seiner Zeit machte. "Schreiben bis zur Ohnmacht" hieß: Selbstermächtigung durch Demut und Zerknirschung; das Tagebuch war Beichtstuhl und Absolution dieses Ekels. "Nichts Schlimmeres als das regelmäßige Tagebuch, auch wenn es gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist, aber welches ist das nicht! Das schleicht sich ganz von selbst in den kleinschreibenden, sorgfältig notierenden Geist ein, die Korrumpierung ist unvermeidbar. Mich kotzt es an, mich mit diesem Papier unterhalten zu müssen. Aber ich habe nichts anderes. Also schmiere ich mich selbst wie schlechte Marmelade aufs Papier. Klebrig. Süßlich. Ekelhaft . . . Es lebe die schlimmste aller Posen: die willenlose Beschäftigung mit einem leergewordenen Selbst."

Obsessiv und erotomanisch, aber kalt bis ans Herz, entwirft Walser funkelnde Prosaskizzen, Porträts und Monologe, die in seine frühen Erzählungen und Romane eingehen werden. Alles ist ihm Spielmaterial, nichts existentielle Notwendigkeit, unhintergehbares Bedürfnis, fester Glaube oder auch nur unverrückbare "Meinung". Walser läßt sich von und in der Sprache überwältigen, von seiner Hand flüssig vorschreiben, was sein Kopf skeptisch durchkonjugiert. Die Leichtigkeit des Schreibens macht es ihm selbst verdächtig, zu einem Quell von Scham und Schuld: "Wenn ich Gott wäre, würde ich meinen Gebeten mißtrauen. Beten ist schwer, weil ich gut im Formulieren bin. Mir kommt kein Wort unbesehen, unbespiegelt, ungenossen von den Lippen. Ich bin ein Friseur. Daran kann Gott keine Freude haben."

Der Leser schon. Walsers Tagebücher sind eine Fundgrube brillanter Etüden, Miniaturen, Aphorismen und kryptischer Andeutungen ("Wenn das so weitergeht mit den Mädchen, mein Gott"). Für Walser geht das Leben im Schreiben auf: Was ihn nicht zum Ausdruck reizt, existiert nicht, aber alles, was ist, drängt ihn zur Beschreibung oder wenigstens Dokumentation: ein verrutschter Frauenrock, ein flüchtiger Blick im Zugabteil, Speisekarten und Schlagertexte, die Psychologie eines Polterabends in der Provinz oder eine Silvesterparty in Berlin.

Die Stationen von Walsers exoterischer Biographie - die Männerfreundschaft mit Siegfried Unseld, das Engagement für Willy Brandt, Begegnungen mit Ingeborg Bachmann oder einem gewissen Herrn Kohl aus Mainz - tauchen nur in esoterisch dürren (und leider unzureichend kommentierten) Notizen auf. Walser macht, auch in seinen Tagebüchern, keinen Unterschied zwischen Mitteilung und Literatur, privatem Bekenntnis und öffentlicher Rhetorik. Ich ist, wie bei seinem Alter ego Meßmer, "Er" (oder auch, vor allem im Umgang mit Frauen, "man"), die Tagebuchprosa durchschossen von lyrischem Pathos, scharfzüngigen Paradoxa, Romanen in einer Nußschale, mit panischer Buchhaltung und manischem Gekritzel. Wir schauen dem Dichter bei der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken beim Schreiben zu; aber von seinem Leben als Familienvater, Liebhaber, Journalist oder "Gruppe 47"-Mitglied erfahren wir weniger als über seinen Hund oder die Mechanik der Melkmaschine.

Walser schreibt auf dem Marktplatz, als ob er zu Hause wäre: intim (aber nicht indiskret), privat (aber seiner Wirkung wohlbewußt), rücksichts- und absichtslos (aber nie ohne Hintergedanken). In seinem Bodensee ist er Kapitän und Leichtmatrose, Badegast und Rettungsschwimmer, jedenfalls sich selbst genug. Er ist sein einziger Leser, sein erster Kritiker: ein begnadeter Selbstverhinderungskünstler, der sich dauernd anklagt, freispricht und für das verurteilt, was er eben noch wortgewaltig verteidigte. So klettert er wie ein Affe an sich hoch, um von oben herab Gerichtstag über seine Kleinheit zu halten: "Ich bin nichts als ein landschaftlich gebundener Impressionist mit ein paar panischen Empfindungen, die mich, weil ich ihnen nicht nachhören, sie nicht ausdrücken kann, schließlich zum Ersatz-Moralisten machen."

