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Kein Buch zerfällt zu Staub! Nicholson Baker polemisiert gegen das "Buchmassaker" im elektronischen Zeitalter.
Es begann damit, dass Nicholson Baker, erfolgreicher Autor von Romanen wie «Vox» und «Die Fermate», in der Zeitschrift «The New Yorker» einen Artikel darüber veröffentlichte, dass die Computerisierung der Kataloge einem Bibliotheksbesuch viel von seinem Charme und seiner Effizienz genommen habe. Dann erfuhr er, dass der Neubau der San Francisco Public Library zu klein geraten war für den vorhandenen Bestand und dass die Verwaltung daraufhin ein paar hunderttausend Bände auf eine…mehr

Produktbeschreibung
Kein Buch zerfällt zu Staub! Nicholson Baker polemisiert gegen das "Buchmassaker" im elektronischen Zeitalter.
Es begann damit, dass Nicholson Baker, erfolgreicher Autor von Romanen wie «Vox» und «Die Fermate», in der Zeitschrift «The New Yorker» einen Artikel darüber veröffentlichte, dass die Computerisierung der Kataloge einem Bibliotheksbesuch viel von seinem Charme und seiner Effizienz genommen habe. Dann erfuhr er, dass der Neubau der San Francisco Public Library zu klein geraten war für den vorhandenen Bestand und dass die Verwaltung daraufhin ein paar hunderttausend Bände auf eine Müllkippe bringen ließ - das Raumproblem war gelöst. Schließlich entdeckte er, dass die großen renommierten amerikanischen und englischen Bibliotheken ihre wertvollen Sammlungen von Tageszeitungen nach der Mikroverfilmung auflösen.
Da fing er an, ernsthaft zu recherchieren. Und fand heraus, dass es eine Lobby vom Fortschrittswahn irregeleiteter und von Raumnot bedrängter Bibliothekare gibt,
- die in die Welt gesetzt hat, auf säurehaltigem Papier Gedrucktes werde «zu Staub verfallen»,
- die Mikroverfilmungen herstellt, die fehlerhaft, benutzerunfreundlich und hässlich sind,
- die nun als «scan gang» Bücher digitalisiert, obwohl weder Hardware noch Programme eine problemlose Archivierung zulassen,
- die alle Warnungen der auf Bewahrung des Vorhandenen bedachten Kollegen in den Wind schlägt ...
«'Der Eckenknick' informiert, argumentiert und verliert dabei nie die Kraft eines ironischen Manifests, das in Amerika zu erregten Diskussionen Anlass gegeben hat ... Es liest sich wie ein gut recherchierter Krimi und ein brillanter Essay zugleich ... Bibliothekare sind auch als Mörder leise. Um festzustellen, ob gestorben werden muss, genügt es ihnen oft, eine Ecke einer Buch- oder Zeitungsseite einmal vorn, einmal zurück zu falten. Wenn die Seite bricht, dann ist die Zeitung, das Buch in Lebensgefahr.»
Süddeutsche Zeitung
Autorenporträt
Baker, NicholsonNicholson Baker wurde 1957 in Rochester, New York, geboren. Er studierte u.a. an der Eastman School of Music und lebt heute in South Berwick, Maine. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 1997 erhielt er den Madison Freedom of Information Award, 2001 den National Book Critics Circle Award für «Der Eckenknick», 2014, zusammen mit seinem Übersetzer, den Internationalen Hermann-Hesse-Preis. Zuletzt erschienen von ihm «Eine Schachtel Streichhölzer», «Menschenrauch», «Haus der Löcher» und die Essaysammlung «So geht's».
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Ist's auch Wahnsinn, so hat es doch Methode
Der Teufel steckt in der Digitalisierung: Nicholson Baker kämpft mit Leidenschaft für das Leben der Bücher / Von Paul Ingendaay

Die Erstausgabe von Henry James' autobiographischem Buch "Notes of a Son and Brother" (New York 1914) war letzten Mai in Boston für neunzig Dollar zu haben. Die Erstausgabe! Jetzt liegt das Buch hier auf dem Tisch. Der Rücken ist verblichen, aber solide, die Bindung exzellent, die fünfhundert Seiten der alten Typographie auf diesem nicht mehr ganz jungen Papier sind eine Augenweide.

