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"Menschenrauch" hat schon bei seinem Erscheinen in den USA auch in der deutschen Presse für heftige Kontroversen gesorgt
War der Zweite Weltkrieg der 'gerechte Krieg' gegen Hitler? Waren Churchill und Roosevelt die Lichtgestalten, welche die abendländische Zivilisation retteten? Um das herauszufinden oder doch einer Antwort wenigstens näher zu kommen, benutzt Nicholson Baker ein verblüffendes Mittel. Er "setzt aus historischen Nachrichten, Anekdoten und Kommentaren eine eindrucksvolle Textcollage zusammen, die überkommene Gewissheiten über den Krieg erschüttert" (Der Spiegel). Der Autor…mehr

Produktbeschreibung
"Menschenrauch" hat schon bei seinem Erscheinen in den USA auch in der deutschen Presse für heftige Kontroversen gesorgt

War der Zweite Weltkrieg der 'gerechte Krieg' gegen Hitler? Waren Churchill und Roosevelt die Lichtgestalten, welche die abendländische Zivilisation retteten?
Um das herauszufinden oder doch einer Antwort wenigstens näher zu kommen, benutzt Nicholson Baker ein verblüffendes Mittel. Er "setzt aus historischen Nachrichten, Anekdoten und Kommentaren eine eindrucksvolle Textcollage zusammen, die überkommene Gewissheiten über den Krieg erschüttert" (Der Spiegel). Der Autor meldet sich nicht zu Wort, er vertraut auf die Wirkung der zitierten Texte aus Tageszeitungen, Politikerreden, Tagebüchern, Briefen. Herausgekommen ist "eine subjektive Chronik mit hohem Wahrheitsanspruch", (Süddeutsche Zeitung) die belegt, dass ein Vernichtungskrieg vermeidbar gewesen wäre. Bakers Buch ist ein flammendes Plädoyer für den Pazifismus und für den Erhalt der Menschlichkeit auch in schwierigen Zeiten.
Autorenporträt
Baker, NicholsonNicholson Baker wurde 1957 in Rochester, New York, geboren. Er studierte u.a. an der Eastman School of Music und lebt heute in South Berwick, Maine. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 1997 erhielt er den Madison Freedom of Information Award, 2001 den National Book Critics Circle Award für «Der Eckenknick», 2014, zusammen mit seinem Übersetzer, den Internationalen Hermann-Hesse-Preis. Zuletzt erschienen von ihm «Eine Schachtel Streichhölzer», «Menschenrauch», «Haus der Löcher» und die Essaysammlung «So geht's».

Hedinger, SabineSabine Hedinger, geb. 1953, studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie sowie Jugend- und Familienrecht in Göttingen; sie arbeitete in Gainesville, Florida, mit jugendlichen Opfern von häuslicher Gewalt und Missbrauch und gründete eine alternative Sprachschule in Göttingen. Seit 1984 arbeitet sie als literarische Übersetzerin und übertrug wichtige Autorinnen und Autoren wie u.a. Joan Didion, Joyce Carol Oates, Bret Easton Ellis, Fay Weldon, Rachel Cusk ins Deutsche. Im Jahr 2000 wurde sie mit dem Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Sabine Hedinger lebt seit 1999 in Vincennes/Frankreich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.03.2009

