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Jonathan Franzen hat schon oft gezeigt, wie viel ihm deutsche Sprache und Literatur bedeuten. Jetzt hat er sich mit einem weiteren Helden seiner Deutsch-Lektüren befasst, dem Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936), einem der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts, so scharfsichtig und scharfzüngig wie kein anderer seiner Zeit. Vor etwa 100 Jahren prangerte er in seiner Zeitschrift "Die Fackel" den Einfluss der Massenmedien an, kritisierte die entmenschlichenden Folgen von Technik und Konsumkapitalismus sowie die chauvinistische Rhetorik in der…mehr

Produktbeschreibung
Jonathan Franzen hat schon oft gezeigt, wie viel ihm deutsche Sprache und Literatur bedeuten. Jetzt hat er sich mit einem weiteren Helden seiner Deutsch-Lektüren befasst, dem Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936), einem der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts, so scharfsichtig und scharfzüngig wie kein anderer seiner Zeit.
Vor etwa 100 Jahren prangerte er in seiner Zeitschrift "Die Fackel" den Einfluss der Massenmedien an, kritisierte die entmenschlichenden Folgen von Technik und Konsumkapitalismus sowie die chauvinistische Rhetorik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Weimarer Republik. Aber obwohl er glühende Anhänger hatte, darunter Franz Kafka und Walter Benjamin, blieb er ein einsamer Prophet, und heute sind seine Schriften nur noch Wenigen bekannt.
Mit seinem «Kraus-Projekt» versucht Jonathan Franzen, das zu ändern. Er versammelt die aus seiner Sicht bedeutsamsten zwei Aufsätze des Wiener Polemikers und hat sie - unterstützt von Daniel Kehlmann und dem Kraus-Experten Paul Reitter - auf Aufsehen erregende Weise, nämlich sehr persönlich kommentiert. So erfährt der Leser nicht nur Wesentliches über den literaturhistorischen Hintergrund, sondern erhält auch Hinweise zum Verständnis der komplexen Texte und neue Einblicke in Franzens Denken, Leben, Werk.
Autorenporträt
Franzen, JonathanJonathan Franzen, 1959 geboren, erhielt für seinen Weltbestseller «Die Korrekturen» 2001 den National Book Award. Er veröffentlichte außerdem die Romane «Die 27ste Stadt», «Schweres Beben», «Freiheit» und «Unschuld», das autobiographische Buch «Die Unruhezone», die Essaysammlungen «Anleitung zum Alleinsein», «Weiter weg» und «Das Ende vom Ende der Welt» sowie «Das Kraus-Projekt» und den Klima-Essay «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen». Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. 2013 wurde ihm für sein Gesamtwerk der WELT-Literaturpreis verliehen, 2015 erhielt er für seinen Einsatz zum Schutz der Wildvögel den EuroNatur-Preis. Er lebt in Santa Cruz, Kalifornien.

Abarbanell, BettinaBettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin - u.a. von Jonathan Franzen, Denis Johnson, Rachel Kushner, Elizabeth Taylor und F. Scott Fitzgerald - in Potsdam. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2014

