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Zum 50. Todestag des Nobelpreisträgers am 19. Februar 2002 sein wichtigstes Alterswerk in der Neuübersetzung von Alken Bruns: ein Schlüsselwerk gerade in Bezug auf Knut Hamsuns politische Ambivalenz.

Produktbeschreibung
Zum 50. Todestag des Nobelpreisträgers am 19. Februar 2002 sein wichtigstes Alterswerk in der Neuübersetzung von Alken Bruns: ein Schlüsselwerk gerade in Bezug auf Knut Hamsuns politische Ambivalenz.
Autorenporträt
Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geboren und gilt neben Henrik Ibsen als bedeutendster Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem Debütroman Hunger sogleich ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hoch umstrittene Hamsun starb 1952 in Nørholm.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eberhard Rathgeb beschäftigt sich in der Besprechung des letzten, 1949 erstmals erschienen Romans von Knut Hamsun vor allem eingehend mit dem Prozess, den man ihm nach Kriegsende machte. Wegen seiner Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei Norwegens, der auch seine Frau angehörte, und nicht zuletzt wegen seines begeisterten Nachrufs auf Hitler nach dessen Tod, wurde er 1947 zunächst zwangsweise in eine Klinik eingewiesen und später zu einer Geldstrafe verurteilt, informiert der Rezensent. In diesem Roman machte er sich laut Rathgeb selbst den "literarischen Prozess" und erteilte sich anschließend "Schreibverbot". Damit hat er am Lebensende seinen "allerwichtigsten Streit ausgefochten", meint Rathgeb, der auch darauf hinweist, dass Hamsun sich zumindest "auf die Länge seines letzten Buches" einen Freispruch ausstellt. Der Roman ist nicht nur für den norwegischen Autor ein ungewöhnliches Buch, sondern für die Literatur überhaupt "ohne Vorbild", staunt der Rezensent, der ihn als eine "Art Stundenbuch" charakterisiert. Was zunächst wie ein "wahlloses Sammelsurium" von Erzählungen, Bekenntnissen und Berichten wirkt, ist in Wahrheit äußerst kunstvoll zusammengestellt, betont Rathgeb. Er sieht hier die "Ästhetik gegen die Moral antreten" wobei er allerdings nicht mitteilt, in welcher Weise das geschieht und wer in diesem Wettstreit die Oberhand hat.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.06.2002