Menschen mögen Krieg
Nicholson Baker rekonstruiert in „Menschenrauch” die Geschichte vom Untergang der Zivilisation im Zweiten Weltkrieg auf kontroverse Weise
Mit mehr Wut ist schon lange kein Werk der Literatur mehr begrüßt worden. Ein Buch für die Feinde der Demokratie hat Daniel Kehlmann Nicholson Bakers historische Collage „Menschenrauch” genannt; von „Häppchenhistorie” sprach Hans-Ulrich Wehler; Anne Applebaum, die verdiente Historikerin des Gulag, begreift das aus Originalquellen von 1892 bis 1941 zusammengefügte Werk Bakers als bizarres Resultat einer anti-professionellen, verschwörungstheoretisch infizierten Internetkultur, die aus einem Meer unsortierter und ungeprüfter Informationen regelrecht geisteskranke Gegengeschichten zum offiziellen Wissen zusammenbraut: Jesus hat mit Maria Magdalena eine Familie gegründet, und Churchill ist mitschuldig am Zweiten Weltkrieg. Nicholson Baker als Dan Brown der Zeitgeschichte.
Was hat Baker, dieser subtile Erzähler, nach John Updikes Tod der Letzte in der Schule von Proust und Nabokov, getan? Er hat auf 500 Seiten etwas mehr als 1000 historische Quellen, Zitate aus Zeitungen, Tagebüchern, Memoiren, Reden, Tischvorlagen, also allen Genres nichtfiktionaler Rede, chronologisch aneinander gereiht. Die Serie beginnt 1892 mit Alfred Nobels Hoffnung, die zerstörerische moderne Waffentechnik werde künftig Kriege verhindern, und sie endet am 31. Dezember 1941 mit einem verzweifelten Tagebucheintrag des todgeweihten rumänischen Juden Mihail Sebastian.
Am Anfang hüpft die Reihe rasch über die Jahre, verweilt kurz beim verheerenden Ende des Ersten Weltkriegs, wo mit den kühl erwogenen Möglichkeiten von „Aushungerung” und Giftgas schon der totale Krieg der Zukunft vorweggenommen wird, sie gewinnt Dichte in den Krisen der dreißiger Jahre und wird in den Kriegsjahren von 1939 bis 1941 kompakt und schwarz wie ein Tagebuch des Untergangs: „Das Ende der Zivilisation” diagnostiziert Bakers Untertitel, der „Menschenrauch” verbrannter Leichen, den deutsche KZ-Häftlinge rochen, bezeichnet den Abschluss.
Jenseits aller Thesen macht Bakers Material eine Eskalation sichtbar, eine schier unaufhaltsame Drift, die schon lange vor Hitlers Aufstieg einsetzt und alle Gesellschaften der westlichen Zivilisation erfasst hat. Es ist eine Eskalation der Barbarei, die mit den anwachsenden Vernichtungsmöglichkeiten moderner Waffentechnik Schritt hält. Briten und Italiener finden schon in den zwanziger und dreißiger Jahren nichts dabei, ganze Völker in ihren Kolonien mit Bomben und Gas exemplarisch so einzuschüchtern, dass eigene Verluste nicht mehr zu befürchten sind. Des weißen Mannes Kriegslast ist leichter als die des dunkelhäutigen. „Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Völker aus”: Solche Sätze – dieser wurde von Winston Churchill 1920 geschrieben – muss man aus den Verstecken ihrer Zusammenhänge reißen dürfen, wenn man verstehen will, was in Europa im 20. Jahrhundert geschehen ist.
Man hat Bakers Verfahren mit Walter Kempowskis großen Echolot-Collagen verglichen und allzu schnell Parallelen gefunden. Die Unterschiede sind aber interessanter. Kempowski arbeitet mit Gleichzeitigkeiten, er knüpft Teppiche aus Quellen und Stimmen, die sich auf ausgewählte Momente – etwa die Schlacht von Stalingrad – konzentrieren. Daraus entstehen dichte, in sich vielfältige, an Widersprüchen reiche Beschreibungen, die sich zu einem Chor fügen. Zeit wird, soweit das im Medium der Literatur möglich ist, verräumlicht. Baker hingegen stellt keinen Teppich mit tausend Fäden vor, sondern eine Reihe, einen langen, aus einzelnen Fäden zusammengewundenen Strick, erst dünn, dann dick, im Kern aber diskontinuierlich, eine Abfolge von tausend Momenten, uhrwerkhaft skandiert mit Zeitangaben: Es war der 8. Mai 1941 und so fort.
Auch Historiker, die dem modernen Erzählen fernstehen, sollten Fragen der Zeitstruktur ihre Aufmerksamkeit schenken. Wo bei Kempowski der Eindruck überwältigender tragischer Notwendigkeit steht – der eines Mahlstroms –, konstruiert Baker eine Zeitreihe, die jeden Moment offen erscheint, ja den Sprung hinaus erlauben könnte. In jedem Augenblick könnten die Handelnden, so suggeriert es diese Zeitform, das Schicksal wenden, sich besinnen und das Unheil verlassen. Der Strahl der Erlösung ist immer bereit. Bakers Springen und Hüpfen von Moment zu Moment im Ablauf der tickenden Weltuhr kennt keine Notwendigkeit über das bloße Voranschreiten der Zeit hinaus.
