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Ein Mann begegnet einer Unbekannten und verliebt sich. Es ist die Ehefrau seines Freundes. Eine alltägliche Geschichte, eigentlich, denn dieser Freund wurde gerade in Norwegen erschlagen. Die beiden Liebenden geraten in den Sog seiner Vergangenheit. Der Ermordete ist Mathematiker gewesen, der nur noch Staudämme im Urwald baute, der Mann ein Verleger, der nur noch Tiere in Zoos beobachtet, und die Frau Pianistin, deren Hände fürs Klavierspiel nicht mehr zu gebrauchen sind. Die drei suchen sich und flüchten voreinander quer durch Deutschland, Europa und die Welt. Dieser Roman zweier…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mann begegnet einer Unbekannten und verliebt sich. Es ist die Ehefrau seines Freundes. Eine alltägliche Geschichte, eigentlich, denn dieser Freund wurde gerade in Norwegen erschlagen. Die beiden Liebenden geraten in den Sog seiner Vergangenheit. Der Ermordete ist Mathematiker gewesen, der nur noch Staudämme im Urwald baute, der Mann ein Verleger, der nur noch Tiere in Zoos beobachtet, und die Frau Pianistin, deren Hände fürs Klavierspiel nicht mehr zu gebrauchen sind. Die drei suchen sich und flüchten voreinander quer durch Deutschland, Europa und die Welt.
Dieser Roman zweier Liebesgeschichten ist zugleich eine Kriminalgeschichte sowie eine Reise über die Grenzen von Erinnerung und Wissen in die Nacht. Er nimmt den Leser mit auf eine Tour de Force durchs Dickicht menschlicher Gefühle und Gedanken, führt mitten in ein unbekanntes Revier, in dem Mensch und Tier, Tod und Liebe kaum ohneeinander vorzustellen sind. "Der Schatten der Tiere" ist eine seltene Spezies: spannend, rätselhaft und atmosphärisch stark.
Autorenporträt
Mathias Gatza wurde 1963 in Berlin geboren, hat nach zwei Jahrzehnten als Lektor und Verleger vor allem deutschsprachiger Gegenwartsliteratur die Seite gewechselt und schreibt. Mathias Gatza lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2009

Im Nacken der Atem des Doppelgängers

Man muss stets mehr als einen Zeitpfeil im Köcher haben: Mathias Gatzas später Debütroman ist ein philosophischer Psychothriller, in dem man sich um Sinn und Verstand lesen soll.

Von Richard Kämmerlings

Wenn wir einen Krimi lesen, machen wir uns gewöhnlich nicht bewusst, dass seine Geschichte nur auf der Grundlage der klassischen Naturgesetze funktioniert. Jede Wirkung hat eine Ursache, jede Tat einen Täter und jeder Mord mindestens einen Mörder. Niemand kann sich zur gleichen Zeit an zwei Orten aufhalten, also ein wasserdichtes Alibi haben und doch am Tatort gewesen sein. Die Gründe für ein Verbrechen liegen immer in der Vergangenheit, niemals in der Zukunft. Und ein toter Körper fällt immer zu Boden - ohne Gravitation keine Spurensicherung. All das müsste nicht so sein, schon gar nicht in einem Roman. Und doch ist es immer so, millionenauflagenfach. Alle Regeln können übertreten werden, alle Gesetze gebrochen, nur die physikalischen nicht. Nicht der Kommissar oder der Staatsanwalt sind die obersten Gesetzeshüter, sondern der Autor.

Braun heißt der Mathematiker, mit dessen Ermordung Mathias Gatzas Roman "Der Schatten der Tiere" einsetzt. Man findet seinen Leichnam, "bestialisch zugerichtet", in der norwegischen Einöde. Vor dem Rückzug in eine einsame Hütte in freier Natur hatte dieser Braun angeblich bedeutende und brisante Forschungen durchgeführt, etwa ein Projekt zum Nachweis sogenannter "dunkler Materie", aber auch an kosmologischen Theorien gearbeitet, denen zufolge Zeitreisen möglich wären. Was würde das für einen Kriminalroman bedeuten, wenn der Ermordete nachgewiesen hätte, dass die Zeit nicht linear verlaufen muss?