Nasse Post für einen Kriegsverbrecher
Dieser Mann hatte einen Humor, der sich auf Erden kaum mehr belangen ließ und der darum seine Gegner erbittern musste: Eine Neuausgabe von Knut Hamsuns erstaunlich heiterem Spätwerk
Einen einzigen international anerkannten Schriftsteller gab es, den die Nationalsozialisten für sich verbuchen durften: Knut Hamsun. Im Jahr 1943 flog er in Hitlers Privatmaschine zu einem Gespräch mit dem Führer nach Berchtesgaden. Hamsun wollte die Ablösung des brutalen deutschen Statthalters in Norwegen, Terboven, erreichen; dies verlangte er in forderndem Ton, er widersprach Hitler mit der Lautstärke des Schwerhörigen. Hitler, tief verärgert, brach die Audienz ab – eine unglaubliche Szene, nach deren Einzelheiten man begierig wäre: Wie verblüfft der Schreihals gewesen sein muss, als er dieses einzige Mal von einem anderen angeschrieen wurde!
Blindheit, heißt es, trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen. Aber Taubheit kann auch ein Mittel sein, das Verhältnis zur Welt ganz nach dem eigenen Bedarf zurecht zu schneiden. Sie half Hamsun auch später, als man ihn für sein Verhalten im Krieg zur Rechenschaft ziehen wollte. Er, der Goebbels wegen dessen idealischem Einsatz für die Menschheit seine Nobelpreis-Medaille geschickt und der sich verwundert gezeigt hatte, dass ein bestimmter jüdischer Literaturkritiker noch immer nicht erschossen war, gab nun zu Protokoll: „Und niemand sagte mir, dass es falsch sei, was ich schrieb, niemand im ganzen Land. Ich saß allein in meinem Zimmer, ausschließlich auf mich selbst gestellt. Ich hörte nicht, ich war sehr taub, man konnte sich nicht mit mir abgeben.”
So schreibt Hamsun in dem schmalen und erstaunlich heiteren Buch, das er über die für ihn überaus schwierige Zeit von 1945 bis 1948 verfasst hat. Damals hielt man ihn in diversen Heimen und Anstalten fest, während zugleich der Prozess gegen ihn vorbereitet wurde. Man hat es ihm sehr verübelt, dass er auf diese Weise davonzukommen suchte; selbst seine Bewunderer schmerzte es, dass er noch im höchsten Alter seinen Ruhm derart hatte besudeln müssen und die Schande sodann verdoppelte, indem er darüber hinwegging, als wäre nichts gewesen. Verantworten sollte er sich! Der sowjetische Außenminister Molotow erklärte Trygve Lie, dem aus Norwegen stammenden Generalsekretär der UNO, einen so großen Dichter stelle man doch nicht vor Gericht, worauf Lie erwiderte: „You are too soft, Mr Molotow.”
Es war gewiss das einzige Mal, dass jemand Molotow allzugroßer Weichheit beschuldigt hat. Am Ende jedoch konnte Norwegen sich weder zur Milde noch zur Härte durchringen: Hamsun war sein größter Sohn und die Schande seine eigene, und die Nation hätte unausweichlich auch über sich selbst Urteil oder Freispruch verhängt; beides schien heikel. Man tat also, was sich in solchen Fällen immer empfiehlt, man übergab ihn den Psychiatern, die wunschgemäß den politischen Kasus in einen klinisch-privaten verwandelten. Insgeheim hoffte man wohl, dass der fast Neunzigjährige darüber sterben möge. Hamsun vermerkt dazu mit der Schadenfreude der Zähigkeit, es könne ermüdend sein, auf den Tod alter Leute zu warten, wovon gewisse Erben ein Lied zu singen wüssten.
Es ist ein Ringen besonderer Art, das sich zwischen Hamsun und der Psychiatrie entspinnt. Der alte Mann fühlt sich entwürdigt durch eine Prozedur, die ihn so viel hilfloser macht als ein Strafprozess und erklärt, zwanzigmal lieber ließe er sich stattdessen in Ketten legen! „Professor Langfeldt konnte mit mir schalten und walten, wie es ihn gelüstete – und es gelüstete ihn sehr. ” Überfallartig gehen die Fragen nieder: Was ist 11 mal 12? Was ist der Unterschied zwischen einem Kind und einem Zwerg? Das Alter, erwidert Hamsun – was die Ärzte nur als Indiz der Senilität werten wollen und nicht als die Fähigkeit des Probanden, in seine Antwort mehr und anderes hineinzulegen, als der Fragende im Sinn hatte.
Der charmante Rechthaber