Für Historiker ist das schwer erträglich. Denn ihre Arbeit dient dem Ziel, das große, von den tiefen Bässen der Struktur grundierte Legato der Erzählung zu gewinnen: Mag diese von Schrecklichem berichten, ihrer Sinnfülle, ihrer inneren Notwendigkeit tut dies keinen Abbruch. Bakers Erzählerbewusstsein beim Anordnen der Quellen ist das eines Erweckungspredigers: Steht auf und kehrt um, hier und sofort, denn es ist möglich; die Reihe der Zeit kann eine neue Richtung nehmen. Hier spricht, mit einem Wort, ein Pazifist. Baker, der sich in diesem Buch als Erzähler stets nur in wenigen Zeilen selbst zu Wort kommen lässt, lässt im Nachwort alle Indirektheit fahren und spricht es aus: Die Pazifisten waren die Einzigen, die recht hatten in dieser Steigerung des Grauens hin zum Verbrennen von Menschen.
Pazifisten müssen, wenn sie konsequent sind, schier übermenschlichen Mut zeigen, denn ihre Waffe ist die Wehrlosigkeit. Mutig ist es, den Pazifismus gedanklich an dem Gegenstand zu erproben, der ihm den härtesten Widerstand bietet, dem Krieg gegen Hitler. Baker kann sich über die Aggressionen, die sein Versuch vor allem bei englischen und amerikanischen Lesern auslösen würde, keiner Täuschung hingegeben haben. Zu eingefahren ist die Logik der Gegenrechnung, die glaubt, wenn der eine Kriegsteilnehmer böse sei, werde der andere von sich aus gut, oder das eine Verbrechen schwäche das andere ab. Aber so ist Bakers Logik nicht, hier gilt eben nicht, dass des einen Auschwitz des anderen Dresden sei. Bakers Entsetzen, besser sein Erbarmen, ist allumfassend, und es verweigert sich dem langwierigsten Erbe der Hitlerzeit: über Grausamkeiten, die unterhalb des Holocausts liegen, nicht mehr recht erschrecken zu können.
Wenn Baker belegen kann, wie gleichgültig Churchill und Roosevelt das Schicksal der Juden war, wenn er zeigt, dass die bald erwiesene Sinnlosigkeit des „moral bombing” gegen die Zivilbevölkerung der Freude der Generäle an diesen wahllosen Angriffen keinen Abbruch tat, dann nimmt er kein Jota weg von der Scheußlichkeit, die industrielles Töten von Menschen erst mit Autoabgasen, dann mit Insektengift bedeutet.
Das ist die allgemeine, gewissermaßen anthropologische Ebene, man mag sie auch die christliche, quäkerhafte nennen. Aber Baker schreibt nicht nur einen Klagegesang mit einem verzweifelten Blick auf den Erlöserhimmel. Er spielt auch mit Möglichkeiten, die auf kontrafaktische Erwägungen hinauslaufen: Hätte das Leben ungezählter Juden durch Kompromisse mit den Nazis nicht gerettet werden können? Eine Zeitlang favorisierten die Führungszirkel des Dritten Reiches Auswanderungslösungen, und erst, als sowohl die Überseeoptionen (meist verbunden mit dem Begriff Madagaskar) als auch – nach der Kriegswende in Russland 1941 – die Räume jenseits des Urals versperrt waren, wurde die schrecklichste Möglichkeit, die fabrikmäßige Vernichtung, verwirklicht.
Wer solche Fragen als Verharmlosung Hitlers und seiner Vollstrecker versteht, liest böswillig. Bakers Frage ist die eines verzweifelten, alle Möglichkeiten prüfenden Menschenretters; man mag sie unpolitisch nennen, naiv, aber sie ist gewiss nicht infiziert von der Barbarei, die sein Buch vorführt. Soll die Frage, ob man fünf oder sechs Millionen Gaskammertoten das Leben hätte retten können, von historischer Erörterung ausgeschlossen werden?
Bleiben wir bei der Literatur. Der eigentliche Gegner des Buches „Menschenrauch” ist Winston Churchill, der faszinierendste Kriegsherr, Kriegsredner und Kriegshistoriker, den die demokratische Welt bisher hervorgebracht hat. Das ist der Titan, an dem Baker sich misst. Churchill ist ein Heros archaischer Statur: ein Agamemnon, der am Ende sogar seine eigene Tochter opfern würde, hier das britische Weltreich; der auflebt im Kampf, der das große Spiel genießt: Erst solle man die deutschen Industrieanlagen bombardieren, dann die Zivilisten, erklärt er, und mehrfach schiebt er den Spruch hinterher: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!” Blutrünstig ist Churchill wie nur je ein Großer, hier nur eingeholt von Friedrich dem Großen oder Napoleon oder, zu Zeiten, auch Bismarck. Churchill ist auch der literarische Widerpart Bakers. Als Rhetor und Historiker ist er barock, pathetisch, hysterisch, ein Mann der gleißenden Effekte und der großen Durchblicke. Sein Wort war Donnergrollen. Alle Churchill-Zitate entfalten in diesem Buch immer noch mitreißende Wirkungen. Hitler wirkt daneben wie ein Kläffer, bösartig, krank, halb effeminiert, halb Sadist. Bakers eigener Ton, sanft, bohrend, franziskanisch, litaneihaft mit einem Beiklang traurigen Spotts ist der heroische, pazifistische Versuch, sich von den Sprachen der Gewalt nicht anstecken zu lassen.