Vergessen als Notwendigkeit.

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Verleger, der seine berufliche Existenz und sein Familienleben unter schwerem Alkoholeinfluss vor die Wand fuhr. Nach seinem Entzug hält er sich mit journalistischen Schnurren aus dem Zoo-Alltag über Wasser und ist längst mehr den Tieren als den Menschen zugeneigt. Braun lernte er auf langen Spaziergängen im Berliner Zoo kennen. Zwei Seelenverwandte trafen da aufeinander, zwei Gescheiterte und "Transzendentaltrinker", die nur noch im Rausch Sinn finden beziehungsweise die Frage nach Sinn vergessen konnten. Kurz vor Brauns Tod hat der Erzähler ihn in Norwegen besucht, ohne sich erinnern zu können oder zu wollen, was genau dort geschah. Noch unzuverlässiger als ein betrunkener Erzähler ist ein trockengelegter Alkoholiker, für den das Vergessen eine Lebensnotwendigkeit ist.

Brauns schöne Ehefrau Hélène taucht auf und wieder ab, der Erzähler zeigt sich auf diffuse Weise von ihr oder, besser, von Brauns früherem Leben mit ihr angezogen. Später flieht er zu ihr nach Amsterdam, verfolgt von der Polizei oder Schlimmerem, nur um dort erst recht in die Falle zu gehen. Zusammen flüchten beide weiter nach Norwegen, zum Ort des grausigen Geschehens. Und dort erst vollzieht sich die Tat, um derentwillen diese Geschichte wirklich erzählt wird: die Verschmelzung von Erzähler und Erzähltem, von Ich und Braun, die Einswerdung zweier Figuren als Effekt der Schrift.

Mathias Gatza ist ein ungewöhnlicher Debütant, nicht nur wegen seines Alters (er ist Jahrgang 1963). Für Kenner des Literaturbetriebs steht sein Name seit Anfang der neunziger Jahre - als Verleger und als Lektor - für eine ambitionierte, junge Literatur. Die autobiographischen Zutaten zu der eher meteoriten- als kometenhaften Verlegerkarriere des Ich-Erzählers will Gatza nicht verbergen; sein Roman steckt voller Seitenhiebe, ja Schienbeintritte gegen den Literaturbetrieb. Der Neuanfang ist zugleich der Versuch, reinen Tisch zu machen. Der Roman kann also eigentlich nur aufgefasst werden als eine Kampfansage nach dem Motto: Jetzt zeige ich euch mal, wie Literatur wirklich geht; was eine Harke ist; wie man Lesbarkeit und poetologischen Anspruch verbindet. Das könnte furchtbar nach hinten losgehen.

Doch Gatza zeigt es uns tatsächlich. Es ist verblüffend, mit welcher Sicherheit er die Schalthebel betätigt und die Gänge zwischen prosaischem Delirium tremens, logisch-scharfer Aphoristik und süffigem Psychothriller ohne Knirschen im Getriebe wechselt. So lässt er zwischendurch gern einmal mit tarantinohaften Schlägertypen die Muskeln spielen, wie in alten James-Bond-Filmen diabolische Wissenschaftler mit Wahrheitsserum hantieren und Figuren Sätze sagen wie: "So, du Clown, jetzt werden wir die Wahrheit aus deinem Spatzenhirn herausspülen." Man kann sich das Vergnügen vorstellen, das Gatza beim Hinschreiben solcher Sätze hat, auch weil man spürt, wie viel Knochenarbeit in den übrigen steckt.

Eingebettet in die mysteriöse Verfolgungsgeschichte wird das schillernde Vorleben Brauns, das durch ein bolivianisches Reise-Tagebuch allerdings eher weiter verrätselt denn erhellt wird. Seine Berichte von magischen Ritualen und dem Identitätsverlust in der Sucht variieren abermals das Grundthema des Buches: die Inbesitznahme einer fremden Existenz, die sich so schleichend wie die Machtübernahme des Alkohols im eben noch souveränen Körper vollzieht. Die beiden Hauptfiguren sind im Fortgang der Handlung - deren Zeitpfeile sowohl in Richtung Zukunft als auch in Richtung Vergangenheit laufen - immer weniger zu unterscheiden.

