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Franz Overbeck war einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf Nietzsche, Barth, Löwith, Benjamin, Taubes und viele andere ist unbestritten. "Werke und Nachlaß" erschließt erstmals Overbecks Gesamtwerk und stellt den Theologen und Historiker vor als einen skeptischen und zugleich sensiblen und distanzierten Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-) Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses "antimodernen Modernisten" wichtig.
Band 7/1
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Produktbeschreibung
Franz Overbeck war einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf Nietzsche, Barth, Löwith, Benjamin, Taubes und viele andere ist unbestritten. "Werke und Nachlaß" erschließt erstmals Overbecks Gesamtwerk und stellt den Theologen und Historiker vor als einen skeptischen und zugleich sensiblen und distanzierten Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-) Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses "antimodernen Modernisten" wichtig.

Band 7/1 umfassen die als "Selbstbekenntnisse" veröffentlichten Texte, das bisher unpublizierte "Tagebuchartige" und weitere selbstbiografische Aufzeichnungen aus den Jahren 1897 bis 1905. Die Anhänge umfassen thematisch zugehörige Artikel aus dem Kirchenlexikon, Aufzeichnungen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der "zweiten Christlichkeit", Overbecks Briefwechsel mit James Donaldson und seine briefliche Auseinandersetzung mit Carl Albrecht Bernoulli über die weitere Verwendung seines Nachlasses.
Autorenporträt
Marianne Stauffacher-Schaub (Basel), dpl. Naturwissenschaftlerin der ETH Zürich, bis 1996 Redaktionsassistentin der Werke- und Nachlaß-Ausgabe Franz Overbeck, Verlagsmitarbeiterin.

Mathias Stauffacher (Basel), Dr. phil., Mittelaltergermanist, Generalsekretär der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ludger Lütkehaus hätte sich Franz Overbeck, von 1870 bis 1897 Theologe in Basel, "zum Freund gewünscht", haben ihm doch dessen autobiografischen Aufzeichnungen das Bild einer beeindruckenden, durch nichts zu beirrenden Loyalität gezeichnet, von der beispielsweise Overbecks Freund Nietzsche profitiert hat. Und die Universität, an der Overbeck als einer, der nicht glaubte, 27 Jahre lang das Neue Testament und Kirchengeschichte lehrte. Doch Overbeck war Lütkehaus zufolge mehr als treu und pflichtbewusst: ein "aufrechter Mann", der für seine Überzeugungen einstand, doch auch ein von Schmerz erfüllter, depressiver Mann, der unfähig war, sich irgendetwas leicht zu machen. Seine autobiografischen Notizen erscheinen als Teil einer Werkausgabe, deren Herausgebern Lütkehaus das größtmögliche Lob ausspricht: "Eine überwältigende Gelehrsamkeit, Skrupulosität und eine gewisse Neigung zum Mäandrieren rücken die exzellente Edition und ihren Kommentar intellektuell sozusagen in die Nähe des Editierten."

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Echo, wo bist du?
Im Archiv, wo denn sonst? Overbeck wollte Nietzsche vor den Deutern retten / Von Henning Ritter

Nachdem bei Friedrich Nietzsche der Wahnsinn ausgebrochen war, geschah alles Weitere in einer fast beängstigenden Raschheit. Als er am 25. August 1900 in Weimar starb, zeichnete er sich im Bewusstsein der Zeit als Philosoph der Zukunft ab. Die Geschichte seines aufgehenden Ruhms ist aber auch die Geschichte von Zerwürfnissen und Krisen, an deren Anfang Franz Overbeck steht, der den Wahnsinnigen aus Turin heimgeholt hatte. Er besaß eine Sammlung von Briefen und nachgelassenen Manuskripten, weshalb er sich um eine Ausgabe des Nachlasses bemühte. Die Aktivitäten der Schwester Nietzsches führten aber nach und nach zur wechselseitigen Entfremdung aller, die zu Nietzsche nähere Beziehungen gehabt hatten - Köselitz-Gast, Rohde und Overbeck -, und schließlich 1894 zu Overbecks Bruch mit Elisabeth Förster-Nietzsche und dem von ihr eingerichteten Archiv. Overbeck lag nun nur noch daran, seine "Nietzscheana" vor dem Zugriff der Schwester zu schützen und seine Beziehungen zu Nietzsche historisch genau zu dokumentieren. Im Unterschied zu Nietzsches Schwester scheute Overbeck die Publizität. Ein Jahr nach seinem Tod 1905 hat Carl Albert Bernoulli die Aufzeichnungen Overbecks über Nietzsche in der Neuen Rundschau auszugsweise veröffentlicht und 1908 in einer großen zweibändigen Monografie zusammen mit den zwischen beiden gewechselten Briefen verarbeitet.

