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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2002

Mein Kollege, der Saurier
Deborah Cadbury spürt den ersten britischen Paläontologen nach

Das Mesozoikum! Zeitalter räuberischer Reptilien, bösartiger Bestien und infamer Insekten! Ein Zeitalter, das erst vor weniger als zweihundert Jahren die Aufmerksamkeit der Forscher fand. Noch 1650 hatte beispielsweise der Erzbischof von Armagh, James Ussher, herausgefunden, daß Gott die Erde in der Nacht auf Sonntag, den 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt erschaffen hatte. Mit der Entwicklung des Bergbaus in Nordeuropa begann man sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehr und mehr für die Gesteinsformationen zu interessieren. Die Überlegungen zu den Mechanismen der Gesteinsbildung führten schnell zu der Erkenntnis, daß sechstausend Jahre für das Alter der Erde mehr als knapp bemessen sind. Deborah Cadbury, Buchautorin und Produzentin wissenschaftlicher Dokumentationen für die BBC, schildert den Beitrag britischer Wissenschaftler zur Enträtselung prähistorischer Fossilienfunde. Ihre Berichte beginnen im Jahr 1800 an der Südküste Englands bei Lyme Regis in Dorset.

Die einjährige Mary Annings, ein schwerfälliges und langsames Kind, überlebt einen Blitzschlag, der ihre Kinderfrau tötet. "Nach diesem Unfall wurde sie lebhaft und intelligent", weiß die Familie später zu berichten. Das Mädchen begeistert sich für das Sammeln von fossilen "Kuriositäten" am Strand, deren Verkauf der Familie ein schmales Zubrot liefert. Niemand weiß zu dieser Zeit, was diese "Kuriositäten" eigentlich sind. Es gibt Ammoniten, "Verteberries", die wie Wirbel aussehen, oder "Ladyfinger". Einige hielten die Fossilien für den Samen eines Tieres, der sich spontan im Schoß der Erde entwickelt hatte, oder für Gottes "Ornamente" im Erdinneren, entsprechend den Blumen auf der Erdoberfläche. Als Mary für einen besonders schönen Ammoniten eine halbe Krone erhält (genug, um damit "Brot, Fleisch und möglicherweise sogar Tee und Zucker für eine ganze Woche" zu kaufen), steht fest, daß sie immer wieder den Strand nach fossilen Fundstücken durchkämmen wird. Im Alter von dreizehn Jahren entdeckt sie ein über fünf Meter langes Skelett von einem Geschöpf, das später als Ichthyosaurus bekannt wird.

Zur gleichen Zeit erwacht auch in dem Schuhmachersohn Gideon Mantell die Begeisterung für die Paläontologie. Als Sohn eines Methodisten stehen dem begabten Knaben jedoch nicht die anglikanischen Bildungseinrichtungen zur Verfügung, die ihn angemessen fördern könnten; immerhin vermag er Medizin zu studieren und die Laufbahn eines Landarztes einzuschlagen. Vor allem den Ärmsten gilt seine Sorge. In einer Zeit, in der in manchen Krankenhäusern die Müttersterblichkeit eins zu dreißig beträgt, hat er bei mehr als zweitausend Geburten innerhalb von fünfzehn Jahren nur zwei Todesfälle zu beklagen. Der hohe Einsatz für seinen erfolgreich ausgeübten Beruf läßt ihm nur wenig Zeit für geologische Exkursionen in seiner Heimat Sussex. Trotzdem besitzt er bald eine umfangreiche Fossiliensammlung. Im Jahr 1820 entdeckt er die fossilen Zähne eines Tieres, das ähnlich groß wie der Ichthyosaurus ist, aber die Merkmale eines Pflanzenfressers aufweist. Zudem findet er die Zähne zusammen mit versteinerten Landpflanzen.