Der ganze Roman ist virtuos um das Zwillingsmotiv gebaut, das viel stärker als die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Erzähler und Autor den autobiographischen Glutkern des Romans bildet. Mathias Gatza hat dem Buch eine Widmung vorangestellt. "In Gedenken an meinen Zwillingsbruder Andreas" lautet sie. Der Roman ist durchzogen von Doppelgänger- und Parallelfiguren. Brauns Frau heißt Hélène, die des Erzählers Eleni, das letzte Kapitel trägt als Titel ein Celan-Zitat: "Das H ist die Spur, die unser Atem in der Sprache hinterlässt." Ein anderes Mal heißt es: "Vielleicht sind es die Reste und Spuren, die näher an die Personen heranführen als ihre Gegenwart."

Auch von Braun sind nur noch Spuren überliefert, doch in seinen Notizen kommt er seinem Leser, also auch uns, näher, als es auf einer Parkbank im Zoo je möglich wäre. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist nicht die Sprache, denn die haben auf ihre Weise auch die Tiere, sondern sind die Zeichen der Schrift, die abstrakte Repräsentation. Die Buchstaben verweisen stets auf etwas Abwesendes, sie sind daher ein ständiges memento mori: "Dafür erinnere ich mich an den Schrecken, der mich erfasste, als ich das erste Mal einen kitzelnden Filzstift um meine Finger zog und, nachdem ich meine Finger vom Blatt genommen hatte, die welligen Linien auf dem Papier betrachtete. Es war der erste Kontakt mit den Schatten, die wir in uns haben, und die Geisterhand blieb. Da half es auch nicht, das Papier zu zerreißen, sie hatte mich schon gepackt und spielte meinem kindlichen Verstand eine allererste Ahnung von Sterblichkeit zu."

Allerdings ist die Schrift auch ein Medium der Täuschung und der Lüge, und so wird immer unklarer, ob sich der Erzähler seine Begegnungen mit Braun nicht nur ausgedacht hat, ob dieser misanthrope und zugleich geniale Säufer nicht nur ein abgespaltener Teil seiner selbst ist, ein abgetötetes früheres Ich, eben eines Schattens, den "wir in uns haben".

Zwillinge sehen dich an.

In Amsterdam hat der Erzähler eine kurze Affäre mit einer Frau namens Ada. Das ist einerseits eine Anspielung auf den berühmten späten Roman Vladimir Nabokovs "Ada oder das Verlangen", ein Meisterwerk der Metafiktion. Zugleich wird bei dieser Begegnung ein zentraler Mythos eingeführt. In Adas Wohnung steht eine afrikanische Schnitzfigur: "Eine ere ibeji genannte Zwillingsfigur. In der Vorstellung der Yoruba ist der Tod von einem Zwilling ein Unglück, da Zwillinge eine gemeinsame Seele haben. Nach dem Tod des einen schwebt die Seele zwischen den Welten und bedroht den überlebenden Zwilling. Um der Seele wieder einen Platz zu geben, muss ein Schnitzer eine Zwillingsfigur herstellen, der die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird wie dem Zwilling, der noch lebt."

Das Herstellen von Figuren und Puppen als Stellvertretern und magischen Übergangsobjekten spielt auch bei den ethnologischen Beobachtungen Brauns in Bolivien eine wichtige Rolle. "Der Schatten der Tiere" lässt sich lesen als Versuch, mit den Mitteln der Schrift eine Zwillingsfigur zu schnitzen, um einen existentiellen Verlust zu kompensieren. Daraus ist allerdings auch zu schließen, was mit dem Gelingen dieser Arbeit für den Schnitzer auf dem Spiel steht. Wenn sich der Erzähler an anderer Stelle über die "papiernen Prozessionen von Ich-Erzählern" bei einer Nachwuchsautorin mokiert, die glaubt, nur der Schmerz könne die Ich-Form rechtfertigen, dann ist das Teil des Versteckspiels, das Gatza mit dem Leser treibt.