Das gleichzeitige Erscheinen des Briefwechsels Overbecks mit Nietzsche und des Konvoluts der Aufzeichnungen "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde", die hier zum ersten Mal in originalgetreuer Edition zugänglich gemacht werden, gibt Gelegenheit, Overbecks Part in dieser größten Schlacht um Nachruhm und Nachwirkung eines Denkers, die das zu Ende gegangene Jahrhundert beschäftigt hat, neu zu bedenken. Dabei ist Overbeck längst nicht mehr der wehrlose Kontrahent des Weimarer Archivs. Vielmehr hat er seit Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari philologisch über das von Elisabeth Förster-Nietzsche inspirierte Editionsunwesen den endgültigen Sieg davongetragen. Overbeck ist zum stillen Säulenheiligen der Kritischen Gesamtausgabe geworden, die sich als Entmythologisierung und Reinigung des unredlich kanonisierten Nietzsche versteht. Dem Vorbild Overbecks entsprachen Colli und Montinari auch in dem Willen, die Genese des Werks sichtbar zu machen und Bedingungen seiner Entstehung sogar über späte, ungesicherte Intentionen ihres Autors zu stellen. Aber die Frage der "Wahrheit" Nietzsches ist damit so unentschieden wie je. Overbeck hat gesiegt, aber hat er nicht auch über Nietzsche gesiegt?

Die Freundschaft zwischen Nietzsche und Overbeck hat etwas befremdlich Rätselhaftes. Der Theologe, dem der Glaube an das Christentum verloren gegangen war, über das er dennoch in seinem kirchengeschichtlichen Amt zu lehren versuchte, ließ sich durch die Anpassungen der Theologen seiner Zeit in ein tiefes inneres Zerwürfnis mit dem Christentum treiben und geriet in völlige Isolierung. In seinem Temperament und Wollen war er das gerade Gegenteil von Nietzsche, der mit Zweifeln und Verstörungen nicht haushielt, sondern ihnen vehementen Ausdruck gab, unter Verletzung aller wissenschaftlichen Disziplin, in deren Gehäuse Overbeck wiederum Halt fand. Der ungläubig gewordene Theologe und der den Tod Gottes ausrufende Pfarrerssohn, der Philologe und der Rhetor, waren gerade in der Frage, die sie einander am nächsten bringen musste, am weitesten voneinander geschieden. Und so in vielem, ja nahezu allem.

Liest man die Briefe, die sie gewechselt haben, als Zeugnisse einer Freundschaft, so kann Overbecks Aufmerksamkeit gegenüber den alltäglichen Beschwernissen Nietzsches nicht darüber hinwegtäuschen, dass ebendas, woran Nietzsche am verzweifeltsten litt, sein Verlangen nach einem Echo seiner Gedanken, unerwidert blieb. Overbeck beschwichtigte allenfalls, ohne antworten zu können. Als Nietzsche ihm "Jenseits von Gut und Böse" schickt, beschwört er seinen Freund, von seiner gewöhnlichen Zurückhaltung abzuweichen: "Nun kommt die Bitte, alter Freund: lies es, von vorne nach hinten, und laß Dich nicht erbittern und entfremden - ,nimm alle Kraft zusammen', alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewährten Wohlwollens, - ist Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht!"