Dem einfachen Landarzt, der als Autodidakt keine Reputation in den illustren Forschungsgemeinschaften wie der Royal Society oder der Geological Society besitzt, fällt es schwer, für seine Entdeckung wissenschaftliche Anerkennung zu finden. Nach gültiger Lehrmeinung gibt es nur Fleischfresser unter den prähistorischen Echsen, weshalb Mantells Zahnfunde einem Nashorn aus dem Tertiär zugeordnet werden. Erst nach Jahren hat Mantell genügend weitere Knochenfragmente seines Tieres beigebracht, um die Identifikation seiner Entdeckung als pflanzenfressende Landechse anerkannt zu bekommen. Die Zähne des Sauriers ähneln denen des kürzlich in den britischen Kolonien entdeckten Leguans, weshalb das Urreptil den Namen Iguanodon (Leguanzahn) erhält.

Um 1825 beginnt die wissenschaftliche Karriere des Anatomen Richard Owen. Im Gegensatz zu Mantell stammt er aus einer wohlhabenden Familie und bekommt schnell Zugang zu den maßgeblichen Personen, die seine Laufbahn fördern können. Owen spricht im Gegensatz zu allen seinen Kollegen am Royal College fließend Französisch und erlangt dadurch die Zuneigung des berühmten Pariser Paläontologen Baron Georges Cuvier bei dessen Besuch im Museum des College. Owen wird nicht nur zum Kontaktmann zwischen den Wissenschaftlern in England und Frankreich, sondern profitiert auch davon, daß ihm bald Veröffentlichungen und Fundstücke beiderseits des Kanals im Original zur Verfügung stehen.

Während Mantell lediglich darauf bedacht ist, für seine wissenschaftlichen Arbeiten die gebührende Würdigung zu finden, strebt der machtbesessene Owen, der sich nur selten seine lilienweißen Hände in Steinbrüchen beschmutzt, nach der absoluten Meinungsführerschaft und Vormachtstellung auf seinem Forschungsgebiet. Obwohl er sich dank seiner ausgezeichneten Beziehungen schnell ein äußerst umfangreiches Wissen auf dem Gebiet der Paläontologie aneignet und schon allein dadurch zur Autorität wird, kämpft er jeden nieder, der andere Ansichten vertritt oder ihm in die Quere kommt. Owen versteht es, die Ergebnisse anderer Forscher als die eigenen darzustellen, ohne mit Plagiatvorwürfen konfrontiert zu werden. Das erlebt auch Gideon Mantell, der gerade erst seine ersten wissenschaftlichen Meriten erhalten hat. Deborah Cadbury schildert uns die Auseinandersetzung zwischen den beiden größten britischen Paläontologen des neunzehnten Jahrhunderts und zeigt, daß Wissenschaftler genauso räuberisch, bösartig und infam sein können wie die Kreaturen, mit denen sie sich beschäftigen.

Während nach und nach das Wissen über die Saurier durch Fossilienfunde anwächst, stellen sich auch philosophische und religiöse Fragen, denn die neuen Erkenntnisse lassen sich immer schwerer mit einer wortwörtlichen Auslegung des ersten Buches Mose vereinbaren. Alle Versuche, einen Beweis für eine einzige große weltweite Überflutung zu finden, scheitern. Die Fossilienfunde legen eine Entwicklung nahe: In den ältesten geologischen Schichten findet man Wirbellose, in den mittleren Reptilien und erst in den jüngeren Schichten Säugetiere. Wenn aber Tiere sich entwickeln können, können sich dann nicht auch Menschen weiterentwickeln? Könnte man vielleicht sogar vermuten, daß sich die von Karl Marx so genannten Proletarier zu Herrschenden entwickeln - so wie die Säugetiere möglicherweise die Reptilien verdrängt haben? Aus den Forschungsergebnissen der Geologen und Paläontologen ergeben sich beunruhigende Gedanken. Charles Darwin muß selbst unter seinen Erkenntnissen gelitten haben, denn er liest 1859 - Jahrzehnte nach seiner Expedition mit der "Beagle" - die Korrekturabzüge der "Entstehung der Arten" laut Cadbury "zwischen heftigen Anfällen von Erbrechen".

