Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 30,60 €
  • Broschiertes Buch

Unter einem "modernen Recht" verstehen wir eine Rechtspraxis, zu deren Blickwinkel nicht nur Texte gehören, sondern auch Ereignisse, ein Rechtsbewußtsein, das sich der Wechselwirkung der Rechtsnormen mit sozialen Normen und mit politischen Entwicklungen bewußt ist und sich deshalb dieser Zusammenhänge systematisch vergewissert. Aus der Geschichte der Modernisierung des Rechts kann man lernen, daß Modernisierungsprozesse sich erst nach und nach formieren, daß sie erst spät ans Licht kommen, daß sie, widersprüchliche Züge haben können, die sich nicht zueinander fügen. Sie bedürfen einer…mehr

Produktbeschreibung
Unter einem "modernen Recht" verstehen wir eine Rechtspraxis, zu deren Blickwinkel nicht nur Texte gehören, sondern auch Ereignisse, ein Rechtsbewußtsein, das sich der Wechselwirkung der Rechtsnormen mit sozialen Normen und mit politischen Entwicklungen bewußt ist und sich deshalb dieser Zusammenhänge systematisch vergewissert. Aus der Geschichte der Modernisierung des Rechts kann man lernen, daß Modernisierungsprozesse sich erst nach und nach formieren, daß sie erst spät ans Licht kommen, daß sie, widersprüchliche Züge haben können, die sich nicht zueinander fügen. Sie bedürfen einer permanenten sorgfältigen Beobachtung und der wachen Bereitschaft, Entwicklungen zu markieren und notfalls aufzuhalten. "Modernisierung" tritt in der Theorie und in der Praxis des Rechts heute in vielen Erscheinungsformen auf. Sie werden in diesem Band präsentiert. Sie reichen von Rechtsgebieten über rechtliche Instrumente bis hin zu Problemkonstellationen. Der Gehalt und die Botschaft der Konzepte von Menschenwürde, Freiheit, Verfassung und Rechtsfindung werden im Zuge der Modernisierung des Rechts belebt durch neue Fragen, die sich an sie richten, und bekommen die Chance, neue Antworten zu finden. Und der neue Fokus der Informationsgesellschaft zeigt, daß er ohne überkommene Prinzipien und Denkformen nicht zu begreifen ist.
Autorenporträt
Winfried Hassemer, geboren 1940, ist emeritierter Professor für Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 1991 bis 1996 war er Hessischer Datenschutzbeauftragter. 1996 wurde Hassemer zum Richter des Bundesverfassungsgerichts berufen. Von 2002 bis 2008 war er Vorsitzender des Zweiten Senats und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Winfried Hassemer wurde vielfach ausgezeichnet mit Ehrendoktorwürden internationaler Universitäten. Winfried Hassemer verstarb im Januar 2014.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2007

Wenn Theorie und Praxis einander anschweigen
Erst in der Problemzuspitzung liegt der Erkenntnisgewinn: Winfried Hassemer fragt, wie es um unser modernes Recht bestellt ist

Zu den Ironien des Dialogs zwischen juristischer Theorie und Praxis gehört es, dass die Theoretiker, die die Praxis am kategorischsten entlarven, von dieser am wenigsten mitbekommen. Das Urteil ist gefällt - und weil es theoretisch so konsistent ist, kann es durch keine Erfahrung mehr in Frage gestellt werden: Wer die Phänomene durchschaut, kann sie nicht mehr sehen. Auf der anderen Seite stehen die Praktiker, die nicht selten einen Bauchladen aus Anekdotik und Metaphorik vor sich hertragen: Gegen jedes Argument setzt der Praktiker seine Geschichte und sein treffendes Bild. Er steht unmittelbar zur Rechtswirklichkeit und will sich dieses Privileg nicht mehr durch theoretische Naseweisheit verderben lassen. So haben Theorie und Praxis einander nur noch wenig zu sagen.

Vor diesem Hintergrund bereitet es ein seltenes Vergnügen, die im vorliegenden Band zusammengestellten Beiträge von Winfred Hassemer zu lesen. Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Frankfurt am Main, sammelt hier Aufsätze, Zeitungsartikel, Reden und (recht wortkarge) Interviews aus den letzten sieben Jahren. Der Band steht bei unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad der Beiträge allen offen, die sich für Probleme des Rechts interessieren.

