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Zwischen real und digital: Wo bleibt da die Liebe?
Was passiert, wenn die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen? Wenn das Lesen im Netz das tatsächliche dominiert? Mit seinem unverwechselbarem Sinn für Humor und seinem scharfen Blick fürs Detail geht Arnon Grünberg in seiner Novelle genau diesen Fragen auf den Grund.Lillian, Anfang zwanzig ist ein weiblicher Nerd. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ist übergewichtig und alltagsuntauglich. Ihr wahres Leben findet im Netz statt. Dort sind auch ihre Freunde, der wichtigste ist Banri Watanuki. Das Chatten mit ihm hilft Lillian,…mehr

Produktbeschreibung
Zwischen real und digital: Wo bleibt da die Liebe?

Was passiert, wenn die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen? Wenn das Lesen im Netz das tatsächliche dominiert? Mit seinem unverwechselbarem Sinn für Humor und seinem scharfen Blick fürs Detail geht Arnon Grünberg in seiner Novelle genau diesen Fragen auf den Grund.Lillian, Anfang zwanzig ist ein weiblicher Nerd. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ist übergewichtig und alltagsuntauglich. Ihr wahres Leben findet im Netz statt. Dort sind auch ihre Freunde, der wichtigste ist Banri Watanuki. Das Chatten mit ihm hilft Lillian, auch in der Außenwelt besser zurechtzukommen. Sie lebt ein fast normales Leben, bis sie eines Tages glaubt, in ihrem Kollegen Seb ihren Cyber-Freund Banri Watanuki wiederzuerkennen ...Ein beeindruckender Text über digitale und analoge Welten - und über die Liebe, die sich zwischen allen Einsen und Nullen immer noch ihren Weg bahnt.
Autorenporträt
Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurt Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint in 27 Sprachen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2017

