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Die Erinnerungen eines großen Humanisten Dass er als Sohn einer jüdischen Mutter davonkommen würde, war unwahrscheinlich. Wie er dennoch davonkam, und das immer wieder, darüber legt der Journalist, Fernsehautor und Schriftsteller Ralph Giordano in der Mitte seines neunten Lebensjahrzehnts nun Zeugnis ab - engagiert und kämpferisch wie eh und je.
Es ist atemberaubend, mitzuerleben, wie der Zehnjährige 1933 über Nacht konfrontiert wird mit einer Macht, vor der bald schon die Welt zittern wird. Unter welchem Druck muss ein Siebzehnjähriger stehen, der das Leben der geliebten Mutter beenden
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Produktbeschreibung
Die Erinnerungen eines großen Humanisten Dass er als Sohn einer jüdischen Mutter davonkommen würde, war unwahrscheinlich. Wie er dennoch davonkam, und das immer wieder, darüber legt der Journalist, Fernsehautor und Schriftsteller Ralph Giordano in der Mitte seines neunten Lebensjahrzehnts nun Zeugnis ab - engagiert und kämpferisch wie eh und je.

Es ist atemberaubend, mitzuerleben, wie der Zehnjährige 1933 über Nacht konfrontiert wird mit einer Macht, vor der bald schon die Welt zittern wird. Unter welchem Druck muss ein Siebzehnjähriger stehen, der das Leben der geliebten Mutter beenden will, um ihr ein schlimmeres Schicksal zu ersparen? Und wie lässt sich ein sich immer noch steigernder Schrecken aushalten, bis der Zweiundzwanzigjährige erlebt, woran er nicht mehr geglaubt hat: die Befreiung? Dennoch wird eines im Leben dieses Aufklärers bleiben - die Konfrontation mit Mächten, von denen die ganze Welt berührt wird, mit Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus und Islamismus. Ein Leben übrigens, das sich erst in der zweiten Hälfte voll entfaltet.

Hier wird ein Zeitalter besichtigt, widergespiegelt in der Biographie eines Mannes von unerschöpflicher Kreativität und Aktivität. So werden wir Zeugen, wie der Schwur, Deutschland zu verlassen, allmählich dahinschmilzt und der Verfolgte von einst Anteilnahme empfindet für Menschen, die in den bedrohtesten Jahren seines Lebens auf der anderen Seite gestanden hatten. Und wie er hartnäckig um ein schwer erreichbares Ziel kämpft - Zugehörigkeit. Dass er dabei seinen Humor nicht verliert, ist eines von vielen Wundern.

Bei aller politischen Durchdringung dieses Daseins aber ist es ein ganz und gar persönliches Buch, das Schlüsseldokument eines unvergleichlichen Lebens, die Bilanz eines großen Humanisten - Ralph Giordanos "Erinnerungen eines Davongekommenen".
Autorenporträt
Giordano, Ralph
Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Nach der Befreiung am 4. Mai 1945 durch britische Truppen arbeitete er als Journalist und Publizist, als Fernsehdokumentarist und Schriftsteller. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davon - gekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010). Er starb am 10. Dezember 2014 in Köln.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2007