Der Fußschweiß der Ästheten
Jonathan Franzen verknüpft das Werk von Karl Kraus mit seiner Jugend
Jonathan Franzen ist vielleicht der namhafteste unter den zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellern. Seine Romane „The Corrections“ und „Freedom“ wurden beide von Oprah Winfrey für ihren äußerst populären „Book Club“ nominiert und verkauften sich millionenfach – und doch ist er ein ernsthafter Intellektueller, der enge Verbindung zum Alten Europa hält und auch dessen entlegenere kulturelle Schätze zu würdigen weiß. So kam, nach einer Inkubationszeit von drei Jahrzehnten, das „Kraus-Projekt“ zustande.
  Es ist ein höchst persönliches Projekt geworden, mit dem er zwei ineinander verflochtene Absichten auf einmal verfolgt: Er setzt sich mit jener maßlos ehrgeizigen, düsteren und doch wie elektrisierten Phase seines Lebens auseinander, als er, gerade etwas über zwanzig Jahre alt, dank eines Stipendiums im West-Berlin der Vorwendezeit Germanistik studierte; und er führt endlich sein Vorhaben zu Ende, zwei Essays des Wiener Satirikers Karl Kraus, den er sich in seelisch problematischer Lage zur Vaterfigur erkor, einem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen: „Heine und die Folgen“ und „Nestroy und die Nachwelt“.
  Dass es ausgerechnet diese zwei sein mussten, verblüfft. Als Einführung in Kraus’ Werk, und gar für ein nicht deutschsprachiges Publikum, scheinen sie denkbar ungeeignet zu sein. Kraus unternimmt es darin, seinen eigenen Standpunkt als satirischer Autor zu definieren, indem er sich von Heinrich Heine, in seinen Augen der Ahnherr allen Feuilletonismus, feindlich distanziert und den Wiener Dramatiker und Volksschauspieler Johann Nestroy als Vorläufer beansprucht. Während Heine sich international ohne größere Schwierigkeiten vermitteln lässt, bereitet Nestroy heute auch einem deutschen Publikum nicht geringe Probleme. Kraus’ Sprache ist in diesen beiden Texten noch hochfahrender und hermetischer als gewöhnlich; nicht selten muss Franzen sich mit den Gefährten seines Projekts, dem Literaturwissenschaftler Paul Reitter und dem befreundeten deutschen Schriftsteller Daniel Kehlmann, über den Sinn eines Satzes beraten, um zum Ergebnis zu kommen: Keiner von ihnen dreien kann was damit anfangen.
  Der deutsche Leser nimmt das Buch mit zwiespältigen Empfindungen zur Hand. Auf der einen Seite wirkt es rührend, dass hier jemand, der von außen kommt, sich solche Mühe mit unserer Literatur gibt, noch dazu bei einem so voraussetzungsvollen Autor wie Kraus, und gerade bei zweien seiner schwierigsten Werke. Auf der anderen Seite schwant einem nichts Gutes, wenn man das Psycho- und das Philologische in solch enger Verzahnung antrifft.
  Auch das Schriftbild spricht von Zwiespalt. Kraus’ Text schwimmt sozusagen oben auf der Seite, während der weite Raum darunter von Franzens Fußnoten eingenommen wird; manchmal entschwindet Kraus zehn Seiten lang überhaupt, weil die Fußnote sich aus ihrer untergeordneten Funktion befreit und ihren Anlass anscheinend ganz vergessen hat. Was davon im engeren Sinn einen Kommentar darstellt, hat Franzen weitgehend Paul Reitter überlassen. Franzen selbst will vor allem eines: die Geschichte seiner Jugend erzählen und wie er aus ihrem beschämenden Unglück schließlich doch noch herauswuchs.
  Ein in sich gerundetes Werk kann auf diesem Weg nicht entstehen. Je länger die Lektüre währt, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass Kraus für Franzen als Vorwand und Sprungbrett dient. Das bedeutet nicht, dass Kraus entbehrlich wäre. Franzen hakt sein Schleppnetz an einem einzelnen Satz fest, um es von dort aus über den eigenen Meeresgrund zu ziehen. Kraus mag etwa geschrieben haben: „Die Nasen sind verstopft, die Augen sind blind, aber die Ohren hören jeden Gassenhauer.“ Daran knüpft Fußnote 83 an, etliche Seiten lang, die beginnt: „Warum war Kraus so zornig?“ Die Antwort gelingt Franzen, indem er, mit vieljähriger Verspätung, die soziologischen Parallelen bei Kraus und sich selbst erkennt: „Der Zorn entlastete ihn ein wenig von seinem Unbehagen an der eigenen Privilegiertheit, indem er ihm das beruhigende Gefühl gab, dass er ebenfalls ein Opfer war.“ Beide, Kraus und Franzen, stammen aus vergleichsweise wohlhabenden bürgerlichen Familien und hätten von daher nicht unbedingt den Kampf zu ihrer Herzenssache machen müssen. „Der Zorn brach fast zur selben Zeit über mich herein, als ich mich für Kraus’ Werk zu begeistern begann, und so sind diese beiden Ereignisse praktisch nicht auseinanderzuhalten.“
  Vor allem erfährt man natürlich viel über Jonathan Franzen selbst. Nicht nur seine alten Übersetzungsversuche von „Heine“ und „Nestroy“ hat er wieder ausgegraben (und nunmehr zur Publikationsreife gebracht), sondern auch die Briefe, die er damals aus dem grauen, schlappen, linken Berlin der Achtzigerjahre, an seine Verlobte schrieb. Es muss ihn erhebliche Überwindung gekostet haben, sich neuerdings diesen Schriftstücken auszusetzen, die einen verquält-arroganten jungen Mann zeigen, der Großes will, den Weg dorthin aber noch nicht weiß. Dass er es doch noch geschafft hat, jener zu werden, der er unbedingt sein wollte, dürfte er mit Genugtuung registrieren; aber dass er, um es sein zu können, ein ganz anderer werden musste, als er damals war, weckt doch auch wieder Zweifel daran, was Wunscherfüllung heißt. Ein Romancier, wie Franzen es heute sieht, darf nicht zornig sein, sonst wird er blind für die Welt.
  Großmütig hat Franzen seinen Ruhm zur Verfügung gestellt, um einem so gut wie unbekannten fremden Werk Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ob er das mit seiner englischen Übersetzung wirklich vermocht hat? Nicht nur ein Wortwitz wie „Heimatschwindler“, in dem die Heimatkunst und der Heiratsschwindler sich ein Stelldichein geben, dürfte in der erforderlichen umständlichen Erläuterung verpuffen; sondern man spürt allerorten, dass die englische Nachbildung dem kompakten Schwung dieses Stils nicht in vollem Umfang gewachsen ist. Dass für ein bestimmtes Unternehmen „selbst Ästheten den Schweiß ihrer Füße sich kosten lassen“, ist der Sache, aber eben nicht der Wirkung nach präsent, wenn Franzen dafür schreibt: „for which even aesthetes will hustle so hard that their feet sweat“.
  Dem Leser der deutschen Ausgabe wird es da um einiges einfacher gemacht, kann er sich doch an Kraus selbst halten. Doch auch er stellt fest, dass er sich vom anspruchsvollen Kraus nur allzu gern durch den konzilianteren Franzen ablenken lässt. Franzen möchte Kraus als unseren Zeitgenossen erobern, indem er beispielsweise darauf hinweist, erst die heutige Blogosphäre verdiene die volle Verachtung, die Kraus bereits für die im Vergleich harmlosen Medien seiner Zeit gehegt habe. Ganz geht das nicht auf. Zum Schluss weisen beide Werke, das von Kraus und das von Franzen, doch allzu sehr auseinander, als dass sie wirklich unter einen Buchdeckel passen würden. Kraus ist, wenigstens für deutsche Leser, auch so vorhanden; Franzen aber hat ein einzigartiges literarisch-persönliches Bekenntnis abgelegt, dem man, da es offenbar nur so ging, die komplexen Bedingungen seines Zustandekommens nachsehen sollte.
BURKHARD MÜLLER
  
Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt. Unter Mitarbeit von Daniel Kehlmann und Paul Reitter. Aus dem Englischen von Martina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 304 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Freund des Alten Europa:
Jonathan Franzen.
Foto: Greg Martin/Rowohlt
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ursprünglich war "Das Kraus-Projekt" ein Kraus-Project, berichtet Helmut Mayer, nämlich der Versuch Jonathan Franzens, mit seinen Übersetzungen zweier Essays ("Heine und die Folgen" und "Nestroy und die Nachwelt") und einem umfangreichen Kommentar, den er gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Paul Reitter und dem Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann zusammengestellt hat, den Amerikanern Karl Kraus' Rolle in der Literaturgeschichte, aber auch und vor allem seine andauernde Relevanz nahezubringen, fasst der Rezensent zusammen. Allerdings mutet Mayer Franzens Kommentar zu anekdotisch an, der Rezensent vermisst die philologische Disziplin, und auch bei der "politisch korrekten Anwendung" einer Kraus'schen Gesellschafts- und Pressekritik auf die gegenwärtigen Zustände entschärft Franzen den ursprünglichen Biss über Gebühr, bedauert Mayer.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2014

Im Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt
Heine, Nestroy und die Folgen: Jonathan Franzens Werbeschrift für Karl Kraus liegt jetzt auf deutsch vor

"Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen."