Ein Trojaner namens Christus
Der niederländische Autor Arnon Grünberg begibt sich in seiner Novelle „Die Datei“ in die Welt der Nerds,
verwandelt Facebook in ein Mordinstrument und koppelt das Schreiben an ein Cyberlabor
VON JÖRG MAGENAU
Lillian leidet unter einer Menschenallergie. Berührung kann sie nicht ertragen. Sie träumt von einer virtuellen Zukunft, in der das körperliche Dasein keine Rolle mehr spielt. „Man braucht Menschen nicht zu begegnen, um ihre Liebe zu empfinden“, sagt sie. Ihre Eltern – ein Biologielehrer und eine Sozialarbeiterin – bringt sie mit ihrer abweisenden Art zur Verzweiflung. Sie ist für ihre Mitmenschen nicht mehr erreichbar. Ihre große Liebe Banri Watanuki ist eine Online-Existenz mit fragwürdigem Realitätsstatus. Vielleicht gibt es ihn gar nicht, vielleicht auf einem anderen Kontinent. Aber er ist immer für sie da und versteht sie wie keiner sonst.
Lillian ist Anfang zwanzig und die Hauptperson in Arnon Grünbergs Novelle „Die Datei“. Als literarische Figur ist sie selbst nicht ganz aus Fleisch und Blut. Doch Arnon Grünberg, 1971 in Amsterdam geboren, ist ein Autor, der seine literarischen Tableaus mit großer Sorgfalt wirklichkeitsgetreu gestaltet. Zweimal war er „embedded“ im Irakkrieg, um darüber zu berichten. Wenn er über Schlachthäuser schreibt, dann arbeitet er zuvor als Schlachter, um zu wissen, wie sich das anfühlt. Und wenn es, wie in seinem letzten Roman „Muttermale“, um Borderliner in der Psychiatrie geht, dann lässt er sich in eine Psychiatrie einweisen und erlebt hautnah, wie man dort behandelt wird.
Man kann also davon ausgehen, dass Grünberg sich für die Novelle „Die Datei“ sehr genau im Milieu der Computer-Nerds umgesehen hat, die ihre Zeit ausschließlich vor dem Bildschirm in ihrer eigenen, virtuellen Wirklichkeit verbringen und sich dort in ihren Wahnsystemen verheddern. Denn alles, was sich im Netz ereignet, ist von größerer Dringlichkeit als die „unbedeutende Wirklichkeit“ der realen Welt mit all ihren Zumutungen. Das ist, strukturell gesehen, eine technisch generierte, neue Form althergebrachter Religiosität, die sich in höheren geistigen Sphären wähnt, während sie das lebendige, leibliche Dasein als Last empfindet. Menschen ansehen oder von ihnen gesehen zu werden, ist für Lillian eine Pein. Sie kann das nur auf dem Umweg über den Bildschirm.
Dass allerdings auch dieses aseptische, autistische Dasein nicht unschuldig ist, ergibt sich aus der ersten, in einer Rückblende erzählten Geschichte. Da gerät Lillian in Kontakt zu einem militanten Veganer und Tierschützer, der sie zu einer Befreiungsaktion in einem Labor überreden will. Weil sie sich aber weigert, bei dieser Aktion mitzumachen – Wirklichkeit ist nichts für sie –, schickt er ihr immer neue Drohmails und lässt erst wieder von ihr ab, nachdem sie ihm ein Foto von ihrem Geschlechtsteil geschickt hat. Spätestens da zeigt sich, dass das Leibliche auch im virtuellen Raum nicht auszuschalten ist. Auch von der Pervertierung des Begehrens auf den Pornoseiten handelt „Die Datei“.
Lillian rächt sich grausam an diesem Mann, indem sie ihn zusammen mit Internet-Freunden auf seiner Facebook-Seite und bei all seinen Mailkontakten als Päderasten bloßstellt. Die Nachricht, dass er, der als netter Familienvater und Verwaltungsmensch gegolten hatte, kurz darauf gegen einen Baum fuhr, bringt Lillian zu der Erkenntnis, dass sie zwar noch Jungfrau ist, aber doch schon einen Menschen getötet hat. Schuldig fühlt sie sich deshalb nicht. Es ist eher ein Triumphgefühl: „Das Töten schuldiger Menschen war besser als Sex. Intensiver, bedeutungsvoller, seltener und letztlich auch nobler.“
Die eigentliche Geschichte setzt erst danach ein, als Lillian, aufgefordert von Banri Watanuki, sich in einer Firma bewirbt, die Sicherheitslücken bei Unternehmen oder Regierungsinstitutionen aufspürt und die entsprechenden Abschottungsprogramme liefert. Hier lernt sie einen dicken, pickligen, ungewaschenen Jungen kennen, der außer seiner Arbeit nichts hat als eine Wohnung mit fünf Katzen, die er liebt, weil Katzen besser sind als Menschen.
Sie hält diesen Jungen für Banri, und er lebt im Wahn, „übernommen“ worden zu sein und von „denen“ fremdgesteuert zu werden. Was sich zwischen ihm und Lillian als zwei Unnahbaren und Unberührbaren entwickelt, ist die wohl bizarrste Liebesgeschichte, die man sich vorstellen kann. Sie gipfelt darin, dass er mit ausgestrecktem Zeigefinger ihr Schienbein streichelt – das ist die einzige Stelle des menschlichen Körpers, die er für perfekt hält. Und die Szene ist zugleich der Höhepunkt an Intimität, den Grünberg seinen Figuren zubilligt.
Zugleich gerät Lillian aber auch in den libidinösen Einflussbereich ihres Chefs, der insgeheim an einem Computervirus namens Christus arbeitet, mit dessen Verbreitung die bestehende Ordnung ausgehöhlt und vernichtet werden soll. Nerds sind Widerständler der besonderen Art, die keine bessere Welt wollen, sondern gar keine, und deren einziges Programm in dem Hohngelächter besteht, das sie anzustimmen pflegen, wenn sie wieder einmal irgendwo eingedrungen sind.
Grünbergs Geschichte ist aberwitzig und voller Abgründe. Ihr Reiz besteht darin, dass Wahn und Wahrheit darin ununterscheidbar werden. All die Trojaner, Würmer, Bedrohungen gibt es ja, sodass auch die Paranoia der Computerfreaks durchaus real ist. Die Wirklichkeit, in der sie sich bewegen, hat viele Netze und keinen Ausweg. Und sie hat einen doppelten Boden. Grünberg schrieb „Die Datei“ im Rahmen eines Experiments. Während der Arbeit an diesem Text ließ er seine Gehirnströme von Neurowissenschaftlern der Universität Amsterdam erfassen. Auf der Frankfurter Buchmesse 2016 konnten Besucher in einem eigens eingerichteten Labor ihre Hirnaktivität während der Lektüre messen lassen. Also handelt es sich tatsächlich um ein Stück Literatur aus dem Cyberlabor. Beigegeben ist ihm in der deutschen Ausgabe noch eine kleine Erzählung, „Die zweite Datei“, in der Grünberg die Geschichte von Lillian weiterschreibt. Immer noch wartet sie darauf, dass „Christus“ endlich seine Wirkung entfaltet, aber die Sache ist wohl deshalb schiefgegangen, weil das Virus so gut getarnt ist, dass niemand es bemerkt. Lillian versöhnt sich unterdessen mit ihrer Mutter, indem sie ihr automatisch generierte SMS-Botschaften schickt, die Zuneigung simulieren und in der Mutter die Hoffnung entstehen lassen, ihre Tochter wiederzufinden. Nach dem großen Hirn-Experiment ist diese Variation aber nur eine kleine Fingerübung.
Während der Arbeit an diesem
Text ließ der Autor seine
Gehirnströme erfassen
Wissenschaftler betrachten Schichtaufnahmen eines Gehirns, die mit einem modernen Magnetresonanztomografen aufgenommen worden sind.
Foto: dpa
Arnon Grünberg: Die Datei und Die zweite Datei.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
204 Seiten, 8,99 Euro.
E-Book 6,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Ein unterhaltsames Buch, das einen etwas wacher zurücklässt und Nerds zeigt, die man nicht einfach als weltfremd belächeln sollte.« Tageblatt, Luxemburg 20171219