Ergreifende Verblendung
Die Genese einer Institution: Ralph Giordanos Autobiographie
In fünf Leben teilt Ralph Giordano seine Autobiographie, als ginge er in einem langen Gebäude von Saal zu Saal, und das deutlich gegliederte äußere Bild scheint ihm recht zu geben: An eine unbeschwerte Hamburger Kindheit („Elysium”) schließt sich die Zeit der Verfolgung als Halbjude („Hiob”) an, daran die Nachkriegszeit samt seiner langen Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei („Irrtum und zweite Schuld”), dann folgt seine Tätigkeit als Reporter des westdeutschen Fernsehens, die ihn über den ganzen Globus führt, („Fasten your seatbelt”) und schließlich das Alter, das er nicht als Abenddämmerung erlebt, sondern in dem ihm die wahre Befreiung seiner produktiven Kräfte widerfährt („Der Kreative Kreisel”).
Der Titel aber widerruft die schöne Reihe: „Erinnerungen eines Davongekommenen”, da hat auf einmal nur noch die zweite Phase Gewicht; sie verschlingt in sich die paradiesische Vergangenheit und beschädigt den Überlebenden für die Zukunft so schwer, dass sein ganzes weiteres Leben dem nicht mehr entrinnen wird und in alle Bewegung ein gefrorener Stillstand einzieht: Diese Zeit mag so lang her sein wie sie will, vorbei sein wird sie nie. Als Menetekel erfährt es Giordano, dass ein Freund mit ähnlichem Schicksal noch dreißig Jahre später Selbstmord begeht.
Ihn selbst überkommt jedesmal, wenn er ein Flugzeug besteigt, Panik vor der geschlossenen Kabine, und so sicher er weiß, dass der Fall völlig anders liegt als bei der Zelle der Hamburger Gestapo, in der er misshandelt wurde, dieses Wissen hilft ihm nicht; es wird damit im Lauf der Zeit nicht besser, sondern schlimmer, schließlich muss er die Flugreisen – und damit einen guten Teil seines bisherigen Berufs – aufgeben.
Beklemmend stellt Giordano dar, wie das elysische Licht der Kindheit sich schrittweise verdunkelt. Die Familie, die sich fest in der deutschen Nation angekommen wähnt, höchstens sentimentale Beziehungen zu ihren jüdischen Wurzeln pflegt, Weihnachten mit Christbaum feiert und dazu ohne den Hauch eines schlechten Gewissens einen fünfzehnpfündigen Schweinebraten vertilgt, wird in kleinen traumatischen Schritten aus ihrem gesellschaftlichen Urvertrauen gedrängt. Bei einem Strandaufenthalt an der Elbe taucht ein gutgekleideter Herr mit großem Hund auf, offenbar reiner Privatmann, und erklärt: „Ich gebe Jerusalem zehn Minuten zu verschwinden, sonst . . . ” Die Familie verschwindet. In dieser Zeit geht Ralph, ohne es zu wollen und zu wissen, herum wie ein wandelnder Prüfstein: Jeder muss seine Entscheidung treffen, ob er ihm gehässig schaden will, ob er sich neutral verhält oder, oft unter eigener Gefahr, hilft. Es finden sich überraschend viele Helfer; am energischsten und wirkungsvollsten, aber ganz unspektakulär hilft die Nachbarin, die in den letzten Kriegsmonaten die ganze Familie, fünf Mann hoch, in ihrem Keller versteckt.
Diese Phase ist die grässlichste. Es handelt sich um ein enges, feuchtes Loch voller Ratten, die Familie muss, oft in absoluter Finsternis, sich tagsüber, während die Nachbarin arbeiten geht, völlig still verhalten. Einer, meist Ralph, muss auch nachts immer wach bleiben, für den Fall, dass der jüngste Bruder wieder schreiend aus seinen Alpträumen fährt oder die Mutter einen ihrer schrecklichen Hustenanfälle erleidet: Dann wirft er sich blitzartig mit einer Decke über den Ruhestörer und erstickt jedes Geräusch.
Tödlich bedroht ist vor allem die reinjüdische Mutter. Ihr Sohn Ralph hat sich tollkühn einen Revolver besorgt, und ausgemacht ist, dass er sie im Fall einer Entdeckung sofort erschießen wird, um ihr die Deportation zu ersparen. Eines Tages sind in der Wohnung der Nachbarin zwei Männerstimmen zu hören, gleich darauf ertönt aus ihrer Kehle ein Schrei; zweifellos sind sie entdeckt. Die Mutter hält den Hals hin, der Sohn schiebt das Haar beiseite und setzt die Waffe an – da kommt die Nachbarin hereingestürzt: Es ist bloß ihr Mann an der Front gefallen, diese Nachricht hat sie gerade erhalten und deswegen geschrien; eben noch wird der Schuss vermieden. Die Szene ist darum so entsetzlich, weil sie eine so ungeheure Erleichterung bewirkt.
Nachdem man diese Dinge gelesen hat, die einem den Atem verschlagen, geht es einem bei der weiteren Lektüre wie dem Davongekommenen selbst: Man kann nicht mehr ganz bei der Sache bleiben. In den Sechzigern und Siebzigern trägt Giordano mit seinen stets kontroversen Reportagen – z.B. über Welthunger und deutsche Kolonialgeschichte – erheblich zur nachholenden Modernisierung des deutschen öffentlichen Bewusstseins bei. Doch über seinen Beschreibungen ferner Länder liegt der Nebel einer merkwürdigen Geistesabwesenheit, als würde der Reporter die Reisfelder Indiens und die mexikanische Wüste selber nur mit halbem Auge beim Bügeln in der Röhre sehen.