Das macht den Reiz und das Aufreizende dieses Buches aus: dass Hamsun auf die gestellte Frage durchaus nicht so eingeht, wie man es von ihm haben will. Was hat er zu seiner Verteidigung vorzubringen? „Mir strömt so viel zu, was ich zu meiner Verteidigung sagen könnte, aber ich schweige davon. Ich könnte zum Beispiel an die alten Norweger erinnern, die mit ausgestreckter rechter Hand grüßen, um zu zeigen, dass sie ohne Waffen kamen. Oder dass ich mit dem japanischen Minister in einem Fahrstuhl in Oslo stand und wir beide gleich höflich waren und keiner als erster aussteigen wollte. Auch bereue ich nicht, dass ich aufstand und meinen Platz einer Dame überließ, die in Versailles in die Straßenbahn gestiegen kam. Zwar standen sämtliche Herren auf, aber ich als erster. Sie war eine schöne alte Dame mit Witwenschleier und Perlenkette um den Hals, wahrhaftig vielleicht eine Herzogin von Geburt, sie hätte mich adoptieren können. Jedenfalls erteilte ich diesen Herren, den Franzosen, eine Lektion in Höflichkeit, die sie nicht vergessen werden, ich war der erste.” Wer hier dazwischenfahren und „Zur Sache!” rufen will, übersieht, dass Hamsun, obschon indirekt, sich sehr wohl zur Sache äußert. Es ist die Manifestation eines Charakters; es steckt in ihm zu viel anarchischer Eigensinn, als dass er je im Ernst der Faschist hätte sein können, als den man ihn bezichtigte.
In dieser Mischung von Rechthaberei und Galanterie stellt er sich dem Personenkreis dar, mit dem er es in seiner langen Halb-Haft vor allem zu tun hat, den Krankenschwestern und Pflegerinnen. Keine Seite ist für den Charme der anderen ganz unempfänglich. „Beide haben mir immer so schön meine Zeitungen gebracht, und wenn sie wieder gingen, blieb ein rotes Lächeln hinter ihnen auf der ganzen Treppe zurück.” Er geniert sich vor seinen jungen Besucherinnen, wenn sie ihn früh (er hört ja nicht das Klopfen!) noch ohne sein Gebiss ertappen. Allerdings gibt es auch solche, die den alten Kriegsverbrecher strafen wollen, indem sie ihm Suppe und Kaffee aufs Tablett verschütten und die Post durchnässen. Die Vorstellung hat etwas Lächerliches und Beschämendes. Hamsun versucht es zu verstehen: Der Weg zu ihm hinaus sei steil, da könne das schon passieren, besonders wenn man wütend ist. „So soll es sein, ich habe es verdient. Was ich so vom Tablett fische, trockne ich in der Sonne. Auch das ist gut so. Aber um die drei Schwestern ist es schade, jung und hübsch, wie sie sind, aber so schlecht erzogen.”
Lauter solche Kleinigkeiten sind es, von denen Hamsun spricht. Man kann ihm vorwerfen, dass er damit den großen Anklagen aus dem Weg geht; doch schickt er sich auf diese Weise in die Kleinheit, die sein Schicksal geworden ist. Ein gestürzter Herrscher ist er, ein König Lear; doch tobt er nicht auf der Heide, sondern geht im Garten spazieren und lässt die Demütigung, die ihm angesonnen wird, ins Leere laufen. Dies ist der Sinn des Titels: Auf überwachsenen Pfaden, das heißt, die einst angelegten Wege sind nicht so wichtig und kaum mehr zu erkennen, die Natur holt sich gleichmütig das Ihrige zurück und verwischt den gebahnten Willen. „Ich habe eine Zeichnung von Engström von vor fünfzig Jahren vor Augen: Ein uraltes Paar sitzt auf einer Gartenbank und schnarcht leise. Es ist Herbst. Er hat lange Bartstoppeln. Die Hände hat er um seinen Stab gelegt. Nun murmeln sie folgendes: Ich erinnere mich an ein Mädchen, das Emilie hieß. – Ach du, das war doch ich. – Ach, du warst das.” Diese eigentümliche Verschränkung von Treue und Vergessen erscheint dem Neunzigjährigen humoristisch. Es ist ein Humor, der sich auf Erden kaum mehr belangen lässt und der darum seine Gegner erbittern muss. Hamsun zieht es vor, davon nichts mehr wahrzunehmen. Ihm genügt es, wenn er ziemlich gegen Ende sagt: „Ich habe bei dieser Gelegenheit nur diese wenigen und einfachen Dinge zum Ausdruck bringen wollen, um nicht die ganze Zeit ebenso stumm zu sein, wie ich taub bin.”
BURKHARD MÜLLER
KNUT HAMSUN: Auf überwachsenen Pfaden. Roman. Deutsch von Alken Bruns, Nachwort von Heinrich Detering. List Verlag, München 2002. 182 Seiten, 17 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2002