Overbeck fügt sich der dringlichen Bitte, berichtet, dass er das "wunderbare neue Buch" auf eine Wanderung mitgenommen habe. Er habe das erste und zweite Buch "mit Andacht gelesen". Das konnte es nicht sein, was Nietzsche als Echo erhofft hatte. Wie aber soll es dem Empfänger entgangen sein, dass neben der litaneiartigen Klage über Krankheit, Schmerzen und Vereinsamung die erschütterndsten Passagen der Briefe Nietzsches an Overbeck jene sind, in denen er die Echolosigkeit seiner ganzen Existenz beklagt? Gegen solche Schmerzen hatte sich Overbeck in seiner eigenen Einsamkeit, die er sich als Weltablehnung deutete, wohl früh immun gemacht.

Das Pathos der "idealischen Dachstuben-Einsamkeit", einer Existenz, für welche die Erkenntnis zum "mächtigsten Affekt" wird, steigerte sich bei Nietzsche langsam zu einer Leidenschaft der Selbstüberwindung, die für Zuspruch und Warnung kaum mehr empfänglich war. Da mag sich der Freund nur noch als ein Zuschauer gefühlt haben, der wie ein Krankenwärter bloß gelegentlich davor warnt, sich zu viel zuzumuten. Was Nietzsche fehlte, hat er selbst erst an der Schwelle seines Wahnsinns ausgesprochen: "Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen", schreibt er an Overbeck am 12. Februar 1887, "daß ein andres Faktum mir schrecklich weh tut und mir auch beständig gegenwärtig ist: dass in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich ,entdeckt' hat, mich nötig gehabt hat, mich geliebt hat, und dass ich diese lange erbärmliche schmerzensüberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein." Seine Briefe an Overbeck sind zu weiten Teilen diesem Thema der Krankheit und Einsamkeit und den geistigen Mitteln gegen sie gewidmet, eine einzige Unglückslitanei, für die es in der Literatur kaum Vergleichbares gibt. Dies ist umso bedeutsamer dadurch, dass die ganze Gedankenarbeit immer auch - ähnlich wie im einzig vergleichbaren Fall, bei Rousseau - den Charakter eines Heilmittels für diese Grundübel hat. Wahr sind Gedanken, die es erlauben, es mit solchen Erlebnissen und Erleidnissen auszuhalten, und am Ende, im beginnenden Wahnsinn, wird die gedankliche Euphorie jede Art von Klage hinweggefegt haben.

Seit den ersten Briefen aus Turin, Mitte Oktober 1888, ist es vorbei mit dem ewig kränkelnden, ewig kranken Nietzsche. Er fühlt sich wohl, die Welt und die Menschen kommen ihm entgegen, "es gibt auch keine Zufälle mehr". Die Linie zwischen Gesundheit und Krankheit möchte man dort ziehen, wo die Krankheit aufhört zu schmerzen und jubelnd die Gesundheit ausgerufen wird. Schwerer als die Vertauschung der Worte wiegt aber die Kontinuität des Lebensthemas von Gesundheit und Krankheit, von Jubel und Jammer. Die Mythologeme der ewigen Wiederkunft und des Übermenschen sind äußerste Zumutungen an den Leidenden und des Mitleids Bedürftigen: Selbstüberwindungen des Leidenden, der über sich selbst ewige Qualen verhängt und dennoch über die Hölle triumphieren will. Aus solcher Kontinuität des Leidens an sich selbst wurden erstaunliche Vorausdeutungen auf das Ende möglich. Schon im Januar 1882 sah Nietzsche sein Schicksal mit größter Präzision voraus: "Eine sehr langsame und lange Bahn wird das Loos meiner Gedanken sein - ja ich glaube, um mich etwas blasphemisch auszudrücken, an mein Leben erst nach dem Tode und an meinen Tod während meines Lebens."