Churchill hat durch sein Duell mit Hitler der westlichen Welt das Beispiel und die Kampfmoral hinterlassen, die bis heute Luftkriege und Embargos motivieren. Baker blickt hier unverkennbar auf die Fortwirkung in gegenwärtigen Entscheidungen wie zuletzt beim Irak-Krieg. Die Empörung, die ihm entgegenschlägt, hat auch damit zu tun, dass er den wichtigsten historischen Nerv aller heutigen westlichen Kriegspolitik berührt.
Kaum etwas von dem, was Baker vorführt, ist unbekannt. Sein Material ist, wenn man von Zeugnissen des vor allem religiös geprägten amerikanischen Pazifismus absieht, das geläufige: Victor Klemperer, Mihail Sebastian, Harold Nicolson, Christopher Isherwood, Gandhi, Papst Pius XII., Roosevelt, Churchill, Hitler, Göring, Goebbels, Graf Ciano. Wer sich überhaupt mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt hat, wird wenig Neues, schon gar kein obskures Geheimwissen entdecken, keinen Internetwust, sondern die Früchte einer gut sortierten, aber eher kleinen Bibliothek.
Am Ende exponiert sein Buch allerdings eine Menschennatur, die dem Pazifismus wenig Raum lässt. Baker selbst zitiert einen gutwilligen pazifistischen Text von 1935, der die Überschrift „Menschen mögen Krieg” trug – was gewiss nur die halbe Wahrheit ist, das aber schon. Zu dicht sind auch die Zeugnisse gerade von Intellektuellen, die Baker zu Wort kommen lässt: Ob Frank Lloyd Wright von den durch die Flächenbombardements eröffneten Möglichkeiten für Architekten schwärmt, ob Wystan Austen seine Lust, Deutsche umzubringen, bekennt, ob Einstein „hartes Zuschlagen” verlangt. Die Menschheit muss immer wieder an den von Roosevelt formulierten, aber auch von ihm gebrochenen Grundsatz erinnert werden, „dass niemand für die Taten eines anderen bestraft werden darf”.
Bakers messianischer Blick schaut auf die feingliedrige Kette der Zeit. Die Gegenposition hat mit dem kalten Churchill-Blick übers ganze Jahrhundert im Jahre 1967 Sebastian Haffner in seiner Biographie des britischen Staatsmannes formuliert. Hätte England 1940/41 jenen kurzfristig vielleicht wohltätigen Separatfrieden mit Hitler geschlossen, den Churchill mit eiserner Entschlossenheit ablehnte, dann wäre es, so Haffner, „durchaus vorstellbar, dass heute ein achtundsiebzigjähriger Hitler über einem großgermanischen Staat thronen würde, der vom Atlantik bis zum Ural oder darüber hinaus reichte”. Wobei, so Haffner weiter mit kühler Abwägung, durchaus die Möglichkeit bestünde, dass auch das British Empire überlebt hätte. Aber was wäre das für eine Welt! Und wie groß wäre im Lauf der Jahre die Summe ihrer Toten geworden?
Freilich, solche Überlegungen lassen sich weder beweisen noch widerlegen. Geschichte lässt sich nicht experimentell erproben. Auch kann man nie sicher sein, ob man, geprägt von dem einen Fall, nicht immer wieder einen Hitler zu viel erkennt. Am Ende muss jeder Leser die Frage für sich beantworten, wer recht hat: Nicholson Baker oder Winston Churchill.
Der Sieger Churchill wurde 1945 von seinem Volk wieder abgewählt und nach Hause geschickt. Für diese Möglichkeit war der unermesslich grausame Krieg geführt worden. GUSTAV SEIBT
NICHOLSON BAKER: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. Aus dem Amerikanischen von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 615 Seiten, 24,90 Euro.
„Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Völker aus”
Steht auf und kehrt um, hier und sofort, denn es ist möglich
Ein Quäker, ein Pazifist, ein Franziskaner – so erscheint der große Schriftsteller Nicholson Baker in seinem neuen Buch. Hier steht er vor seinem Haus in South Berwick, Maine Foto: Fred Field/The NewYorkTimes/Redux/laif
Erst solle man die deutschen Industrieanlagen bombardieren, dann die Zivilisten, erklärt Churchill, und schiebt den Spruch hinterher: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!” – Piloten-Mannschaft einer B-17, die „Flying Fortress” genannt wurde, am 17. November 1943 in England Foto: Hulton-Deutsch Collection/Corbis
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2009