So wehrte sich ein großer Autor und wohl der größte Satiriker deutscher Sprache gegen den Verdacht, dass das Leben seiner Texte am Stoff hänge, an dem sie sich abarbeiteten. Nicht am Stoff, so lautet der gewendete Aphorismus von Karl Kraus, sondern an der Form hängt die vertagte, also erst bewährte Aktualität, oder sogar deutlicher noch daran, "die Rache am Stoff im Genuss der Form zu besiegeln" - wie Kraus einmal mit Blick auf Johann Nestroys Verwendung drittklassiger Bühnenvorlagen schrieb.

Der Kritiker Kraus neigte dazu, mit der Opposition von Stoff und Form zu operieren. Es gibt kaum Texte, die das deutlicher zeigen als die beiden großen Essays, die Jonathan Franzen auswählte, um ein englischsprachiges Publikum, das nur auf sehr wenige Übersetzungen zugreifen kann, mit Karl Kraus bekannt zu machen: "Heine und die Folgen", 1910 von Kraus noch vor der Publikation in der "Fackel" als kleine Broschüre veröffentlicht, und "Nestroy und die Nachwelt", 1912 zum fünfzigsten Todestag Nestroys geschrieben.

Vor einem Jahr erschienen sie unter dem Titel "The Kraus Project", das dem deutschen Text Franzens Übersetzung gegenüberstellte und ihr Kommentare in stattlichem Umfang beifügte, zu denen auch zwei andere Kenner von Kraus beitrugen: der amerikanische Kulturwissenschaftler Paul Reitter und Franzens österreichischer Schriftstellerfreund Daniel Kehlmann.

Nun ist diese Ausgabe, der Prominenz des Kommentators ist's geschuldet, auch auf Deutsch erschienen; naheliegenderweise ohne die englischen Fassungen von Kraus' Texten. An ihrer übersetzerisch furchtlosen Wahl war ja nicht zu mäkeln gewesen: Beide sind für Kraus wichtig, sie sind überdies eng miteinander verknüpft, und insbesondere die Hommage an Nestroy verhandelt auch Kraus' eigene Ansprüche als Satiriker. Amerikanischen Lesern war dabei natürlich einiges von Grund auf zu erklären, beginnend mit Winken, was es denn eigentlich mit Heine und Nestroy und deren Stellenwert in der deutschen Literatur auf sich habe.

Zu solchen Erläuterungen kommen Vorschläge, wie enigmatisch wirkende Passagen, die sich Kraus' gnadenlos dichter Sprach- und Gedankenarbeit verdanken, zu verstehen sein könnten. Das geht schon einen Schritt über einen üblichen Kommentar hinaus. Aber ein Buch eigener Art, das den Kommentator oft in die erste Reihe stellt, wird aus dieser Ausgabe durch Franzens Anspruch, die Aktualität von Kraus zu erweisen. Und das meint bei ihm nicht so sehr die Erläuterung der souveränen Form, die Kraus für sein satirisch-polemisches Werk fand. Franzen möchte vielmehr ganz direkt zeigen, "in welcher Weise Kraus' Werk für die Welt, in der wir heute leben, von Bedeutung sein könnte".

Was dann auch autobiographische Rückblicke auf einen zornigen jungen Mann einschließt, der die deutsche Literatur früh kennenlernte - auch zwei Jahre in München und Berlin verbrachte - und bei Kraus auf den Geschmack kam. Die begleitenden Fußnotenbeiträge von Paul Reitter gehen oft in Richtung eines Stellenkommentars, erläutern also (literatur-)historische Kontexte, Anspielungen und Zitate. Daniel Kehlmann steuert eher spärliche Einwürfe bei, meist zu vermeintlich oder wirklich dunklen Passagen - oder springt dem von Kraus hingebungsvoll gegeißelten Max Reinhardt bei, weil der halt doch ein großer Theatermann gewesen sei.