Am anderen Ende des Kontinents, in Seattle, war ein paar Tage vorher eine fünfundzwanzigbändige "Encyclopaedia Britannica" (der amerikanische Nachdruck aus Philadelphia, 1875 bis 1890) für dreihundert Dollar zu kaufen. Anderthalb Regalmeter des besten Konversationslexikons der Welt, mit Lederrücken und in gutem Zustand, aus einer Zeit, als Melville noch lebte und Darwin noch nicht einmal lexikographisch erfaßt war! Der amerikanische Freund sagte: "Die Bände stehen da schon seit einem Jahr. Siehst du das Preisschild? Heruntergesetzt von fünfhundert auf dreihundert Dollar. Keiner will so etwas haben." Irrtum. Band eins liegt jetzt hier auf dem Tisch, der Rest ein paar Meter weiter. Drei Sätze dieser englischen Prosa, und man weiß, daß man es mit unabhängigen Köpfen zu tun hat, deren stilistische Klasse die heutige Lexikographie weit in den Schatten stellt.

Einem Mann wie dem amerikanischen Schriftsteller Nicholson Baker, Jahrgang 1957, müßte man den Wert solcher Bücher nicht erklären. Baker, der hingebungsvolle Beschreiber der kleinen Gegenstände, ist ein Fetischist der physischen Welt. Alte Sachen, neue Sachen, alles erregt sein Interesse. Was sich anfassen, biegen und drehen läßt, was knistert, knarrt, surrt oder seufzt, was schroffe Kanten hat oder Wellenlinien wirft, kurz: was überhaupt Sinnesreize an den Wahrnehmungsapparat des Menschen aussendet, verdient in Bakers Augen höchste Aufmerksamkeit. In seinem Buch "The Mezzanine" (deutsch "Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge", 1991) singt er das Lob der Konsumgüterindustrie, indem er präzise ihre Designs, Mechanismen, Aufschriften und Verpackungen schildert. Darunter auch eine erstaunliche Erfindung wie die Perforation, die "ein zeitumwälzendes Gefühl für die einzigartigen Eigenschaften von zu Brei verarbeiteten Holzfasern zeigt. Doch gibt es einen nationalen Feiertag zu Ehren dieser Entwicklung?" Nein, den gibt es nicht. Und damit sind wir beim Thema von Bakers neuem Buch, das Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel stimmig und mit titanenhafter Forschergenauigkeit ins Deutsche übersetzt haben. "Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen", im Original aus dem Jahr 2001, ist eine große Streitschrift gegen die Digitalisierung von Texten zu Lasten des physischen Buches.

Es fing damit an, daß Baker vor mehr als zehn Jahren einen Essay über den Reiz von Zettelkatalogen in Bibliotheken schreiben wollte. Da stellte er fest, daß Zettelkataloge überall abgeschafft werden. Dann forschte er ein wenig über den Verbleib alter Zeitschriftenjahrgänge nach, jener riesigen gebundenen Bände, die in Bibliotheken früherer Jahrzehnte ein vertrauter Anblick waren. Jetzt machte Baker eine furchtbare Entdeckung: Die Kongreßbibliothek in Washington und weitere renommierte Häuser waren dabei, ihre Papierbestände zu digitalisieren und dabei in Kauf zu nehmen, daß die Originalbücher ausgeschlachtet, zerstört oder verramscht wurden.

Das Thema nahm den Schriftsteller gefangen und beherrschte ihn schließlich ganz: Nur so ist die enorme Sammel- und Forscherleistung zu verstehen, die hinter diesem Buch mit seinen 350 Seiten Text sowie 150 Seiten Anmerkungen, Register und Bibliographie steckt. Baker wollte es nicht nur sehr genau wissen, er muß auch so ziemlich jeder Spur gefolgt sein, die sich ihm unterwegs zeigte, und hat viele Dutzend Gespräche mit Spezialisten für die entlegensten Gegenstände geführt. So daß seine Streitschrift zu einer gewaltigen Dokumentation gerät, die erst Respekt abnötigt und dann angst macht. Denn was Nicholson Baker in diesem Buch beschreibt, läuft auf eine gigantische Dummheit im amerikanischen Bildungswesen der letzten Jahrzehnte hinaus, einen kostspieligen, verblendeten Unfug, der den Kindern und Kindeskindern der heute Verantwortlichen für immer einen substantiellen Teil ihres historisch-dokumentarischen Erbes geraubt hat.