Spätestens mit den Achtzigern beginnt sich Giordanos Rolle zu wandeln. Er wird zu einem gefragten Repräsentanten und Honoratior. Nach dem furchtbaren Verlust des sozialen Vertrauens kann er nun – und wer wird es ihm verdenken? – gar nicht genug Anerkennung von allen Seiten bekommen; Freundschaften, am liebsten „Lebensfreundschaften” akquiriert und präsentiert er wie Trophäen, Auszeichnungen würdigt er als „Ritterschläge”. Als ihm ein Ehrendoktor verliehen wird, führt er in seiner Dankesrede vor, dass er, trotz fehlenden Abiturs, noch immer völlig perfekt lateinisch konjugieren und deklinieren kann.
Auschwitz sei sein Kompass, formuliert Giordano seinen Lebenssatz. Der funktioniert so: „Ebenso wenn ich sehe, dass Menschen bei Frost in offene Güterwagen verladen werden – auch dann ist in mir nichts als der vegetative Wunsch: hin zu ihnen, hin und das eigene Hemd ausziehen, um sie zu wärmen. Und wenn ich dabei Kinder erblicke, die voller Verstörung in die unbegreifbare Welt der Erwachsenen schauen – dann weine ich. Was um keine einzige den Strom der Tränen mindert, die ich vergossen habe, vergieße und vergießen werde über die Opfer des Holocaust und die Millionen ermordeter Sinti, Roma und Slawen.”
Es ist gut, dass du das sagst – und doch auch wieder nicht gut, möchte man dazu mit Schillers Fiesco anmerken. Manche Dinge dürfen, wenn sie wahr sind, nicht ausgesprochen werden; und werden sie es doch, misstraut man ihnen. Für diesen Tränenstrom gibt es einen verborgenen Haupthahn mit Wasseruhr. Sobald aufgedreht wird, muss jede Diskussion und Analyse enden, nur ergriffenes Schweigen scheint noch legitim zu sein. Giordano hält ein Thema dann für erledigt, wenn er mitgeteilt hat, dass er sich seiner Tränen nicht erwehren konnte.
Man betrachte, wie Giordano argumentiert, wenn er den Krieg gegen den Irak verteidigt. „Dennoch packt mich die Wut, wenn die Kriegsgegner mit dem Argument kommen, die These von den Massenvernichtungsmitteln als Rechtfertigung für den Angriff auf Bagdad sei eine Lüge gewesen. Dazu, erstens: Es bedurfte keiner chemischen und biologischen Waffen in den Händen Saddams, um ihn von seinem Thron zu fegen und ihn ein für allemal zu entmachten – der Hinweis auf seine blutige Herrschaft genügte dafür vollkommen. Und zweitens: Es gab durchaus ein solches ‚Massenvernichtungsmittel‘, und zwar in Gestalt dieses Oberhenkers und Erzschurken selbst. Oder ist der Mord an zweihunderttausend Irakern etwa keine Massenvernichtung?”
Merkt man, wie sich in dieser Passage das Unlogische und das Unredliche ineinander verzahnen? Eine Lüge, deren es nicht bedurft hätte, bleibt darum doch eine Lüge. Und der Vorwand der Massenvernichtungswaffen bezog sich, als er verwendet wurde, ausschließlich auf die Fähigkeit Saddams, damit andere Länder zu überfallen. Diesen Begriff nun nachträglich auf seine inländischen Morde zu übertragen, die den intervenierenden Alliierten doch immer, wie sich vielfach gezeigt hat, völlig gleichgültig waren, das ist ganz einfach Etikettenschwindel.
Dass Giordano das Täuschungsmanöver aber auch noch mit einer „Wut” vorträgt, die schlechterdings keinen Widerspruch dulden will, das sollte man sich nicht gefallen lassen. Zu befürchten ist, dass Giordano gar nicht versteht, was er hier eigentlich treibt und welchen Part er spielt. Er fühlt sich als Ausgestoßener, dem späte Genugtuung zuteil wird. In Wahrheit steht er nunmehr auf der Seite der herrschenden Macht und bringt ihr mit seiner Haltung und seinem Schicksal das Prestige des Verfolgten zu.
Einst ist er Opfer der Gewalt geworden; jeder Angriff, ja jeder Einspruch gegen ihn muss als eine Wiederholung dieser Gewalt erscheinen. Indem die heute herrschende Macht ihn, den fürs Leben tief Verunsicherten, durch Ehrungen aller Art auf ihre Seite zieht und zu ihrem Wortführer erhebt, verschafft sie sich selbst Unbelangbarkeit. So west die damals empfangene Verletzung unerkannt fort in die Gegenwart hinein.
Wie so etwas in einer langen Lebensgeschichte allmählich, mit jahrzehntelanger Inkubationszeit vor sich geht; wie jemand, der nach dem Ende seines Martyriums mit den besten Vorsätzen über die Wahrheit und die Unteilbarkeit des Humanen zu einem Neubeginn antrat, zu einem der wirkungsmächtigsten geistig-moralischen Verunklärer unserer Zeit werden konnte: Darüber vermag Ralph Giordanos Buch durchaus zu belehren, wenn man es als das liest, was es zuletzt sein muss, als das ergreifende Dokument einer Verblendung. BURKHARD MÜLLER
RALPH GIORDANO: Erinnerungen eines Davongekommenen. Die Autobiographie. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2007. 551 Seiten, 22,90 Euro.
Ihn überkommt Panik, wenn er ein Flugzeug besteigt
Er fühlt sich als Ausgestoßener, dem späte Genugtuung widerfährt
Der Schriftsteller Ralph Giordano Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2007