Im Grunde ist Walsers ganzes Werk ein endloses Tagebuch, das sein Leben im Schreiben zersetzt und aufhebt. Dieses ist, gerade in seiner Vor- und Beiläufigkeit, konzentrierter, angriffslustiger, zärtlicher und aufrichtiger als das meiste, was er zuletzt geschrieben hat, kurz: sein eigentlicher Lebensroman. "Gegen mich müßte geschrieben werden", notiert Walser 1955 tragisch beglückt. "Ich habe Züge einer negativen Romanfigur."

MARTIN HALTER

Martin Walser: "Leben und Schreiben". Tagebücher 1951-1962. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 667 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2005

Im Bann der erotischen Konjunktive
Und heißhungrig auf alles Empirische: Martin Walsers „Tagebücher”
Jetzt endlich erschließt sich uns Martin Walsers Leben von Tag zu Tag: „18. 3. 1962, Frankfurt. 19. 3. 1962 Suhrkamp-Abend. 20. und 21. 3. 1962 Hessischer Rundfunk. Nachtprogramm. Spielleitung. 27. 3. 1962, St. Gallen. Lesung im Museumsverein. 28. 3. 1962, Arosa. Besprechung mit Dr. Jedele. 31. 3. 1962 Abreise nach Italien. 1. 4. 1962 Mailand.” Man würde gern Genaueres über diese Termine erfahren, wie auch über den 12. 6. 1962, zu dem Walser lediglich notiert: „Besuch Unseld, Boehlich, Johnson.” Die Rede ist - was die sonst etwas wortkarg geratenen Anmerkungen nicht unerwähnt lassen - vom „Wasserburger Treffen”, an dem neben den Genannten auch Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel teilnahmen. Damals wurde in Walsers Garten die Gründung der „edition suhrkamp” beschlossen, ein denkwürdiger Tag nicht nur in der Geschichte dieses Verlags. Aber Walsers Tagebücher der Jahre 1951 bis 1962 zeigen sich an solchen Denkwürdigkeiten auffällig uninteressiert. Überhaupt geben sie kaum Interna aus dem Literaturbetrieb preis, wie auch unverschlüsselte Mitteilungen aus dem Privatleben die Ausnahme bleiben. Eine Enttäuschung kann das freilich nur für Leser sein, die Walsers bereits publizierte Tage- und Notizbücher, vor allem die „Meßmer”-Bände, nicht kennen. Auch dort lässt sich Walser - bei aller Freude an anstößigen Konfessionen - niemals in die Karten seiner Autorschaft schauen.
Vielleicht kann Walser auch deshalb auf ein „Journal intime” verzichten, weil seine Romane selbst - ob „Brandung” oder „Der Augenblick der Liebe” - schon ein Nonplusultra der Intimität darstellen, freilich einer literarisch verschlüsselten Intimität, die ihrem Urheber nicht einfach zugerechnet werden kann. Man kann zwar den ganzen heiklen Gesellschaftsstoff der Walser-Romane, mit seinen Indiskretionen, seinem Klatsch, seinen Affären und Peinlichkeiten als eine Umbuchung aus der Sphäre der gelebten Erfahrung betrachten. Aber diese Umbuchung ist auch in den Tagebüchern schon vollzogen. Das Leben ist im Schreiben aufgegangen, und von dort aus führt kein Weg mehr zurück zur Welt der Tatsachen. Selbst da, wo sie nichts weiter tun als Außentermine aufzulisten, sind diese Tagebücher immerfort auf dem Sprung zur Literatur.
