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Äsop war zahnlos, seine Rede kaum verstehbar. Er schielte. Sein Bauch quoll ihm über den Gürtel. Äsop war ein Sklave. Hans Joachim Schädlichs Nacherzählung des anonymen griechischen Äsop-Romans ist "ein wunderbares Buch" (Die Zeit) über das Leben und Sterben dieses schlagfertigen Moralisten und Fabeldichters. Der Autor Schädlich wurde vor allem durch seinen Prosaband "Versuchte Nähe" bekannt.

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Produktbeschreibung
Äsop war zahnlos, seine Rede kaum verstehbar. Er schielte. Sein Bauch quoll ihm über den Gürtel. Äsop war ein Sklave. Hans Joachim Schädlichs Nacherzählung des anonymen griechischen Äsop-Romans ist "ein wunderbares Buch" (Die Zeit) über das Leben und Sterben dieses schlagfertigen Moralisten und Fabeldichters. Der Autor Schädlich wurde vor allem durch seinen Prosaband "Versuchte Nähe" bekannt.
Autorenporträt
Schädlich, Hans JoachimHans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Das Stottern des Dichters des Königs
Und erzähle uns eine Geschichte: Hans Joachim Schädlich über Leben und Tod des Aesop / Von Kurt Flasch

Seit über zweitausend Jahren lehrt Aesop Europa Mores. Er tut es immer noch, in Versen und in Prosa. Schon früh wurde er aus dem Griechischen übersetzt, ins Lateinische und auch ins Deutsche. Man sagt ihm nach, er habe die literarische Gattung der Fabel erfunden, um seine Moral Großen und Kleinen beizubringen. Aber der Herr hat Zweifel an seiner Person hinterlassen: Man weiß nicht einmal sicher, ob er gelebt hat. Vielleicht ist "Aesop" nur ein Name, den man einer Textgruppe gegeben hat. Vielleicht ist er nur der Held einer erfolgreichen griechischen Erzählung: Ein Sklave berichtet, wie er durch Scharfsinn und Schlagfertigkeit aus allerlei schwierige Lagen wieder herausgekommen sein will. Mit seinem Witz und seinen Geschichten hat er Könige besiegt und Philosophen belehrt. Er kehrte die Verhältnisse ein wenig um, und dieser Effekt erschien umso größer, je ärmer und elender der Fabelerzähler beschrieben wurde. Sein Wort wirkte wie ein Wunder. Er sprach zu Freien, aber er soll Sklave gewesen sein; er habe durch Klugheit seine Freilassung bewirkt, und er habe das Vertrauen des Königs Krösus gewonnen. Er sprach zu Griechen, aber er sollte aus Phrygien stammen. In einer Umgebung, die dazu neigte, das Schöne für das Gute zu halten - und ist es etwa nicht schön, wenn Menschen gut handeln?, schilderte man ihn als buckligen und verkrüppelten Stotterer.

Es handelt sich um eine Legende von einem Schwachen, der kraft der Sprache die schwächere Sache zur stärkeren macht. Er verwirklicht, was die Sophisten zu lehren versprochen hatten. Der Dichtungsheld Aesop ist mit seiner Einfachheit und Korrigierwut zugleich eine Art sokratischer Existenz. Nur reist er viel und hat keine Polis mehr als Bezugspunkt; er ist überall der Fremde, der sich mit Worten Bleiberecht verschaffen muss.