Kokon aus Weisheit und Wahrheit
Genug gesät: Knut Hamsuns erzählerischer Prozeß gegen sich selbst

Hitler ist tot, und der alte Hamsun schreibt den Nachruf. Am 7. Mai 1945 erscheint er in der norwegischen Zeitung "Afterposten": "Ich bin dessen nicht würdig, mit lauter Stimme über Adolf Hitler zu sprechen, und zu sentimentaler Rührung laden sein Leben und seine Taten nicht ein. Er war ein Krieger, ein Krieger für die Menschheit und ein Verkünder des Evangeliums vom Recht aller Nationen. Er war eine reformatorische Gestalt von höchstem Rang, und es war sein historisches Schicksal, in einer Zeit der beispiellosen Rohheit wirken zu müssen, die ihn schließlich gefällt hat. So wird der gewöhnliche Westeuropäer Adolf Hitler sehen, und wir, seine treuen Anhänger, neigen nun unser Haupt angesichts seines Todes."

Jetzt greift die Polizei ein. Am 26. Mai 1945 stellt sie das Ehepaar Hamsun unter Hausarrest. Zwei Wochen darauf nimmt sie die beiden mit. Marie Hamsun wird ins Gefängnis geworfen, Knut Hamsun aufgrund seines Alters - er ist 86 Jahre alt - in ein Krankenhaus überführt. Die Anklage lautet auf Landesverrat und Anstiftung zu strafbaren Handlungen. Im September kommt Hamsun in ein Altersheim. Im Oktober wird der Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik in Oslo aufgefordert, ein Gutachten über den Dichter zu erstellen. Hamsun verbringt 119 Tage in der Klinik. Der Befund: Er sei nicht geisteskrank, seine geistigen Fähigkeiten aber seien nachhaltig geschwächt. Im Februar 1946 wird er aus der Klinik entlassen. Freiwillig geht er ins Altersheim zurück. Der Staat erklärt, daß die Anklage wegen dieses Befundes nicht mehr aufrechterhalten werde. Die Krone gibt nicht nach und klagt ihn wegen seiner Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei Norwegens an. Er wird Ende 1947 dazu verurteilt, eine Entschädigung zu zahlen. Seine Frau wird wegen ihrer Mitgliedschaft in der Nasjonal Samling und ihren Propagandaaktivitäten zu drei Jahren Zwangsarbeit und einer Geldstrafe verurteilt.

Der alte Hamsun döst nicht. Obwohl er fast taub ist und schlecht sieht, ist er hellwach. So ein Kerl wie er, hochgewachsen und selbstsicher, einer, der sich durchgeboxt hat und durch die Welt gekommen ist, gibt sich nicht einfach geschlagen. Am Lebensende angelangt, hat er einen wichtigen, seinen allerwichtigsten Streit auszufechten. Nicht mit dem Gericht, sondern mit sich selbst. Er hat 1917 für seinen Roman "Segen der Erde" den Literaturnobelpreis erhalten, er war einmal der Nationaldichter Norwegens gewesen. Doch auch wenn er das nicht mehr ist - er ist, das hofft er, ein Dichter, also einer, dem die Menschen komisch und tragisch und die Einrichtungen dieser Welt nicht geheuer sind und der deswegen allein ist und die Rechnung mit dem Leben mit seiner Kunst begleichen muß - und zwar auf eigene Verantwortung. Er möchte im Alter einen Schlußstrich ziehen und sehen, ob die Politik ihn hat Schulden machen lassen, ob er das Konto des Lebens überzogen hat und er sich deswegen dem Urteil der Mehrheit beugen muß - oder ob die Kunst ihn auslösen wird.

Seit Juni 1945 kritzelt er insgeheim an einem Buch. So etwas hat er noch nicht geschrieben und ist in der Literatur ohne Vorbild. Sein Buch ist weder ein Tagebuch noch eine Erzählung, weder ein Bericht noch ein Bekenntnis im engen Sinne. Es ist eine Art Stundenbuch, dessen Szenen uns in die hohe Einsicht einüben sollen, daß wir kleine Wanderer auf Erden sind. Das Buch erscheint Ende September 1949. Die ersten Auflagen werden rasch verkauft. Die deutsche Ausgabe kommt 1950 unter dem Titel "Auf überwachsenen Pfaden" heraus. Hamsuns letztes Buch ist nach 1945 der erste literarische Prozeß, in dem die Ästhetik gegen die Moral antritt, um die Ausnahme gegen den gesetzten Fall, um Schuld und Sühne des einzelnen gegen das Sündenregister der Mehrheit zu verteidigen.