Ein großer Mahner
Ralph Giordano hat spannende Lebenserinnerungen geschrieben

Er ist bekennender Humanist, streitbarer Demokrat und Moralist, Aufklärer und Mahner, der sich der Auseinandersetzung mit den Gefahren von Neonazismus, Rassismus, Islamismus und des sich als Antizionismus tarnenden Antisemitismus in vielen Medien mutig stellt. Knapp die Hälfte der spannend geschriebenen Lebenserinnerungen sind der Geschichte der italienisch-deutsch-jüdischen Musikerfamilie Giordano gewidmet, als deren Sohn Ralph 1923 in Hamburg geboren wurde. Wegen der jüdischen Mutter wurden die Giordanos zwölf Jahre lang diskriminiert, entrechtet, verfolgt und überlebten auch die Bombenangriffe auf Hamburg. Ralph wurde mehrere Male denunziert, von der Gestapo verhaftet und gefoltert.

Am 14. Februar 1945 sollte sich die energische und überfürsorgliche "jiddische Mamme", wie Sohn Ralph sie liebevoll bezeichnet, zur Deportation nach Auschwitz einstellen. Der tapferen Freundin Grete Schulz, die die fünfköpfige Familie in einer rattenverseuchten Kellerruine versteckte, und dem Antinazi "Klempner", der sie mit Essen versorgte, verdanken die Giordanos ihr Überleben. Am 4. Mai 1945 bot sich den britischen Panzersoldaten ein seltsamer Anblick. Auf den Knien rutschend, da fast verhungert und unfähig, aufrecht zu gehen, erreichten fünf lebende Skelette den Bürgersteig, wo sie liegen blieben. Die Haare der Mutter und des Bruders Egon sind in dieser kurzen Zeit grau geworden.