Vieles an Nietzsches Philosophie wächst aus solchen Erfahrungen und Hellsichtigkeiten hervor. Sein Fluch über das Mitleid und seine Proklamation der Härte mochten aus dem so wenig hilfreichen Mitleiden der anderen ebenso entsprungen sein wie aus dem Scheitern aller aus Sympathie oder Mitleid entspringenden Zuwendung zu anderen. Und die Verherrlichung der Kraft des Gedankens mochte aus den täglichen Niederlagen stammen, die Schmerz und Krankheit Nietzsche beibrachten. All dies kann Overbeck nicht übersehen haben, als er sich nach dem geistigen Tod des Freundes daranmachte, Rechenschaft über ihre Freundschaft abzulegen. Umso mehr muss das kühle, fast buchhalterische Abwägen Overbecks erstaunen. Er bediente sich desselben Verfahrens der Sonderung der Probleme auf Karteikarten, das er für die Kirchengeschichte und Polemik gegen die zeitgenössische Theologie und Kultur anwandte: ein Mittel der Sonderung und Distanzierung, der Vergewisserung über den historischen Verlauf, vor allem aber ein Mittel der Abwehr von unliebsamen Interpretationen und Fiktionen.

Das Konvolut der Aufzeichnungen erweckt den Eindruck, Overbeck habe Material weniger für ein Buch als für eine Anklageschrift gesammelt - gegen die Nietzsche-Legende der Schwester. Das Nietzsche-Bild, das Overbeck zeichnet, will sich von aller Glorifizierung freihalten. Er kannte den Preis, der für Kanonisierung gezahlt wurde: In seinen Forschungen zur frühen Geschichte des Christentums hat Overbeck die Überlieferung auf die Pointe gebracht, dass die Kanonisierung geschehen sei um den Preis des Vergessens der Bedingungen für das Verständnis ihres Sinns. Das historische Verständnis will diese Bedingungen zurückgewinnen und entlarvt deswegen die Überlieferung als Täuschung über den ursprünglichen Sinn. Hätte man beides, Ursprung und Überlieferung, zusammen haben können, Urliteratur und Tradition? Es war der Traum der philologisch-historischen Kritik, diese Kluft schließen zu können. Aber durch die Zusammenführung von Ursprung und Überlieferung würde der Text als Potenzial einer belebenden, sinnstiftenden Lektüre zerbröseln. Es scheint geradezu eine Bedingung für die Überlieferung zu sein, dass sie den anfänglichen Sinn in Unverständlichkeit hüllt, ihn entstellt um der Möglichkeit eines neuen Verständnisses willen.

In dem Versuch der Kanonisierung Nietzsches durch die unredlichen Legendenbildungen der Schwester erlebte Overbeck nun ebenjenen Vorgang von nahem und als Beteiligter mit, dem er als Forscher aus großer zeitlicher Ferne nachging. Overbeck ergeht es mit Nietzsche wie den frühen Zeugen des Christentums mit dem neuen Glauben: Er hat den Freund "erlebt", aber nicht "verstanden", wie er verwundert feststellt. Die Bestandsaufnahme dessen, was er mit Nietzsche "erlebt" hatte und was er über ihn wusste, war von vornherein dazu verurteilt, so karg auszufallen und sich in Deutungen zurückzuhalten. Die Aufzeichnungen unter "Nietzsche (Friedr.) Allgemeines" beginnen, charakteristisch genug, mit der Feststellung: "Nietzsche war kein im eigentlichen Sinne großer Mensch." Vielmehr stach bei ihm das "Theatralische" ins Auge, wenn er eine Kulisse nach der anderen aus seinem "Dekorationsmagazin" hervorzog. Die fehlende "Größe" bemerkt Overbeck nicht nur an Nietzsches einzelnen Talenten, sondern vor allem an seinem "Willen zur Macht", den er mit so viel Beredsamkeit als sein Ideal aufstellte. Was ihn auszeichnete, war eine rhetorische Begabung, ein "Bestreben nach Größe, der Ehrgeiz im Wettkampf des Lebens" und die "Gewalt, mit der er sich behandelte".