Die Vertreter einer bibelnahen Auslegung der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse beschreiten einen fundamentalistischen Kurs, wie die Entgegnung des Reverend Sedgewick in Cambridge auf das Buch "Vestiges of the Natural History of Creation" eines anonymen Autors beispielhaft belegt. Wenn das, was dort steht, wahr wäre, so Sedgewick, dann "ist Religion eine Lüge, die menschliche Gesetzgebung eine Anhäufung von Narretei, Moralität ist Unfug, und Mann und Frau sind nur bessere Tiere". Letztlich können sich die Bibeltreuen aber der Überzeugungskraft der neuen Argumente nicht entziehen, und auch Owen, der im Auftrag seiner Förderer eine Versöhnung zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungsgeschichte zu formulieren versucht, erlebt, wie sein hell leuchtender Stern verblaßt.

Neben dem Wettlauf der Saurierforscher läßt die Autorin auch das Zeitalter der industriellen Revolution lebendig werden und zeigt, welch hohe Barrieren Menschen dieser Zeit überwinden mußten, wenn sie die Umstände, in die sie hinein geboren wurden, aus eigener Kraft verbessern wollten.

HARTMUT HÄNSEL.

Deborah Cadbury: "Dinosaurierjäger". Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt. Aus dem Englischen von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 448 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.06.2002