Eine der großen Linien in Bakers Schilderung betrifft die Mikroverfilmung. Viele kennen Mikrofilme aus der Bibliothekspraxis: behäbig, unpraktisch, oft von lausiger Qualität; die Kopien, die solche Geräte ausspucken, spotten jeder Beschreibung. Baker weist nach, welche Ideologie den ganzen Mikroverfilmungswahn in Gang gesetzt hat. Das erste Argument war Raummangel, das zweite die angeblich praktischere Handhabung. Und dahinter stand ein großer Mangel an historischer Phantasie, denn offenbar fanden selbst die Direktoren der großen amerikanischen Universitätsbibliotheken in Harvard, Yale, Cornell und vielen anderen nichts dabei, ihre vollständigen Jahrgänge von Tageszeitungen und Zeitschriften für die Mikroverfilmung zu zerlegen und sich fortan mit teils mangelhaften, teils unvollständigen Mikrofilmkopien zu begnügen.

Die zerstörten Zeitungsbände waren nach der Prozedur natürlich wertlos. Sie wurden abgestoßen, teils an kommerzielle "Ausschlachter", die auf einem wachsenden Nostalgiemarkt einzelne Geburtstagsnummern einer bestimmten Tageszeitung für 39,50 Dollar pro Stück verscherbeln. "Die Firma Historic Newspaper Archives", schreibt Baker, "besitzt zur Zeit wahrscheinlich die umfangreichste ,Sammlung' amerikanischer Zeitungen nach 1880, die es in unserem Land oder irgendwo sonst auf der Welt gibt - eine gespenstische, pervertierte Bibliothek: Sie besitzt sie, um sie zu zerstören." Die Verblüffung steigt aber beträchtlich, wenn man dank Bakers kriminologischer Recherche begreift, wie eng die Förderprogramme der Mikrofilmtechnologie an die amerikanische Rüstungsindustrie gebunden waren. Es scheint, als hätten nicht Gelehrte oder zumindest humanistisch Gebildete die großen Bibliotheken verantwortet, sondern modernitätssüchtige, geldgierige Karrieristen, die von Büchern keine Ahnung hatten. Denn stets ging es um Sonderprogramme, für die man Politiker gewinnen mußte, immer waren Lobbyismus, schamlose Verdrehung und Propaganda im Spiel.

Satirische Qualitäten gewinnt Bakers Buch beim Thema des säurehaltigen Papiers. Denn plötzlich war nicht allein Raumnot das Argument, sondern der Alarmschrei: Unsere Bücher enthalten zuviel Säure, sie zerfallen zu Staub! Wieder wurden umfangreiche Programme gestartet, Politiker umschwänzelt und Gelder gesammelt, so unfaßbare Summen Geldes, das man damit viele hundert Buchlagerhäuser mit perfekt regulierter Temperatur und Luftfeuchtigkeit hätte bauen können. Das aber geschah nicht. In dieser Geschichte einer systematischen Kulturzerstörung geschah nie das Naheliegende und Vernünftige, sondern fast durchweg das Unreflektierte, Überhastete. In den achtziger Jahren erreichte die Torheit mit Unterstützung der Nasa ihren vorläufigen Höhepunkt. Viele Millionen Dollar wurden bei Versuchen mit einer Papierentsäuerungsanlage in den Sand gesetzt, die mit Diäthylzink operierte, einer hochgefährlichen, sofort entflammbaren Substanz, die für die Herstellung von Bomben benutzt wird. Dem teuren Wahn fielen Tausende Bibliotheksbücher zum Opfer.