Als das ungewöhnlichste seiner Talente erkannte Overbeck Nietzsches "Gabe der Seelenanalyse", "die ihm denn auch selbst, da er sie vornehmlich an sich übte, so tödlich gefährlich wurde und ihn ,entseelte', lange ehe er starb". Overbeck sah den Freund als ein Opfer seiner Psychologie als schon vor dem Ausbruch seines Wahnsinns "entseelt". Diese Diagnose tut unübersehbar alles, um die Voraussetzungen für die Legende vom Künstler und Philosophen Nietzsche im Keim zu ersticken. Das "Geniale" an ihm lag nach dem Zeugnis Overbecks in seiner "Begabung als Kritiker", die er allerdings gegen sich selbst richtete. Er glaubt sogar zu erkennen, dass Nietzsche an seine Genialität und letztlich an sich selbst nicht geglaubt und diese Zweifel durch die "äußersten Extravaganzen seines Selbstbewusstseins" übertönt habe.

Overbecks Aufzeichnungen über Nietzsche unterziehen diesen und ihre Freundschaft einer Echtheitsprüfung, die nur die Freundschaft besteht, nicht aber Nietzsche selbst. Vielleicht war dieser selbst am wenigsten der Gegenstand der Aufzeichnungen. Aber der Leser behält doch den Eindruck zurück, Overbeck habe einem Verführer widerstehen wollen. Er hat seine geistige Existenz von sich fern gehalten. Er handelt von Nietzsche als einem Gescheiterten. Selbst seine Einsamkeit beruhte auf einem Selbstmissverständnis, das seinem Ehrgeiz geschuldet sein mochte: Er war, meint Overbeck, "lange nicht so einsam, wie er sich vorkam", denn keiner seiner Gedanken sei "von Grund auf neu und unerhört" gewesen. Dieses Urteil zeigt ein erstaunliches Maß an "Unmusikalität" auch für das, was geistige Originalität ausmacht. Overbeck wollte Nietzsche untauglich machen für den Kultus, der seine Kanonisierung zum Philosophen der Zukunft begleitete. Sein Wahnsinn musste in den Augen Overbecks, der sich nun sogar in die psychiatrische Literatur der Zeit hineinzuarbeiten begann, umso deutlichere klinische Konturen gewinnen, damit das mythologische Potenzial des heiligen Wahnsinns nicht jenem Kultus zugute kam, den der kritische Philologe vor allem fürchtete.

Der Preis dieser Overbeckschen Kur ist bis heute zu spüren in einem treuherzig philologischen Umgang mit Nietzsches Philosophieren auf der einen Seite und in der um Philologie unbekümmerten Entfesselung einer geistreichen philosophischen Belletristik andererseits. Was der Philologe Overbeck verhindern wollte, ist eingetreten: Die Texte haben sich von ihren Verstehensbedingungen ihrer Ursprungssituation gelöst und sich an die immer rascher sich wandelnden Bedingungen der Rezeption angepasst. Mehr als bei jedem anderen Philosophen sind die Texte Nietzsches zu dem geworden, was man aus ihnen machen möchte. Auf etwas von Nietzsche Gemeintes ernsthaft zurückzukommen ist keine sinnvolle kritische Forderung mehr. So gibt es weder Kanonisierung mehr noch echte Kritik, weder Glauben noch Wissen.

Friedrich Nietzsche, Franz und Ida Overbeck: "Briefwechsel". Herausgegeben von Katrin Meyer und Barbara von Reibnitz. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2000. XXXII, 535 S., geb., 88,- DM.

Franz Overbeck: "Werke und Nachlass". Band 7/2: Autobiographisches. "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde". Herausgegeben von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1999. LVII, 347 S., geb., 138,-, bei Gesamtbezug 108,- DM.

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"Overbeck wird durch diese Ausgabe von Werken und Nachlaß vom Außenseiter und Geheimtip zum Klassiker und Theologiekritiker." (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte)

"...der vorliegende Band ist gewohnt sorgfältig gemacht und wird durch eine Zeittafel, zwei Bibliographien und ein Register leicht erschlossen." (Theologische Zeitschrift)