Und die Tiere? Auch sie bevölkern ein Paralleluniversum, einen dem menschlichen Bewusstsein gänzlich und für immer unzugänglichen Teil der Welt. Brigitte Kronauer hat in einem Essay einmal von der "Konstanz der Tiere" gesprochen, sie seien "Garant und Komplize eines Anderen auch in uns, das sich sperrt gegen Extraktion und Bilanz". Attribut des Animalischen ist auch bei Gatza die Überwindung der linearen Zeit, die Verweigerung einer Entwicklung im biographischen und evolutiven Sinne: "Jahrzehnte später schauen die Tiere einen an, als wäre kaum eine Sekunde seit der Kindheit vergangen, als hätte man nur einen einzigen Moment die Augen zugehabt. Beim Anblick von Tieren kann man auf diese Weise wahrscheinlich sogar ganze Jahrzehnte zurückspringen, wer weiß, vielleicht sogar bis zum sechsten Schöpfungstag."

Wie die Mathematik verweisen die Tiere, anders als die Schrift, auf nichts außerhalb ihrer Welt. Gerade weil die Mathematik rein ist und die Tiere - jedenfalls wenn man sie von allen Projektionen befreit - keine Bedeutungen mehr tragen, entlasten sie uns vom Verlangen nach Sinn, das ansonsten nur im Rausch - illusionäre - Erfüllung finden kann. Es ist konsequent, dass der Erzähler im Entzug gerade den Zoo aufsucht.

Die Schrift und damit der Roman sind genau das Gegenprogramm dazu, da die Lektüre von der Sinnsuche angetrieben wird, der hermeneutischen "Wut des Verstehens", wie Jochen Hörisch das einmal genannt hat. Eine Geschichte, an deren Anfang ein mysteriöser Tod steht, ist der Paradefall einer literarischen Quest, einer Suche nach des Rätsels ultimativer Lösung. So verstrickt Gatza seine Leser in dasselbe Dilemma, an dem seine Figuren leiden und vor dem sie in den Alkohol, in die Natur oder die abstrakten Räume der Mathematik flüchten - man kann nicht nicht nach Sinn suchen.

Schon auf der Ebene des Stils, in den oft etwas verrätselten, um die Ecke erzählten oder durch Auslassungen von logischen Zwischenschritten verknappten Sätzen, zwingt Gatza den Leser zur Detektivarbeit, zum Fährtenlesen und zur Schlussfolgerung. Überall hinterlässt er Spuren aus literarischen, kulturgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Anspielungen. Hat Braun etwas mit der Braunschen Röhre zu tun? Oder warum sonst versucht der Erzähler verzweifelt, einen Fernseher zu reparieren - ebenso übrigens wie eine Kaffeemaschine der Firma Braun? Was hat es mit Brauns Forschungen auf sich? Wie hat die frühere Konzertpianistin Hélène tatsächlich ihre Hand verkrüppelt? Wer hat Brauns Tagebuch wirklich geschrieben? Wie viel an dunkler Materie enthält dieser Roman, und wie wäre sie nachzuweisen?

In dieser literarischen Kombinatorik ergibt sich aus jeder möglichen Lösung nur ein weiteres Problem. Es gehört zur großen erzählerischen Kunst von Mathias Gatza, dass der Leser ihm bis zur letzten Seite, ja, bis zum letzten Satz dieses Thrillers der Identität folgt, auch wenn er schon lange ahnt, dass die Suche hier noch nicht zu Ende ist.

Mathias Gatza: "Der Schatten der Tiere". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 400 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2008