Nachrichten aus dem Pandämonium

Eine Collage von Stimmen als literarisches Ereignis: Nicholson Baker glaubt nicht an Bomberpiloten als Helden und lässt den Zweiten Weltkrieg aus leisen Vorzeichen entstehen.

Von Lorenz Jäger

Die Hoffnung der Juden, die sich an den Zweiten Weltkrieg heftet, ist armselig." Max Horkheimer, Leiter des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, schrieb diesen Satz in den ersten Septembertagen 1939 nieder. Merkwürdig ist er aus mehreren Gründen und wohl nicht zuletzt deshalb, weil damals eigentlich noch niemand von einem "Zweiten Weltkrieg" redete. Der "Weltkrieg" war im öffentlichen Sprachgebrauch immer noch der 1918 zu Ende gegangene. Horkheimers Satz hinterlässt ein leise gespenstisches Gefühl, fast wie der Titel jenes Gedichts, das Stefan George in den zwanziger Jahren verfasst hatte: "Einem jungen Führer im Zweiten Weltkrieg".

Solche Entdeckungen aber macht man in den Werken der akademischen Historiographie eher selten; Sätze wie der von Horkheimer liegen oft unterhalb des Aufmerksamkeitsradars, den sich die Geschichtswissenschaft zur Erfassung ihrer Befunde habituell eingestellt hat. Es musste deshalb ein Literat sein, der aus dem Stimmengewirr der Zwischenkriegszeit und der ersten Monate des Krieges solche Äußerungen dokumentierte: Der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker hat es in "Menschenrauch" getan.

Nun ist Dokumentarliteratur nie ganz so unschuldig und unparteiisch, wie ihre Form es suggeriert. Auch Nicholson Baker hat ein Anliegen, wenn er das Panorama oder eher das Pandämonium seiner Stimmen entfaltet. Er kennt nur zwei Parteien: die Kriegspartei auf allen Seiten und die Partei des Friedens, die der britischen und amerikanischen Pazifisten, der Quäker, die der humanitären Hilfsorganisationen, die der Zivilisten schließlich. Das ist ein anderer Blick als der gewohnte, und man hat ihn Baker als Naivität vorgehalten, wenn man nicht Schlimmeres, "Revisionistisches", wie es heute heißt, dahinter vermutete. Ein solches Urteil aber ginge in die Irre; Baker will ja keinesfalls nachträglich eine prodeutsche Sicht der Dinge durchsetzen; eher ist er ein grundsätzlicher Antipolitiker. Und wenn es das alte Vorrecht der Dichter ist, eine Gegengeschichte zur offiziellen zu verfassen und dafür verbannt zu werden wie Ovid oder Mandelstam, dann hat auch Baker, der Romancier, dieses Recht. Für ihn läuft der Weg in den Krieg über viele kleine Stationen, die am Ende in die Katastrophe münden; Fanatismus hüben und drüben, Verachtung des Lebens von Zivilisten, Phlegma und Mitschwimmen bei den Besseren, die das Schlimmste verhindern könnten. Dazwischen ergreifende Momente der Menschlichkeit. So hat Tolstoi in der Erzählung "Hadschi Murat" den ersten Tschetschenien-Feldzug im neunzehnten Jahrhundert geschildert, so betrachtet Baker den Zweiten Weltkrieg.