Nachdem alle Experimente kläglich gescheitert waren, suchten sich die Bibliothekare neue Spielplätze. Einer davon, die allgemeine Verbreitung säurefreien Papiers für den Buchdruck, war sinnvoll. Ein anderer, die Übertragung gedruckter Buchstaben auf immer neue digitale Speichermedien, führte abermals zu gewaltigen Kosten und der frivolen Bereitschaft, das primäre Medium unbarmherzig auszumustern. Daß die Kosten der Automatisierung dabei fatal unterschätzt wurden, geben sogar die fanatischsten Bibliotheksmodernisierer zu, denn die Pflege der Software und der Zwang zu ständigem Upgrading brachten unkalkulierbare Ausgaben mit sich. Bis heute. Allein in den letzten fünfzehn Jahren haben wir drei Generationen völlig verschiedener Speicherdisketten verschlissen, und auch die Tage der CD-Rom scheinen gezählt. Bücher dagegen bleiben, und es gibt keinen Grund, ihr stoisches Durchhalten zu belächeln. Während kaum ein Mensch sich mehr an MS-Dos von 1988 erinnert, ist die Encyclopaedia Britannica von 1875 noch da: schwer, staubig, dauerhaft. Wie die Erde selbst.

Hinter Nicholson Bakers Schilderung steht ein durch und durch ökologischer Gedanke. "Wenn man durch Handeln mehr Schaden anrichtet als durch Verzicht auf Handeln, dann sollte man nicht handeln. Man wartet ab. Man behält, was man hat." Die Hysterie, die sich in Amerika um die "brüchigen Bücher" (sowie ihren angeblich unmittelbar bevorstehenden Zerfall) entfaltete und die ganze Nation anspornte, viele Millionen Dollar in eine frenetische Digitalisierung zu stecken, hatte die Zerstörung Hunderttausender Bücher zur Folge. Man rettete ihren sogenannten "geistigen Gehalt" und warf die materielle Hülle guten Gewissens auf den Müll. Doch diese Hülle ist überaus dauerhaft, wenn man sie nur dazu benutzt, wofür sie gemacht ist, nämlich zur Lektüre, statt mit dem berüchtigten "Eckenknick-Test" ihre Dauerhaftigkeit zu prüfen. Gerade aufs Lesen, so scheint es, kam es den Verfechtern der Digitalisierung am wenigsten an.

Im Internet lassen sich die erbitterten Debatten unter amerikanischen Bibliothekaren, Archivaren und Buchkonservatoren rekonstruieren, die Bakers Streitschrift ausgelöst hat. Immerhin gibt es eine. Der Autor selbst hat vor einigen Jahren einen gut Teil seines Privatvermögens in die Gründung des gemeinnützigen "American Newspaper Repository" gesteckt, das alte Jahrgänge von Zeitungen erwirbt und sachgerecht lagert. Denn wenn man nur bewahrt, was nützlich ist, dann verkümmert die Kultur. Nicholson Baker dagegen sagt: Man muß an geheimen und weniger offensichtlichen Lagerstätten buddeln. Die Erde umgraben, ohne zu wissen, wonach man sucht. In hundert Jahre alten Zeitungen blättern. Illustrationen betrachten, die kein Scanner bewahrt. In dieser Haltung steckt die Geschichtsschreibung kommender Jahrzehnte.

Nicholson Baker: "Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 492 S., geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.02.2006