Schwankend durch die Braunsche Röhre
Menschen kommen eher schlecht weg in Mathias Gatzas Roman „Der Schatten der Tiere”, dafür steht die dunkle Materie um so besser da, und mit gut gelauntem Sadismus wird die Luft aus allem gelassen, was vorgibt, die Welt zu sein Von Jutta Person
Der anspruchsvolle Menschenfeind hat es nicht leicht. Er muss seinen Geist auf irgend etwas richten, was eine möglichst menschenabgewandte Reinheit verspricht –Mathematik, Zoologie, Alkohol, Logik oder Teilchenphysik bieten sich an. Besonders unter den Tierfreunden finden sich begabte Menschenhasser, denn nirgendwo lässt sich das menschliche Geschlecht so elegant zurückstutzen wie beim Zoobesuch und der Beobachtung von Riesenguramis, Soldatenkiebitzen oder Argusfasanen. Tierische Schönheit – zum Beispiel bei Pfauenschwanzfedern – entpuppt sich als verschwenderische, ja geradezu zweckfreie Angelegenheit, die dem humanen Dünkel ein paar interessante Gedankenspiele aufzwingt.
Der Icherzähler in Mathias Gatzas Roman „Der Schatten der Tiere” hat beinahe alles erreicht, was zu einer verkrachten Existenz mit entsprechender misanthropischer Grundausstattung gehört. Er besitzt eine Zoo-Dauerkarte, ist trainierter Ex-Trinker und krebst als freiberuflicher Schreiber am Rande des Existenzminimums vor sich hin. Am besten geht das bekanntlich in Berlin: Unlängst sind einige lesenswerte Romane erschienen, in denen freie Journalisten zu gewieften Desperados mutieren. Für ein paar Zeilen mehr lassen sie sich durch die Großstadt treiben, und ihre kulturkritische Bildung hilft ihnen dabei, eine ironische Distanz zum eigenen Abstieg zu wahren.
Dem Großteil dieses akademischen Lumpenproletariats hat Mathias Gatzas Icherzähler aber noch einige wertvolle Absturzerfahrungen voraus. Weil er lange genug in der Verlagsbranche gearbeitet hat, pflegt er einen kernigen Nihilismus, was den Sinn und Zweck von Literatur betrifft; sein eigenes Buchprojekt über den Schatten der Tiere hat er längst an den Nagel gehängt. Stattdessen füllt er eine Kolumne mit Tiergeschichten („Silvester im Zoo”) und philosophiert weiter über die Sprachlosigkeit der Tierwelt: Überall zieht der Mensch einen Graben zwischen sich und dem Tier, erfindet Jäger und Gejagte oder koppelt das Bewusstsein selbstherrlich an den eigenen humanen Bauplan – es ist zum Vegetarierwerden.
Ein würdiges Alter Ego entdeckt der Ex-Buchmacher in Braun, einem mysteriösen Mathematiker, den er auf einer Trinkerbank im Berliner Zoo kennenlernt. Dieser Braun setzt sich nach Norwegen ab, um dort ein Leben in absoluter Einöde zu führen. Bald nachdem ihn der Icherzähler in der Schneewüste besucht hat, wird Braun ermordet aufgefunden, und von da an überstürzen sich die Ereignisse. Der Erzähler verliebt sich nicht nur in Brauns Exfrau Hélène, die plötzlich in Berlin auftaucht; er hat außerdem noch die Polizei und weitere Verfolger am Hals. Der Mathematiker war wohl einer ganz heißen Sache auf der Spur, die etwas mit bolivianischen Staudämmen und Experimenten mit dunkler Materie zu tun hat. Außerdem war sein Großvater während des Zweiten Weltkriegs an der Gewinnung von schwerem Wasser (Atombombe!) in Norwegen beteiligt. Bald schon sind Liebes- und Kriminalgeschichte unentwirrbar verknotet, weil auch die ätherische Hélène immer undurchsichtiger wird.
Was der Leser sich zusammenreimt, ist allerdings kaum mehr als eine chronologische Krücke, eine Zwangshandlung menschlicher Logiksucht. Je tiefer man in die Vor- und Rückblenden des Romans eintaucht, desto unklarer wird, wer wann wo gewesen ist. Braun und Nicht-Braun verschwimmen zu einem zwielichtigen Paar, das elektromagnetisch um sich herumtanzt. Die beiden ähneln sich nicht nur in Sprech- und Denkweise, auch der irre Humor, die Trinkerphrasen und der Hang zum Lügen könnten von ein und derselben Person stammen. Das Doppelsehen erweist sich nicht nur als Alkohol-, sondern auch als Identitätsproblem: Wie kann man wissen, dass man der eine und nicht der andere ist?