Er beginnt mit einem kurzen Vorwort, seinem einzigen Originalbeitrag, in dem Hassemer die thematisch vielfältigen Überlegungen mit dem Begriff der Modernisierung des Rechts zu fassen sucht. Modernisierung des Rechtsdenkens besteht für Hassemer in der Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Recht und seinem gesellschaftlichen Umfeld permanent zu beobachten - eine Beobachtung, bei der die empirischen Sozialwissenschaften die Rechtswissenschaft zu unterstützen haben. Diesen Anspruch auf Realismus verbindet er mit einem Bekenntnis zur juristischen Hermeneutik, also zu einem Verständnis juristischer Methode, das sich gegen die Vorstellung richtet, juristische Argumente ließen sich einfach begrifflich herleiten. Für die Hermeneutik ist die tatsächliche Seite eines Falles von vornherein Teil seiner Lösung. Die Verbindung zwischen beiden Linien versteht sich nicht von selbst. Viele Spielarten juristischer Hermeneutik können mit empirischer Gegenwartsbeschreibung eher wenig anfangen. Beide Ausgangspunkte sind nicht unumstritten. Vieles spricht für Alexander Kluges Feststellung, Jurisprudenz sei Realitätsentzug, und damit auch für eine Rechtswissenschaft, die sich gegenüber dem, was allgemein als Realität wahrgenommen wird, zu distanzieren weiß. Über die Ausgangspunkte von Hassemers Beiträgen könnte man streiten, er selbst begründet diese kaum, überzeugend aber ist, was er aus ihnen macht.

Innerhalb eines Vierecks aus juristischer Methodenlehre, gesellschaftlicher Modernisierung, Verfassungsrecht und Strafrecht untersuchen die Beiträge unter anderem die Grenzen der Auslegung der Menschenwürdegarantie, den Begriff der Selbstbestimmung im Recht, die demokratische Legitimation des Bundesverfassungsgerichts oder das staatsrechtliche Gebot religiöser Toleranz.

Hassemer ist ein Theoretiker der Praxis. Er greift sich ein Problem aus der theoretischen Perspektive, spitzt es zu und zeigt auf, in welchen Anwendungszusammenhängen die juristische Argumentation auszufransen beginnt. So halten seine Beiträge zumeist keine Antworten bereit, sie enden vielmehr nicht selten durchaus aporetisch. Aber in der Problemzuspitzung selbst liegt der Erkenntnisgewinn, wenn nicht die Rationalität juristischer Argumentation selbst. Ungewöhnlich ist dabei, dass Hassemer seinen ausgeprägten Sinn für die Grenzen juristischer Argumentation mit einem ungebrochenen Vertrauen in die Rationalität juristischer Argumente innerhalb dieser Grenzen verbinden kann. So fällt es ihm leicht, methodische Fehler bei der Rechtsanwendung konkret zu identifizieren, am liebsten in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen. Dennoch hält er daran fest, dass diese negative Grenzziehung juristischer Argumentation nicht hinreicht, um jeden Fall eindeutig zu lösen. Dass ein amtierender Bundesverfassungsrichter damit auch sein ganz eigenes Darstellungsproblem bewältigt, nämlich über das geltende Recht zu schreiben, ohne Fälle, die er potentiell entscheiden muss, zu erwähnen, sei dabei nur am Rande erwähnt.

Je klarer Hassemer diese Zuspitzung gelingt, desto lehrreicher werden seine Beiträge: weniger überzeugend bei der Frage nach der demokratischen Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, die aber immerhin einmal gestellt wird, deren Behandlung aber doch arg allgemein bleibt. Interessanter bei der Analyse des Rechtsmissbrauchs im Strafprozess, einer Figur, die schon in sich einen praktisch kaum auflösbaren Widerspruch enthält.

Im vielleicht interessantesten Beitrag des Bandes geht er das Problem direkt an. Sein vor dem "Intradisziplinären Forum Franken" gehaltener Vortrag über "Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik" arbeitet sich durch die juristische Methodenlehre durch, um am Ende die Rationalität juristischer Argumentation nicht mehr in allgemeinen Auslegungsregeln, sondern in den spezifischen Dogmatiken verschiedener Rechtsgebiete zu entdecken.

Theorie und Praxis werden in diesen wachen Überlegungen nicht gegeneinander ausgespielt, aber eben auch nicht in illusorischer Harmonie zusammengeleimt. Gerade wer zentrale Voraussetzungen des Bandes nicht teilt, kann etwas lernen, um sich vielleicht daranzumachen, Gegenmodelle auf ähnlichem Niveau zu präsentieren.

CHRISTOPH MÖLLERS

Winfried Hassemer: "Erscheinungsformen des modernen Rechts". Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2007. 263 S., geb., 39,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Kluft zwischen Theorie und Praxis reißt der Autor nicht unnötig weiter auf. Dem Rezensenten Christoph Möllers gefällt das. In Winfried Hassemers Textsammlung sieht er die seltene Chance für alle Interessierten, juristische Argumentation in Anwendungskontexten zu betrachten, ohne dabei den Zwang zu eindeutigen Antworten spüren zu müssen. Aporetisches, so legt Möllers nahe, kann Erkenntnisgewinn bedeuten, dann nämlich, wenn es durch "wache Überlegungen" und mit einem Händchen für "Problemzuspitzung" herbeigeführt wird, wie bei diesem Autor.

© Perlentaucher Medien GmbH