Im Jahre 1917 veröffentlichte der Berner Privatdozent Ernst Kurth eine umfangreiche Monographie mit dem Titel "Grundlagen des linearen Kontrapunkts". Mit diesem Werk beabsichtigte er, die primär an harmonischen Verläufen orientierte Werkanalyse durch eine gezielte Interpretation melodischer Zusammenhänge zu bereichern. Obgleich das Buch während des Ersten Weltkrieges erschien, stieß es in Fachkreisen auf große Verbreitung und gelangte innerhalb von nur zehn Jahren zur dritten Auflage. Dabei wurde die ausdrücklich zur Bach-Interpretation entwickelte Terminologie des Linearen Kontrapunkts von vielen Musikwissenschaftlern aufgegriffen und gegen Kurths Willen zur Analyse zeitgenössischer Werke herangezogen. Paul Bekker vermutete gar, Kurths Theorie werde den künftigen Kompositionsstil beeinflussen, was Ernst Krenek, einer der betroffenen Komponisten, später mit großem zeitlichen Abstand bestätigt. Eine derart vielfältige Rezeption des Linearen Kontrapunkts führt zu der Vermutung, dass Kurths Bach-Interpretation geisteswissenschaftliche Grundzüge aufweist, die zu Beginn der 20er Jahre in Musikerkreisen eine gewisse Allgemeingültigkeit besassen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Das musikanalytische Buch Ernst Kurths, das Luitgard Schader in ihrem Text untersucht, war einflussreich wie kaum ein anderes. Schader setzt sich daher mit seiner Wirkung auseinander, aber auch mit der Biografie des Verfassers und natürlich der Theorie selbst. Ergänzt wird das Buch durch Abdruck eines Briefwechsels und Zeugnisse von prominenten Schülern Kurths. Der Rezensent (Kürzel ab.), der, von dieser Bemerkung abgesehen, ausschließlich die Fakten referiert, findet die Studie "lesenswert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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