Seinen Dreh gewinnt der Roman aber dadurch, dass er sich von Anfang an für die Logik der Lüge interessiert. Der Erzähler trainiert nicht nur Aussagenlogik mit seiner cleveren vierzehnjährigen Tochter; er tut alles dafür, Ich und Er von vornherein als überaus dubiose Positionen anzuschwärzen. „Kein einziges Wort in diesem Roman ist erfunden. Alle Personen existieren tatsächlich. Es sind einige Lügner darunter”, ist dem Buch als Motto vorangestellt, und wenn das ein gültiger Syllogismus sein soll, muss die Lüge irgendwo in den Wörtern stecken. Die Schriftsteller kommen dabei schlecht weg: Weil die Hauptfigur mit eitlen, dem „Beschreibungsunsinn” verfallenen Autoren-Ichs so vertraut ist, wird mit gut gelauntem Sadismus die Luft aus allem gelassen, was vorgibt, die Welt zu sein.
Dass Mathias Gatza, Jahrgang 1963, viele Jahre im Verlagswesen tätig war – bis Mitte der neunziger Jahre leitete er den „Gatza Verlag”, später arbeitete er als Lektor bei Eichborn und beim Berlin Verlag –, mag da sehr hilfreich gewesen sein. Wer sich lange genug auf der Buchmacherseite durch den Betriebsdschungel schlägt, hat meistens ein abgebrühtes Verhältnis zur großen Geschichtenproduktionsmaschine; tiefere Wahrheiten springen einen da nur noch selten an. Gatzas Debütroman stellt die Literatur aber nur vordergründig als Lügengewerbe an den Pranger. Wenn die vermeintlich saubere Mathematik gegen die Sprache ausgespielt wird, geschieht das ja als Teil einer literarischen Versuchsanordnung.
Diese philosophische Akrobatik hat lustige Effekte – in der norwegischen Einödhütte gibt es handgestickte Wittgenstein-Zitate auf Leintüchern –, und nur in seltenen Fällen neigt der Erzähler zu bedeutungsschwangeren Sentenzen über den Tod oder die Zeit. Ein selbstironischer, manchmal auch erfrischend boshafter Ton bestimmt die Geschichte vom Ex-Trinker, der hinter Brauns Geheimnis kommen will und dabei in die Röhre schaut. Obwohl Braun und sein Widerpart zwei ziemlich schwankende Gestalten sind, haben beide nur wenig Mitleid mit der Gebrechlichkeit der Welt. Sie jagen einer riesigen Reinheitsblase, einer allumfassenden Sinnwolke hinterher, die es nicht geben kann, außer vielleicht zwischen Pfauenfedern und Primzahlen – oder im Vollrausch. „Der Schatten der Tiere” ist ein kluger Roman über das Paradox des sprachlosen Bewusstseins, über unstillbare Sehnsüchte und Süchte – wie gut, dass er außerdem eine hohe Dosis Galgenhumor intus hat.
Mathias Gatza
Der Schatten der Tiere
Roman. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008. 400 Seiten, 19,90 Euro.
Lüge als Logik, Doppelsehen als Identitätsproblem
Sinnwolke und Reinheitsblase, Pfauenfedern und Primzahlen
Den konsequenten Misanthropen treibt es entweder in die Schneewüste oder in den Zoo. In Berlin kann er beides haben. Foto: Linn Schröder / Ostkreuz
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit hohem Lob bedenkt Richard Kämmerlings diesen "philosophischen Psychothriller" von Matthias Gatza. Ein erstaunliches Debüt sei dem Autor und ehemaligen Verleger mit dieser verwirrenden Verfolgungsgeschichte um einen misanthropen, inzwischen trockenen Alkoholiker geglückt, der sich in die Ehefrau eines in Norwegen ermordeten Mathematikers verliebt, der mit dunkler Materie und Zeitreisen befasst war. Er beschreibt den Roman als höchst souveränen Mix aus "prosaischem Delirium tremens, logisch-scharfer Aphoristik und süffigem Psychothriller", angereichert mit bösen Seitenhieben auf den Literaturbetrieb und zahllosen literarischen, kulturgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Anspielungen. Geradezu meisterhaft scheint Kämmerlings, wie Gatza den Roman um das Zwillingsmotiv konstruiert hat. Er hebt hervor, dass bei der Lektüre einiges an Detektivarbeit zu leisten ist. Dass der Leser dem Autor dennoch bis zur letzten Seite fasziniert folgt, zeigt für Kämmerlings auch Gatzas "große erzählerische Kunst".

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