Sein Buch beginnt mit dem Treffen zwischen Alfred Nobel, dem Sprengstofffabrikanten und Erfinder des Dynamits, und der frühen Pazifistin Bertha von Suttner. Nobel sah in seinen Produkten eine Sicherung des ewigen Friedens: "An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden." Mit dem Jahresende 1941 schließt Baker, der Mihail Sebastian, einem Verfolgten, das letzte Wort lässt: "Immerhin, wir sind noch am Leben. Wir können noch warten. Noch ist Zeit, noch haben wir Zeit."

Dazwischen hören wir: Victor Klemperer, der die Verfolgung der Juden in Deutschland festhält, Hitler, Heydrich, den zögernden Chamberlain, den bellizistischen Churchill, Roosevelt (auch er gespenstisch: über Briefmarkenalben gebeugt, als Pearl Harbor schon kaputt ist), die Herren des britischen "Bomber-Command", die Strategen der Aushungerung ganzer Bevölkerungen, amerikanische Kriegshysteriker ebenso wie Pazifisten. Natürlich ist die Auswahl begrenzt. Zu den schönen Erträgen dieses Buches gehört die Entdämonisierung der amerikanischen Isolationisten, die zuletzt, in dem Roman "Die Verschwörung gegen Amerika" von Philip Roth, allzu sehr als fünfte Kolonne des Feindes verzeichnet worden waren. Aber Baker kann zeigen, dass weder Charles Lindbergh noch der Senator Burton Wheeler, die Sprecher der Bewegung "America First", vor den Judenverfolgungen in Deutschland die Augen verschlossen.

Diese Verfolgung hatte im April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begonnen. Wie unermesslich die Aufgabe ist, die sich Baker gestellt hat, nämlich die wirklichen Stimmen des zwanzigsten Jahrhunderts zu sammeln, nicht die heute erwünschten, und wie viel dabei noch zu tun bleibt, erkennt man, wenn man liest, was Gershom Scholem, der schon lange keine Zukunft für die Juden in Deutschland mehr sah, an Walter Benjamin am 13. April 1933 über den Boykott schrieb: "Das Schreckliche an der Sache ist aber, wenn man das überhaupt wagen darf zu sagen, dass es der menschlichen Sache des Judentums in Deutschland nur fruchtbar sein kann, wenn anstelle des kalten Pogroms, den man versuchen wird einzuhalten, ein echter träte. Es ist fast die einzige Chance, in solcher Explosion etwas Positives hervorzurufen."

Aber diese Passage kommt bei Baker nicht vor, der sich auf Quellen stützen muss, die in den Vereinigten Staaten zugänglicher sind. Man kann deshalb manche Ausfälle in dem ungemein reichen Buch beklagen. Zu den empfindlicheren gehört, dass der Name Stalin zwar fällt, dass aber der sowjetische Führer nicht als ein Akteur erscheint, der eigene Ziele verfolgte. So fällt ganz aus der Betrachtung heraus, dass er in Absprache mit Hitler den östlichen Teil Polens besetzte, auch der Winterkrieg gegen Finnland fehlt, der am 30. November 1939 begann, nachdem die finnische Regierung ein Gebiet nicht abtreten wollte. An der Eskalation, die dann zum wirklichen Weltkrieg führte, hat Stalin keinen geringen Anteil.