Betörend wie der Unterschnabel eines Kugelkopfs
Nicholson Baker, der Eckenknick und das Bewahren von altem Papier: Der Feldzug eines Schriftstellers gegen die Bibliotheken
Alles begann mit der Zettelkasten-Affäre, im April 1994. Damals veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker im New Yorker den Essay „Discards”, eine furiose Polemik gegen die Ausmusterung der Zettelkataloge zugunsten der neuen, elektronischen Kataloge in den Bibliotheken. Der Verfasser war ersichtlich ein Virtuose im Umgang mit Zettelkataloge. Mit nicht geringem Sarkasmus geißelte er die Kinderkrankheiten des Online-Bibliographierens. Aber er begnügte sich nicht damit, die Modernisierungseuphoriker in den Bibliotheken dadurch herauszufordern, dass er die neue Erschließungstechnologie gegenüber der alten als hoffnungslos unterlegen erscheinen ließ. Ihr dürftet, rief er den Bibliothekaren zu, die alten Kataloge selbst dann nicht wegschmeißen, wenn die neuen besser wären. Denn wisst Ihr, was Ihr tut, wenn Ihr ein paar von den alten Karteikarten behaltet und den Rest in den Shredder gebt? Ihr vernichtet die ungeschriebene Autobiographie Eurer Bibliothek, ihr vernichtet ein Magazin voller ungeschriebener Geschichten des Wissens, die sich in den Schreibmaschinentypen und den Handschriften, den Notizen und selbst im Format der Karteikarten verbergen. Ihr vernichtet nicht nur die möglichen Gegenstände einer künftigen „Paläographie” Eurer Bibliothek, ihr vernichtet einen Teil der Literaturgeschichte!
Ein Katalog ist kein Kultobjekt
Kurz, die Bibliothekare hatten bei der Lektüre des Essays die Wahl, in wem sie sich lieber wiedererkennen wollten, in denen, die die Bibliothek von Alexandria dem Feuer überantwortet oder in den Leuten, die im England des sechzehnten Jahrhunderts die Klöster zerstört hatten. Viele waren empört, für manche war es der Beginn einer wundervollen Feindschaft. Nicholson Baker? Ist das nicht dieser hoffnungslos sentimentale Typ mit dem Flohmarkt-Blick auf Bibliotheken? Einer von den Nostalgikern, die ihren Nippes in alten Setzkästen drapieren uns mit Museen verwechseln? Was, der hat die anonymen Ersteller der Zettelkataloge mit den Erbauern der mittelalterlichen Kathedralen verglichen? Dem soll mal ein Profi die einfache Wahrheit klar machen: ein Katalog ist ein Katalog ist ein Katalog und kein Kultobjekt, und wir sind nicht zu blöd, alte Wissens- und Erschließungstechniken in neue Technologien zu übertragen.
Ja, die inzwischen schon über ein Jahrzehnt lang anhaltende Affäre zwischen Nicholson Baker, den Bibliotheken und den Bibliothekaren ist die Geschichte einer Obsession. Aber nach dem einfachen Schema, in dem Baker ein Nachfahre der Ludditen und Maschinenstürmer im Zeitalter der Modernisierung der Speichermedien wäre, lässt sie sich nicht erzählen. Denn Nicholson Baker, Jahrgang 1957, geboren in Rochester (New York), ist ein Kind des Zeitalters der Mondlandung, und er ist, auch als Schriftsteller, ein überaus einheimischer Bewohner der modernen Alltagswelt, einschließlich der Telekommunikation und der elektronischen Computerwelten.
Schlägt man zum Beispiel sein in den achtziger Jahren geschriebenes Buch „Room temperature” (1990, dt. „Zimmertemperatur”, 1993) auf, so gerät man in ein Gewirr aus virtuellen und realen Experimenten mit allerlei Haushaltsgeräten oder mit den Ventilationskanälen im Innenraum von Düsenflugzeugen. Eine gewisse Berühmtheit auch außerhalb des literarischen Publikums gewann Baker, als Monica Lewinsky seinen hinreißenden Telefonsex-Roman „Vox” (1992) dem damaligen Präsidenten Bill Clinton schenkte. Und in seinem Roman „A box of matches” (2003, dt. „Eine Schachtel Streichhölzer”, 2005) sagt er von den Bewegungen des Unterschnabels, mit denen seine Hausente Wasser aus der blauen Schale schöpft: „das geht wie der Kugelkopf einer alten IBM Selectric”.
Im Jahre 2001 ist die Originalausgabe von Nicholson Bakers Buch „Double Fold” erschienen. Inzwischen ist es, unter dem Titel „Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen” auch auf Deutsch zu haben. Es hat in Amerika dem Vorgeplänkel der Zettelkastenaffäre ganze Kaskaden von Streitgesprächen und Polemiken folgen lassen. Denn in diesem Buch dringt Baker von den Katalogräumen ins Innerste der Bibliotheken vor: in die Magazine und in die Verwaltungsabteilungen. Er attackiert große Institutionen wie die British Library in London und die Library of Congress in Washington, polemisiert namentlich gegen führende amerikanische Archivare, Bibliothekare und Restauratoren. Die Anklage lautet: unter dem Vorwand der Bestandserhaltung zerstören die Bibliotheken faktisch große Teile ihrer Bestände, statt sie, wie es ihre Aufgabe wäre, zu bewahren.
Im Zentrum stehen zwei prominente Methoden der Bestandserhaltung: die Massenentsäuerung und die Mikroverfilmung. Beide haben einen gemeinsamen Hintergrund, den so genannten „Papierzerfall”. Er betrifft Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, aber auch Manuskripte aus der Zeit zwischen etwa 1850 und 1970. Denn zwar war der Holzschliff, den Gottlob Keller 1843 als Ersatzstoff für die Hadern (mittelhochdeutsch für „Lumpen”) fand, aus denen das Papier traditionell hergestellt wurde, eine vergleichsweise unerschöpfliche Ressource. Aber mit der industriellen Fertigung von Papier auf Holzbasis und der Massenleimung unter Zusetzung von Aluminiumsulfat begann die Säure in das Papier Einzug zu halten und darin auf lange Sicht ihre zersetzende Wirkung zu entfalten.
