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Produktdetails
  • Verlag: Kindler
  • Seitenzahl: 382
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 628g
  • ISBN-13: 9783463403922
  • ISBN-10: 3463403927
  • Artikelnr.: 25090876
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2000

Fragen Sie die Nation der Blütenfachleute
Florian Coulmas forscht nach dem Verbleib der japanischen Folklore

Die Verwestlichung bewirkte in Japan eine alle Ebenen erfassende Beschleunigung und bewußte Verwaltung der Zeit. Enthielten die Vorschriften für Pferdefahrzeuge der Stadt Tokio 1870 noch die Anweisung, beim Entgegenkommen von Adligen, Beamten und Militärs auszusteigen und sich korrekt zu verbeugen, so führten der Ausbau der Eisenbahnlinien und die moderne Taktung des Tages zu einer neuen Qualität des temporalen Milieus. Die Umstellung vom traditionellen Mond- auf den Sonnenkalender 1873 und der Wechsel von den zwölf Intervallen des Tierkreises zum Vierundzwanzigstundentag synchronisierten Japan mit dem Westen.

Die sogenannte "Zivilisationserneuerung" stieß nicht auf ungeteilte Gegenliebe. "In keinem Haus darf sie fehlen, die Uhr, die vierundzwanzig Stunden anzeigt, diese Maschine, nach der die Menschen sich bei ihren täglichen Geschäften nach der Erdumdrehung richten, wie von der westlichen Lehre erklärt", heißt es bereits 1878 in der Karikatur "Tadel der Geschäftigkeit der Welt" von Shinsai Tadashi. "Jeder Müßiggang wird vermieden, alles werkelt und dreht sich emsig im Kreis der rotierenden Welt."

Westliche und fernöstliche Chronologien und Denkkategorien, Lebensrhythmen und Philosophien überlagerten einander, zugleich wurde der zwischenmenschliche Umgang neu kodiert. Diese scheinbar konträren Zeitstränge und Geistesströmungen laufen, so der Ansatz einer neuen Arbeit von Florian Coulmas, in der heutigen japanischen Geschwindigkeitsgesellschaft zusammen.

In der von der Idee der Transzendenz weniger geprägten japanischen Geistesgeschichte sei die Zeit nicht als Zentralproblem von Metaphysik und Ontologie, sondern als Koordinate der irdischen Natur vor allem in ihrer Bedeutung für den Menschen relevant. Der Topos der Unbeständigkeit nimmt in der kanonisierten Kulturtradition eine herausragende Stellung ein. Die höfische Literatur der Heian-Zeit fühlt sich dem Ideal des "mono no aware" (der Erbärmlichkeit der Dinge) verpflichtet; Holzschnitte der Edo-Zeit zeigen Momentaufnahmen der "flüchtigen Welt" (ukiyo).

Die Moderne stellte nun jener buddhistisch inspirierten, "mit der natürlichen Zeit assoziierten Vergänglichkeit" eine vom Menschen geschaffene Alltagsordnung gegenüber. Die Emanzipation der Zeit der Gesellschaft von der Zeit der Natur, so Coulmas zentrale Aussage, vollzog sich im Prozeß der Modernisierung schneller auf mechanischer als auf geistiger Ebene. Ausführliche Wetterberichte und Nachrichten von der "Kirschblütenfront" im Fernsehen, das von Coulmas anhand verschiedener Beispiele analysierte Vokabular der Vergänglichkeit (Tau, Herbstwind, Zugvögel) in Schlagertexten oder auch Briefgrußformeln wie "vom Gezirp der Insekten ist die Luft erfüllt", haben heute eher ästhetisch-symbolische als funktionale Gründe und vermitteln der städtischen Bevölkerung die Illusion eines Lebens am Puls der Natur.

Nach der systematischen Formierung und Koordination eines modernen Staates erkennt der Autor eine paradoxerweise mit den Möglichkeiten von High Tech und digitaler Vernetzung vorangetriebene "Entsynchronisierung" weiter Bereiche des beruflichen und sozialen Lebens. Als Indiz für die Reindividualisierung der Zeit nennt Coulmas das Phänomen der landesweit 50 000 "konbini" (eine Adaption der englischen Bezeichnung convenience stores), die Tag und Nacht Waren und alle Arten von Service feilbieten.

Doch selbst im durchrationalisierten Gemeinwesen von Japan bleibt Platz für Mythen und Anachronismen. Die Glücks- und Unglückstage des ursprünglich chinesischen Sechstagezyklus Rokuyo kehren auch im 21. Jahrhundert wieder. So finden am "Tomobiki" (wörtlich "den Freund mitziehen") in ganz Japan keine Trauerfeiern, am Glückstag "Taian" hingegen mit Vorliebe Hochzeiten statt. Schließlich erörtert Coulmas die aus der rationalen Zeit enthobene Sicht der japanischen Geschichtsschreibung am Beispiel der mythologischen Rückführung der Linie der kaiserlichen Dynastie auf die Sonnengöttin Amaterasu.

Die hochästhetische japanische Kultur ist auf den ersten Blick im hohen Tempo der Verhaltensweisen, Dienstleistungen und Fertigungsverfahren aufgegangen. Doch "über der kulturneutral präzise gemessenen", so die in seiner vielschichtigen Studie eindrücklich illustrierte These von Florian Coulmas, "liegt eine folkloristische Zeit".

STEFFEN GNAM

Florian Coulmas: "Japanische Zeiten". Eine Ethnographie der Vergänglichkeit. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 382 S., Abb., geb., 49,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Steffen Gnam nimmt das Buch, das sich mit der im Zuge der Verwestlichung veränderten Zeitauffassung in Japan beschäftigt, mit Interesse zur Kenntnis. Er stellt fest, dass sich in Japan die traditionelle und die westliche Zeitrechnung überlagert haben und macht als Hauptanliegen der Arbeit die These von der Vermischung der "scheinbar konträren Zeitstränge und Geistesströmungen" aus. Der Autor zeige, dass in der durchrationalisierten Gesellschaft Japans immer noch Raum für "Mythen und Anachronismen" sei, wie er anhand der japanischen Vorliebe für Glücks- und Unglückstage des traditionellen Sechstagezyklus und der Geschichtsschreibung nachweise, so der Rezensent fasziniert. Er findet, der Autor hat seine These "eindrücklich illustriert" und lobt die Studie für ihre Vielschichtigkeit.

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