Aber erst 1941 taucht Stalins Name bei Baker wieder auf, nach dem deutschen Angriff, und er erscheint als der naive, treuherzig auf den Pakt vertrauende Staatsmann. Ausgerechnet er, der mit Scharfsinn und Paranoia alle inneren Feinde, wirkliche und imaginierte, ausgeschaltet hatte, sollte im Frühjahr 1941 ganz ahnungslos gewesen sein, er sollte seinerseits von strategischen Planungen, wann und wie nun doch in den Krieg einzugreifen sei, völlig abgesehen haben? Spätestens seit Molotows Besuch in Berlin im Herbst 1940 musste klar sein, dass weder die Sowjets auf Hitlers Vorschlag eingehen würden, sich nach Süden und Osten zu wenden, also gegen die britischen Interessen in Indien, noch auch, dass Deutschland das ominöse Orakelwort Molotows von einer noch zu klärenden "schwedischen Frage" positiv hätte beantworten können. Und als Ende März 1941 Jugoslawien erst den Beitritt zur Achse Italien-Deutschland erklärte, dann aber binnen Tagen die dafür verantwortliche Regierung weggeputscht und durch eine proalliierte ersetzt wurde, die mit Stalin einen Freundschaftspakt schloss, da konnte auch der Frömmste nicht mehr an einen weiteren Bestand des deutsch-sowjetischen Abkommens vom August 1939 glauben. Baker ist eben wenig "revisionistisch" in einem historischen Sinn.

Wenn nun dieser ganze Schauplatz, diese ganze Sequenz der Ereignisse bei ihm ausfällt, dann ist der Grund wohl eine tatsächlich unpolitische oder, freundlicher gesagt, überpolitische, rein menschliche Betrachtung der Dinge. Aber selbst diese Beschränkung vorausgesetzt, wäre ein Wort zu der Mordaktion der Sowjets an polnischen Offizieren in Katyn à propos gewesen.

Die Struktur der Erzählung, die aus Bakers Collage aufscheint, hat als ein humanitäres Hauptmotiv das Zögern des Westens angesichts der Flüchtlingsmassen aus Deutschland bei gleichzeitiger Aufrüstung. Vieles von dem Zynismus, den man mit Schaudern lesen muss, ergibt sich aus der geostrategischen Lage Großbritanniens, vor allem die frühe Entscheidung für den Bombenkrieg als "moralische" Waffe gegen zivile Ziele. Churchill macht hier keine gute Figur. Weil es aber Churchill war, der für die Regierung Bush als legitimierendes Ideal ihres Kriegs im Irak diente, musste Baker mit diesem Buch auf vehementen Widerstand der Kritiker aus dem Lager der neokonservativen Kriegspartei von heute stoßen. Der deutsche Leser hat die Chance, sich von solchen Befangenheiten frei zu machen.

Nicholson Baker: "Menschenrauch". Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. Aus dem Amerikanischen von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 636 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gustav Seibt beschäftigt sich sehr intensiv mit Nichlson Bakers Geschichtscollage "Menschenrauch", nicht zuletzt um zu ergründen, warum dem Werk von der Kritik so geballter Zorn entgegenschlug. Als "Häppchenhistorie" (Hans-Ulrich Wehler), Buch für Demokratiefeinde (Daniel Kehlmann) und als Produkt "anti-professioneller, verschwörungstheoretisch infizierter Internetkultur" (Anne Applebaum) wurde der Band geschmäht, ruft Seibt in Erinnerung. Baker reiht historische Quellen von Alfred Nobels Utopie von einer kriegsverhindernden Wirkung moderner Waffentechnik von 1892 bis zum letzten, verzweifelten Tagebuchnotat des rumänischen Juden Mihail Sebastian, kaum je unterbrochen durch spärliche Reflexionen des Autors, erklärt Seibt. Für den Rezensenten wird in dieser Materialfülle - Baker hat über 1000 Quellen verwendet - vor allem die "Eskalation" der Gewalt deutlich, die sich bis zu Auschwitz verdichtet. Denn Baker stellt die menschenverachtende Brutalität, mit der bereits Kolonialpolitik betrieben wurde, an den Anfang seiner Collage und demonstriert die Gleichgültigkeit Churchills und Roosevelts gegenüber dem Schicksal der Juden, so der Rezensent weiter. Der Autor vertrete dabei einen pazifistischen Standpunkt und suggeriere nach Art eines "Erweckungspredigers" immer auch eine Möglichkeit zur Umkehr. So wage er es, die Frage aufzuwerfen, ob ein Kompromiss mit Hitler nicht vielleicht Millionen von Juden das Leben gerettet hätte, so Seibt weiter, wobei insbesondere Churchill für ihn die Figur ist, der er seinen unbedingten pazifistischen Standpunkt entgegenhält, stellt ein beeindruckt wirkender Seibt fest, der Bakers Fragen vielleicht naiv, aber nicht gänzlich falsch finden kann.

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