Nicholson Baker, das weiß jeder seiner Leser, ist ein Meister in der Beschreibung der Dingwelt und ihrer kleinen und großen Tücken, ein wortmagischer Daniel Düsentrieb, der prosaischen Gebrauchsanweisungen ihre surrealistischen Doppelgänger an die Seite stellt, ein Tüftler und Bastler, der keinen Schlauch, keinen Bedienungsknopf und keine Scheibenwaschanlage ansehen kann, ohne ihnen kleine Geschichten abgewinnen zu wollen, in denen die Dinge selbst die Helden sind. Nicht weil er ein Nachfahre der vormodernen Welt wäre, ist Nicholson Baker in seinen Clinch mit den Bibliotheken geraten, sondern weil er als Autor der Obsession an den Dingen verfallen ist. Es gibt für ihn keine Datenträger, deren Informationen sich schadlos von ihnen ablösen ließen: alle Datenträger sind für ihn integrale Objekte, deren Integrität es zu wahren gilt.
Darum beschreibt er mit überwachem Sinn für makabre Pointen das (inzwischen längst als Irrweg erkannte) Verfahren der Laminierung von Buchseiten und sogar alten Handschriften, bei denen die Mythologie des „ewig haltenden” Plastiks ihre Tribute forderte, darum wird er nicht müde, die Geschichte der Desaster und explosiven Pannen bei der Entwicklung von Verfahren der Massenentsäuerung bis hinein in das letzte Reagenzglas zu erzählen. Darum lässt er, gestützt auf einen voluminösen Anmerkungsapparat, Heerscharen von Interviews und Protokollen aufmarschieren, die belegen, welche ruinösen Konsequenzen die (noch unausgereiften) Verfahren der Mikroverfilmung für die Bücher haben konnten, die ihnen unterworfen wurden.
Darum stört ihn der Eckenknick, dessen Erfindung als Prognoseinstrument zur Vorherbestimmung der Lebensdauer von Büchern er in einem eigenen Kapitel anschaulich beschreibt. Je weniger oft man die untere rechte Ecke eines Buches hin und her knicken kann, desto kürzer ist die Lebenserwartung des Buches. Nein, sagt Nicholson Baker, eine Buchseite ist zum „nicht-scharfen Biegen” gemacht, nicht zum Umknicken: „wenn man die Elastizität einer Uhrfeder feststellen wollte, würde man dann ein kurzes Stück davon hin- und herbiegen, bis es abbricht?”
Radikalismus des Bewahrens
Bakers Kritik am Eckenknick-Urteil über die Bücher zielt nicht lediglich auf die Objekt-Unangemessenheit des Verfahrens. Sie zielt vor allem auf den prognostischen Gehalt. Denn die Kernthese seines Buches ist, dass die gängigen Prognosen des unmittelbar bevorstehenden „Zerfalls” der Bücher deren Zustand dramatisieren, um ihre rasche Ausrangierung, riskante Entsäuerung oder völlige Ersetzung durch Mikrofilmversionen zu legitimieren. So suggestiv die gelegentlich ins Klima der detective story führenden Geschichten aus der Restaurierungs- und Verfilmungswelt sind, die Baker erzählt, um seine These zu untermauern, die amerikanischen Bibliothekare und Archivare haben sich die Chance zur Antipolemik an diesem Punkt nicht entgehen lassen.
Erstens hat in der Welt der Bucherhaltung und -restaurierung längst ein Prozess stattgefunden, den man in Analogie zur modernen Medizin als Übergang von stark invasiven zu minimalinvasiven Diagnose- und Therapieverfahren beschreiben könnte. Zweitens sind die Hemmungen stark angewachsen, (auch säurehaltige) Bestände nach der Mikroverfilmung auszumustern. Drittens ist Bakers trotziger Radikalismus des Bewahrens, der am liebsten jede Ausgabe jeder Zeitung auf unbegrenzte Zeit hin im Originalzustand in großen, klimatisierten Lagerhallen speichern würde, ein gefundenes Fressen für Bibliothekare und Archivare, die gewohnt sind, bei ihren Entscheidungen für den Erhalt oder Nicht-Erhalt von Beständen den Raumbedarf automatisch in Geldbedarf umzusetzen. Und viertens ist, trotz Nicholson Bakers Polemik gegen die Dramatisierung des Problems, das „saure Papier” kein Scheinproblem.
Dennoch sollten die Bibliothekare Nicholson Baker eher dankbar sein als ihn verdammen: Sein Temperament als Autor des Eigenrechts der Dinge macht ihn zum idealen, wunderbar eloquenten Chronisten unserer Übergangszeit, in der sich das Papier und seine analogen wie digitalen Verwandten und Rivalen unter den Speichermedien vorerst vermischen, statt einander abzulösen.
LOTHAR MÜLLER
NICHOLSON BAKER: Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005. 492 S., 29,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wie kommt es, fragt sich Rezensent Lothar Müller, dass der für seine durchaus nicht vormodernen und technikfeindlichen Romane bekannt gewordene New Yorker Schriftsteller Nicholson Baker vor gut einer Dekade eine bis dato anhaltende Polemik in den Journalen der amerikanischen Geisteswelt vom Zaun brach, die sich mit den Modernisierungsmethoden der Bibliotheksbestände auseinandersetzt? In der als "Zettelkastenaffäre" betitelten Debatte gehe es um die von Baker geltend gemachten Verluste, die bei der Überführung alter Zettelkataloge in Online-Bibliographien entstehen. Mit der Vernichtung alter Kataloge, so Baker, ginge auch die "ungeschriebene Autobiografie" der Bibliotheken verloren, deren Geschichte sich in und auf die Karteikarten eingeschrieben habe. In dem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch gehe Baker noch weiter und dringe ins Innerste der Wissensinstitutionen vor. Die Bestanderhaltung mit den Mitteln der Massenentsäuerung und Mikroverfilmung, die den Papierzerfall der zwischen 1850 und 1970 verlegten Bücher vermeiden helfen soll, stelle für Baker nur einen dramatisierten Vorwand dar, der eine "rasche Ausrangierung, riskante Entsäuerung oder völlige Ersetzung durch Mikrofilmversionen legitimiere". Dem "trotzigen Radikalismus des Bewahrens" will der Rezensent zwar nicht zustimmen, da unter anderem der Papierzerfall kein Scheinproblem darstelle, trotzdem zollt er dem Temperament des "wortmagischen Daniel Düsentrieb" Respekt, der den Dingen wieder zu ihrem Eigenrecht verhelfe.