Knochenorakel für Amateure
Deborah Cadbury erzählt die Geschichte der Dinosaurierforschung
„Verteberries”, „Ladyfingers” und andere ephemere Namen trugen die fossilen Kuriositäten, die Anfang des 19. Jahrhunderts unweit der südenglischen Bucht von Lyme an Reisende verkauft wurden. Mit dem Verkauf der am Strand gefundenen Kuriositäten verdienten sich in jenen dürftigen Zeit die Küstenbewohner gelegentlich ein Zubrot. In der Bucht von Lyme wurde 1811 ein etwa vier Fuß messender, krokodilähnlicher Kopf gefunden, und mit ihm ein ganzes Skelett in Stein, das ein naturgeschichtliches Rätsel aufgab. Um welches bisher nie gesehenes (und im Schöpfungsbericht nicht genannte) Tier handelte es sich und in welchem Erdalter hatte es gelebt? Von diesem Wesen, dem der Kustos des British Museum, Charles Konig, den Namen „Ichthyosaurus” (Fischeidechse) gab, und anderen Fossilen handelt das Buch der britischen Autorin Deborah Cadbury, die für die BBC schon mehrere sehenswerte wissenschaftliche Dokumentationen produziert hat.
Oder genauer, die vielschichtige Geschichte, deren Rekonstruktion sich detailreich vor dem lesenden Blick entfaltet, beginnt mit der Ichthyosaurier-Episode und führt über Rückblenden und Querbezügen zu dem kurzen Auftritt eines Megalosaurus in Charles Dickens’ Roman „Bleak House” von 1852, zur Dinomanie der Londoner und zum Kulturkampf zwischen den Darwinisten und den Antidarwinisten der 1870er Jahre.
Der Hauptteil dieser Geschichte ist für den Arzt und Amateurforscher Gideon Mantell reserviert. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Schustersohn wurde zuerst von James Parkinson gefördert – eben jenem Arzt, der das nach ihm benannte Krankheitsbild erstmals ausführlich beschrieben hatte, der allerdings auch in der Freizeit durch erdgeschichtliche Forschungen nach Selbsterbauung strebte. Mantell studierte alle Fossilien, gleich, ob er sie mit eigenen Händen aus dem Erdreich befreite, ob seine Frau sie fand oder ob sie ihm von Arbeitern aus einem Steinbruch zugesandt wurden. Unter diesen Funden fiel ihm einmal ein Zahn auf, der, seiner Gestalt nach zu urteilen, nur einem landlebenden, pflanzenfressenden Urreptil gehören konnte. Die Diagnose, über die sich Mantell nicht ganz sicher war, weil sie fast allen konsultierten Forschern missfiel, fügte sich keinem der Sintflut- und anderen erdgeschichtlichen Szenarien ein. Und so begann ein Jahre währender Kampf, in dessen Verlauf Mantell alles aufbot, was einem Amteurforscher zur Verfügung stand, um Anerkennung für eine wichtige Entdeckung zu erlangen.
Den im Paris der Restaurationszeit wie ein Tyrann über die Naturgeschichte herrschenden Baron Georges Cuvier bat er durch einen Mittelsmann um Begutachtung der Zähne. Es handele sich um Reste eines rezenten Säugetiers, meinte der Baron zunächst abfällig. Als sich die Reptilien- Indizien aus der Erdgeschichte jedoch verdichteten und von Mantell geschickt ausgewertet wurden, musste sogar Cuvier sein Fehlurteil zurücknehmen. Die Reputation des fossilvernarrten Arztes war gesichert.
Bomben aufs Rückgrat
Das Mantell’sche Jagdfieber für fossile Lebewesen kostete viel: eine Arztpraxis, die aufgegeben wurde, obwohl sie eine ganze Familie ernährte, eine Sammlung, die in der Not hastig veräußert wurde, eine Ehe, den Neid des Richard Owen, der, weil er sich als der britische Nachfolger Cuviers wähnte, keinen Konkurrenten duldete, wiederholt geistigen Diebstahl beging und für Gott log, und endlich eine arge Verletzung der Wirbelsäule, die den Sammeltrieb des Amateurforschers weitgehend lähmte. In ihrer Narration verknüpft Deborah Cadbury klug Mantells Lebensgeschichte mit den Entwicklungen der Dinosaurierforschung, mit dem Kulturkampf zwischen den Evolutionisten und den bibelfesten Interpreten des Fossilbefunds, mit den methodischen Heimtücken, die sich in der Regel bei der Bestimmung der Funde ergaben, und so weiter. Ein informativer Anmerkungsapparat ergänzt die Darstellung, und die Übersetzerin macht den Gang durch diese komplexe Prosageschichte durch Ebenmaß zum angelsächsischen Original zu einer ertragreichen Expedition.
Mantell starb am 11. November 1852. Die Autopsie enthüllte das „bemerkenswert verkrümmte Aussehen” der Wirbelsäule; Bandscheiben und Knorpelgewebe waren vollständig zerstört. Diese Überreste Mantells wurden in einem Glas mit Konservierungsmittel just in der Sammlung des ungeliebten Richard Owen im Royal College of Surgeons ausgestellt, wo sie „eine Wirbelsäulendeformation schwersten Ausmaßes” zu illustrieren bestimmt waren. Als Exponat 4808.1 wurden sie während eines Luftangriffs auf London von deutschen Bomben zerstört.
ALEXANDRE MÉTRAUX
DEBORAH CADBURY: Dinosaurierjäger. Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt. Deutsch von Monika Niehaus. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 448 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Idee, die frühe Geschichte der Dinosaurier mit der Lebensgeschichte des Arztes und Amateurforschers Gideon Mantell zu verbinden, findet der Rezensent Alexandre Metraux sehr überzeugend. Im Stil einer Erzählung decke die Autorin Deborah Cadbury nicht nur die packende Geschichte einer Leidenschaft auf, welcher Lebensgrundlage, Ehe und körperliche Unversehrtheit geopfert wurden. Die Erfolge, wie den Nachweis eines Urreptils, weckten auch den Neid der Kollegen, und im Ringen um Anerkennung bricht laut Rezensent ein "Kulturkampf zwischen Evolutionisten und bibelfesten Interpreten des Fossilbefunds", zwischen Gideon Mantell und Richard Owen aus. Cadbury beschreibe "detailreich", mit vielen Querbezügen ein Stück spannender Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, an deren Ende Mantells Überreste in Formaldehyd auf dem Regal seines Widersachers Owen stehen werden, bis sie im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört wurden. Der Rezensent ist voll des Lobes und schließt darin auch die Übersetzung durch Monika Niehaus ein!

© Perlentaucher Medien GmbH