Hans Joachim Schädlich hat den spätgriechischen Aesop-Roman als Vorlage genutzt, das Leben und Sterben des Aesop noch einmal zu erzählen. Er lässt das antike Schelmenstück wieder aufleben, leicht und ohne gelehrten Dekor. Mit sicherem Griff hat er einen Stoff gewählt, der ihm Gelegenheit bietet, seine Kunst vorzuzeigen, den untersten Boden der Realität zu Wort zu bringen: Dreck und Krankheit, Ohnmacht und Sklavenlos. "Gib ihm Sprache", so betet die Priesterin für den hässlichen armen Teufel, der ihr höflich den Weg gezeigt und ihr etwas zu essen gegeben hat. Isis, die Göttin, steigt herab und stellt seine Sprachfähigkeit wieder her; die Musen, die sie begleiten, verleihen ihm die Kunst, Fabeln zu erdichten. "Gib ihm Sprache", so überschreibt Schädlich sein schönes kleines Werk. Damit zeigt er den allgemeinen, den philosophischen Hintergrund dieser deftigen Erzählung von Erfahrungen der Unterschicht: Die Sprache als Göttergabe, als Erfindungskraft, als Hilfsmittel der Bedrängten. Ein Philosoph kauft den Sklaven Aesop für ein Spottgeld, das so gering ist, dass selbst der Steuereintreiber sich für den Vorgang nicht interessiert. Im Hause des Philosophen veranstaltet der hässliche Sklave kleine Lehrszenen, in denen er dem Philosophen zeigt, wie schlecht, wie ungenau er seine Sprache gebraucht. Er überführt ihn; er zeigt, dass der Berufsdenker nicht weiß, was "Lieben" heißt und was "das Beste" ist. Er weiß nicht einmal, was ein "Mensch" ist. Aesop verunsichert ihn; distanziert, wie von außen spielt er Grundbegriffe des antiken Denkens durch, er dementiert ihre harmonistische und rationalistische Tendenz. Alles hochgestochene Reden macht er lächerlich; der reiche Philosoph beginnt, ihn zu fürchten, aber er muss mit ihm diskutieren und stellt sich insofern mit ihm auf dieselbe Stufe; er bangt um sein Renommee und um seine Ehe. Selbst die Göttergabe "Sprache" rückt ins Zwielicht, denn sie dient der Hinterlist und dem Streit ebenso wie der Wahrheit und Freundschaft.

Auch die Sprache ist hineinverschlungen in den Dreck und die Vieldeutigkeit des Lebens. Oft zieht Aesop Nutzen aus seinen Geschichten; sie verschaffen ihm die Gunst des Krösus und des ägyptischen Königs. Aber in Delphi, dem Sitz des Apoll und dem Tempel der Weisheit, nutzen sie ihm gar nichts: Er hat die Delpher beleidigt, und die verurteilen ihn zum Tod. Er erzählt ihnen Fabel über Fabel, aber alles hilft nichts; sie zerren Aesop erbarmungslos an den felsigen Abgrund, von dem sie Verbrecher hinabstürzen. Aesop sieht, dass seine Kunst am Ende ist; er verflucht die Delpher und stürzt sich selbst in den Abgrund. Er stirbt den Tod philosophischer Selbstbestimmung; daher gehört nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben des Helden zum Aesop-Roman. Es ist ein Roman über die Dichtung. Aesop sagt einmal vor einer verwirrten Volksversammlung: "Ich kann euch nicht sagen, was ich denke. Aber ich erzähle euch eine Geschichte." Schädlichs Aesop-Geschichte ist selbst eine Art Fabel: Sie erzählt von vielen Erfolgen und vom letztendlichen Untergang des Sprachbegabten. Sie durchleuchtet das griechische Leben, einschließlich seiner Mythologie vom Goldenen Zeitalter, als alle Lebewesen einander noch verstehen konnten, einschließlich der Sklaverei und der Frauenverachtung. Schädlich präsentiert sie kommentarlos, verhalten und doch direkt. Schädlich hat nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann die DDR verlassen. Aber vielleicht fragen künftige Historiker einmal, ob in der alten DDR die Figuren, Mythen und Chiffren der Antike gegenwärtiger waren als in der alten BRD. Schädlich - wie vor ihm Heiner Müller und neuerdings auch Grünbein - präsentiert eine Antike ohne Patina. Eine Göttin gab ihm eine unprätentiöse, ungemein bewegliche, eine reine Sprache. Er sagt uns nicht, was er denkt, aber er erzählt uns eine Geschichte, lebensprall und nachdenklich. Das kurze Buch hallt lange nach. Es erzählt konkret und lässt doch alles offen. Es gehört zu den großen Büchern dieses Herbstes.

Hans Joachim Schädlich: "Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Aesop". Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 91 Seiten, geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Kurt Flasch zählt das kurze Buch in der FAZ begeistert "zu den großen Büchern dieses Herbstes". Schädlich durchleuchte anhand der deftigen Geschichten Aesops Leben, Mythologie und philosophischen Hintergrund des Goldenen Zeitalters (6. Jahrhundert vor Christus) der Antike, ohne sie zu kommentieren. So wird man beim Lesen klüger und darf sich doch eine eigene Meinung bilden. Vor allem jedoch lobt Flasch die unprätentiöse, ungemein bewegliche, reine Sprache des Autors, die auf jeden "gelehrten Dekor" verzichte. Schädlich präsentiere "eine Antike ohne Patina".

© Perlentaucher Medien GmbH"