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Ach! Warum nur in aller Welt hat dieser begnadete Autor ein so langes und so langweiliges Buch geschrieben? Wie konnte Baker das nur passieren?, fragt betrübt Rezensent Michael Rutschky. Entschuldigung Nummer eins: Bakers "Poetik des Drechselns? funktioniere nun mal nicht bei diesem reinen Sachbuch zum Thema Büchervernichtung in Bibliotheken. Entschuldigung zwei: Hätte Baker sich doch mit 120 Seiten anstelle von 500 zufrieden gegeben, dafür aber mit "zärtlichster Bosheit und allen Tricks? (Ganz sicher wäre dann alles gut gegangen!). Doch kein "Wenn und Aber? hilft weiter, Baker hat die Chose vergeigt, muß Rutschky wehmütig eingestehen, und das trotz der reizvollen paradoxalen "Grundfigur?, dass Bücher analog zerstört werden um sie digital zu retten. Auch gebe es genügend "merkwürdige bis bizarre Personen?. Nicholson Baker hätte doch nur seiner persönlichen Rührung freien Lauf lassen müssen, so wie an der Stelle, wo er die zentnerschweren Bände eines "Revolverblattes? unter Tränen vor dem Untergang rettet, als wären es die Manuskripte Shakespeares. Leider aber, so Rutschky resigniert, habe sich Baker viele unnötige Sorgen um viel zu viele Bücher gemacht.

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