Jonathan Franzen aber nimmt sich für seine zeitkritischen Anverwandlungen von Kraus viel Raum. Das geht gleich beim gewagten, von Kraus später auch etwas abgeschwächten Auftakt des Heine-Essays los, der eine romanische Neigung konstatiert, mit einer schon im Stoff liegenden künstlerischen Wirkung zu kokettieren. Wobei Heine dann ja der Schuldspruch ereilt, für die Infektion seiner deutschen Adepten - die ihrerseits einem typisch deutschen Hang folgten, in der Kunst nur das Stoffliche erleben zu wollen - mit diesem französischen Virus gesorgt zu haben; mit der fatalen Folge einer journalistischen Prosa, in der Kommerz, Gesinnung und sprachliches Kunsthandwerk ineinanderrinnen. Franzen ist da mit einem Sprung gleich in der Gegenwart, um Kraus' polemische Konstruktion für eigene Betrachtungen einzusetzen. Kraus' Diagnose führt ihn auf die schicke "Coolness", wie sie sich etwa in der Begeisterung am Design von Apple-Produkten niederschlägt.

Womit auch gleich der Schritt in die digitale Welt getan ist. Er entspricht Franzens Willen, Kraus nicht zuletzt als Stichwortgeber einer Kritik an Formen der Internetkultur oder auch von politisch-wirtschaftlich gesteuertem Journalismus (etwa bei Fox-News) zu nehmen. Eine Kritik, in deren Wohltemperiertheit die Verve von Kraus' bedingungsloser Kritik am "Presswesen" allerdings so ziemlich untergeht.

Kraus attestiert Nestroy einmal, er habe seine kleine Umwelt mit einer Schärfe angegangen, die einer späteren Sache (nämlich seiner eigenen) würdig wäre. Franzen neigt dazu, eine solche Diagnose auf Kraus selbst anzuwenden, sind doch die ideologischen Akteure auf dem Meinungsmarkt inzwischen größer und einflussreicher geworden. Aber solche Anknüpfungen, selbst in bester Absicht, lässt ein Autor wie Kraus kaum zu: Steigerungen des Unheils beherrschte er dafür selbst einfach zu gut; Sprachempfindlichkeit kann man an ihnen schulen, aber ihre politisch korrekte Anwendung macht sie eher blass.

Die von Kraus aufgebrachte "Franzosenkrankheit" führt Franzen auch auf das autobiographische Gleis, zur Erinnerung nämlich, wie er als Student von französischer Literaturtheorie in Versuchung geführt wurde. Manches erfährt man danach über den jungen Franzen. Aber mehr wohl noch über den Romancier, wenn man die Folgerung liest, die eine eher krause Reflexion über Kraus' Konservativismus beschließt: "Gute Erzählkunst tendiert zum Liberalismus."

Ein Rezensent der amerikanischen Ausgabe hielt anerkennend fest, dass Franzen selbst dann Romane schreibt, wenn er eigentlich bloß Fußnoten setzt. Wer Franzen mag, wird das als Empfehlung ansehen und Kraus mit in Kauf nehmen. Wobei ihm die graphische Einrichtung des Buchs die Lektüre der Kraus-Essays nicht leichtmacht, weil oft zu ganzen Seiten anwachsende Fußnoten den kommentierten Text zerhacken.

Wem es aber vor allem um Kraus geht, der ist vielleicht doch besser mit einer schönen neuen Ausgabe beraten, die eine gut getroffene Auswahl von dessen "Schriften zur Literatur" versammelt. Sie enthält natürlich auch die Essays zu Heine und Nestroy und außerdem einen vorzüglichen Stellenkommentar (der in den Bänden der Werkausgabe ja leider fehlt) sowie konzise Einleitungen zu allen Texten. Erzählerisches in den Anmerkungen mag reizen, aber ganz altmodische philologische Disziplin hat dort doch einiges für sich.

HELMUT MAYER

"Das Kraus-Projekt". Aufsätze von Karl Kraus. Mit Anmerkungen von Jonathan Franzen, unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 301 S., geb., 19,95 [Euro].

Karl Kraus: "Heine und die Folgen". Schriften zur Literatur. Hrsg. und kommentiert von Christian Wagenknecht und Eva Willms. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 463 S., geb., 32,- [Euro].

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Jonathan Franzen schreibt sogar dann Romane, wenn er eigentlich bloß Fußnoten setzt. Die Welt