Wir sehen einen freundlichen und hilflosen Greis, und dem Greis wird im Krankenhaus und im Altersheim, beim Facharzt und vor Gericht die Würde genommen. Der Alte verweigert die Aussage, dehnt seine Spaziergänge über die erlaubten Grenzen hinaus aus, kugelt sich ein. Selten stößt er auf einen Menschen, der diesen Namen verdient, weil er ihn grüßt - zwei, die wissen, daß sie ihren Weg durch die Welt allein finden und allein zu Ende gehen müssen. Mehr als Spuren, Scherben, Schnipsel und Abfälle aller Art werden vom lauten und selbstgewissen Leben nicht übrigbleiben. Da sitzt der Alte und schaut auf seine abgelaufenen Schuhe und weiß, daß keiner dem Gesetz des Lebens zuwiderhandeln kann, das wir in uns spüren und das uns vorantreibt, so wie damals in Amerika das Heimweh in seinem Herzen zu brennen anfing und ihn nach Hause zurückzog.

Um sich dort am Ende der Wanderschaft vor einem Gericht zu beugen und Rede und Antwort stehen zu müssen? Niemals. Der Greis bleibt stur, duckt sich nicht, wehrt sich. Der Brief, den er an den Obersten Ankläger schreibt, ist hochfahrend, und die Rede, mit der er auf den Vorwurf der Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei Norwegens reagiert und die er hier ebenfalls einschiebt, von unangreifbarem Gleichmut.

Was entsteht, das vergeht auch wieder. Die Bäume wachsen und verdorren, Menschen leben und sterben, und über alles legt sich die dicke Decke des Vergessens. Hamsun gibt sich schlicht und etwas einfältig. Doch er ist raffiniert. Was auf den ersten Blick wie ein schmales wahlloses Sammelsurium von Erlebnissen, Berichten, Bekenntnissen und Erzählungen aussieht, das entpuppt sich als ein kunstvoller Kokon aus Weisheit und Wahrheit, aus prosaischer Selbstsicherheit und poetischer Weltendemut, in den sich der Alte einspinnt - in der Hoffnung, daß aus diesem Kokon schließlich der Dichter Hamsun wie ein Schmetterling krabbelt und in den blauen Himmel davonflattert.

Der letzte Satz lautet: "Heute hat das Oberste Gericht geurteilt, und ich höre auf zu schreiben." Nicht nur das Gericht, auch Hamsun hat ein Urteil über Hamsun gefällt: Schreibverbot. Der Dichter hat sich selbst auf die Länge seines letzten Buches hin freigesprochen. Der Arm des Gesetzes und der Moral reicht in die Welt der Kunst und des Kosmos nicht hinauf. Der Schriftsteller hat sich in die Kette des Seins eingeklinkt: Gras wird die Geschichte überwuchern und wird darüber wachsen, worüber sich die Mitwelt erregt. Doch Hamsun ist klug, er kann sich nichts vormachen: Das Gras der kunstfertig verschlungenen "überwachsenen Pfade" ist nur auf höchst künstliche Weise natürlich. Wir müssen uns den alten Hamsun als einen Wanderer vorstellen, der weiß, daß er das Gras selbst sät, das die Pfade, auf denen er ging, überwuchern soll. Und deswegen hört er, als das Gerichtsurteil gefällt ist, auch mit dem Schreiben auf - mit dem Säen, mit dem Dichten.

EBERHARD RATHGEB.

Knut Hamsun: "Auf überwachsenen Pfaden". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Alken Bruns. Mit einem Nachwort von Heinrich Detering. List Verlag, München 2002. 182 S., geb., 17,- [Euro].

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