Es sind Entwurfs- und Skizzenbücher, in denen Ideen und Episoden allmählich literarische Gestalt annehmen. Die „Stricheleien”, mit denen Walser die Verfertigung seiner Einfälle begleitet, verraten etwas vom obsessiven Grundzug dieses Schreibens. Hier scheint ein Graphomane am Werk, der unaufhörlich kritzeln und stricheln muss, ganz wie sein frühes Vorbild Kafka. „Mein Dasein und mein Schreiben”, notiert der fünfundzwanzigjährige Walser am 6. 9. 1952 in Kafkas Geist, „berühren sich nur ganz selten und dann nur flüchtig und mit Scham”. Und weiter: „Dieser Zustand ist mein eigentliches Dasein, ist aber nicht fürs Wort geeignet, sondern gebietet recht deutlich aufzuhören. Das jedoch ist nun schon unmöglich.” Das liest sich einerseits wie die Variation eines Kafkaschen Dilemmas und zum anderen schon wie dessen Lösung. „Das Dasein kann ja auch nicht durch Entschluss beendet werden.” Wirklich nicht? Jedenfalls lautet der Entschluss des jungen Walser, ein Schriftsteller zu werden, einer, der sich durchsetzt und keinesfalls einer, der im Schatten bleibt. „Ich bin noch nicht da”, schreibt er am Neujahrstag 1952. Das wird sich bald ändern.
Das Walser-Foto auf dem Buchtitel - der skeptische, aber angriffslustige Blick hinter getönten Brillen, der sachlich-kurze Intellektuellen-Haarschnitt, die in ihrer überlegenen Kühle an den jungen Augstein erinnernde Ausstrahlung - macht deutlich, dass mit ihm ein Star geboren war. Keiner, der sich unter großen Mühen nach oben kämpft, sondern einer, auf den die Welt anscheinend nur gewartet hat. Von Walsers Weg zum Erfolg gibt die erste Hälfte dieser Tagebücher einen anschaulichen Eindruck. Früh bietet sich die Gelegenheit zur Mitarbeit beim Süddeutschen Rundfunk, und auf Auslandsreisen ergeben sich wertvolle Kontakte zu Berufskolleginnen: „Inger Larsen, Television Producer, The Danish State Radio.” Zwei Tage darauf ist zu lesen: „Mit Käthe ist alles besprochen (. . .) Wir haben Inger in die Familie aufgenommen.” Ein Jahr später dann die folgende Eintragung: „Vor einem Jahr in Paris hat I. L. zu mir gesagt, sie würde es tun mit mir, wenn ich sie in einen Roman aufnähme. Oder bilde ich mir das jetzt ein, dass sie gesagt hat, sie würde, wenn ich. . .” Fest steht nur, dass Walsers Arbeitslust von erotischen Konjunktiven wie diesem angefeuert wird. Er schreibt an „Ehen in Philippsburg”, er ist Spielleiter bei Radio- und Fernsehproduktionen, er nimmt im Mai 1955 den mit 1000 DM dotierten Preis der Gruppe 47 entgegen und beschreibt bald darauf mit fachmännischer Verzückung das „neue Auto, alles prall, dicht schließend, von gutem Geruch, und glänzende und matte Flächen in schöner Verteilung, und die Gänge noch ungeübt, man spürt bei jedem Griff: die Zahnräder lernen sich kennen”.
Man kann aus solchen Passagen den Einfluss Kafkas heraushören, den überschwänglichen und zugleich bodenlosen Ton seiner „Betrachtungen”, und Walser ist sich dieser Nähe und ihrer Gefahren bewusst. „Wie war das Schreiben leicht und mühelos”, schreibt er 1957, „als ich noch aus Kafka eine Manier machte.” Manchmal kommt Walser Kafka auch im Lebenswandel ganz nahe, so etwa, als er einmal wegen eines Gallenleidens für zwei Wochen zur Kur in Bad Mergentheim ist. Die Atmosphäre der Sanatorien mit ihren Kohlensäurebädern und Fangopackungen, die kurtypischen Formen der Geselligkeit, die übersteigerte Bedeutung, die der Körper und seine Signale erhalten, dies alles sind Facetten einer Kafka-Welt, von der Walser bei aller Faszination eines gründlich trennt: Er ist kein Junggeselle. „Die Frau, die wir lieben, ist immer ein Ersatz für eine, die wir noch nicht haben (oder nie haben werden)”, fällt ihm während seiner Kur ein, und auch sonst kreist sein Denken und Sinnieren unablässig um Fragen wie die, „ob man mit einer Frau im Café oder in der Bahn Kontakt suchen soll durch Blicke.”
Eine solche Frage kann Walser dann auf mehreren Seiten ganz in der Art einer Kafkaschen reductio ad absurdum drehen und wenden, aber nie wäre ihm die Reflexion beim Verfolg seiner erotischen Ziele hinderlich. So gesehen, spricht vieles für den Ehemann und gegen den Junggesellen, auch wenn Walser beim Vergleich der beiden Lebens- und Tagebuchformen zu dem Ergebnis kommt: „Der Pegel des Unglücks ist gleich, aber die Flüssigkeit ist verschieden.” Allerdings findet sich von diesem Unglück und seiner Flüssigkeit in Walsers Tagebüchern kaum eine Spur. Der Graphomane ist auch ein Erotomane, den neben dem Schreiben nichts mehr interessiert als die „Vorbereitung und Ausführung der sogenannten Liebe”. Berufe seien ein Elend, „weil sie uns nicht erlauben, andauernd zu lieben.” Nur der Beruf des Schriftstellers, wie er ihn auffasst, scheint da eine Ausnahme zuzulassen.
Der Schriftsteller, wie Martin Walser ihn in seinem ersten Tagebuchjahrzehnt verkörpert, ist, allen Dementis zum Trotz, ein glücklicher Mensch. Nicht nur, weil er sehr früh Erfolg hat, Geld verdient, Preise erhält, mit Siegfried Unseld regelmäßig zu Ski und Schach an den Arlberg fährt oder gemeinsam mit illustren Kollegen nach Harvard eingeladen wird. Zum Glück des Schriftstellers, wie es einem aus diesen Tagebüchern entgegen kommt, gehört jenseits des individuellen Erfolgs die Freiheit seiner Sprache und der Heißhunger auf alles Empirische, seien es nun die Bayer AG (über die Walser 1960 einen Dokumentarfilm dreht), der Nachbar im Krankenzimmer oder die ausrasierte Achselhöhle einer Frau. Am Silvestertag 1962 enden diese Tagebücher mit Walsers „Abendgebet: . . .dass es mir 1963 nicht mehr so langweilig ist.” Ob das Gebet erhört wurde, wird die nächste Lieferung der Tagebücher erweisen.
CHRISTOPH BARTMANN
MARTIN WALSER: Leben und Schreiben. Tagebücher 1951 - 1962. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 668 S., 24,90 Euro.
Martin Walser im Jahr 1962
Foto: Heinz Köster/Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" "Eine Fundgrube brillanter Etüden, Miniaturen, Aphorismen und kryptischer Andeutungen," begrüßt Rezensent Martin Halter mit großer Begeisterung Martin Walsers frühe Tagebücher, die er gerade auf Grund ihrer "Vor- und Beiläufigkeit konzentierter, angriffslustiger, zärtlicher und aufrichtiger" als das meiste findet, was dieser Autor in den letzten Jahren geschrieben hat. Walsers Tagebücher seien "sein eigentlicher Lebensroman" und "durchschossen von lyrischem Pathos, scharfzüngigern Paradoxa, Romanen in einer Nussschale", schreibt Halter voller Leseüberschwang und schaut beim Lesen mit Faszination diesem Autor bei "der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken beim Schreiben" zu.Er Sieht Walser dabei getrieben von Ekel, "sich selbst verzehrendem" Fakten- und Erfahrungshunger zum "Chefdokumentaristen seiner Zeit" werden. Über das Privatleben dieses Autors, lesen wir, erfahre man dagegen wenig. Das wenige, was über Freunde, Bekannte und Weggefährten enthalten sei, bedürfe mehr editorischer Erläuterung. Auf die Mängelliste setzt der Rezensent daher die "unzureichende Kommentierung" dieser Tagebuchaufzeichnungen.

© Perlentaucher Medien GmbH"