Bereits 1945 fing Ralph Giordano an, für das KPD-Blatt "Hamburger Volkszeitung" zu schreiben. Dessen Chefredakteur Erich Hoffmann, Spanien-Kämpfer und Auschwitz-Häftling, war sein Vorbild. Bald wurde er Mitarbeiter der Ost-Berliner Zeitschrift "Weltbühne" und KPD-Mitglied. Giordano brauchte elf Jahre, um dies als einen Irrtum zu erkennen. Er studierte am Leipziger Literaturinstitut, wo er Ernst Bloch, Stefan Heym und Anna Seghers begegnete. Der Chruschtschow-Geheimbericht beim XX. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 über die Verbrechen Stalins und Berijas, der zu Lebzeiten der DDR dort nie veröffentlicht wurde, schlug bei ihm wie ein Naturereignis ein. Der gütige und gerechte Halbgott Stalin entpuppte sich als ein eitler, bösartiger und paranoider mörderischer Despot, verantwortlich für GULags, Folter, Massenverschleppung ganzer Völker und Mörder der ersten Garde der Bolschewiki. Giordano fragte sich: "War ich unter eine Bande von professionellen Schwindlern und Schaumschlägern gefallen, die kein Wort von dem ernst nahm, was sie in Herrscherpose jahrelang als Dogma verkündet hatte?" Als Ende 1956 in der Ost-"Berliner Zeitung" die Verbrechen der SED und Moskaus gerechtfertigt wurden, war die Geduld des Idealisten Giordano am Ende. Er schrieb empört: "Hier ist die Rede nicht von Fehlern oder Vergehen, sondern von Verbrechen! . . . Alle Versuche, die weltweite Auseinandersetzung mit dem Stalinismus aufzuhalten, sind sinnlos." Er wurde tagelang in Leipzig in Diskussionen verwickelt, die ihn auf den rechten Weg zurückführen sollten, aber nichts bewirkten. Als vom Kommunismus Geheilter kam er nach Hamburg zurück. Er hatte Glück, während der Frankfurter Gewerkschafter Heinz Brandt gewaltsam nach Ost-Berlin entführt wurde und der KPD-Vorsitzende in Hessen, Leo Bauer, 25 Jahre im GULag vegetierte. Ist es Zufall, dass beide jüdischer Abstammung waren?

Der Glaubensabfall war ein Sprung ins Nichts mit dem Verlust von jahrelangen Freundschaften; er war ein Renegat für diese, ein Stalinist für die andere Seite, eine existenzbedrohende Katastrophe. Die Rettung kam von unerwarteter Seite. Giordano hatte zehn Jahre zuvor den Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung", Karl Marx, bei einer Tagung im jüdischen DP-Lager in Bergen-Belsen kennengelernt. Als Freund von Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Karl Arnold und vielen anderen gehörte Marx zur journalistischen Prominenz der jungen Bundesrepublik. Er gründete auch die Zionistische Organisation in Deutschland (ZOD), deren Bundesvorsitzender er viele Jahre war. Marx stellte Giordano im August 1957 sofort ein, er habe ihn "menschlich, beruflich und moralisch" aufgefangen: "Ich mag nicht daran denken, was mir sonst im damaligen Eisklima der bundesdeutschen Variante des Kalten Krieges zugestoßen wäre."

1961 erschien auf Wolfgang Leonhards Empfehlung Giordanos Abrechnung mit dem Kommunismus: "Die Partei hat immer recht". Damals begann auch die Fernsehkarriere Giordanos als Filmdokumentarist, zunächst beim NDR und später beim WDR. Außerdem verfasste er Artikel über die KZ-Prozesse. Er verpasste keine Verhandlung in den vielen Verfahren gegen die Schergen von Sachsenhausen, Treblinka und Auschwitz. Bereits im Januar 1942 hatte er beschlossen, das eigene Leben zum Rohstoff für einen Roman zu machen, der dann 1982 erschien: "Die Bertinis". Das Buch erreichte 30 Auflagen - und die fünfteilige gleichnamige ZDF-Serie von Egon Monk sahen sich im Schnitt jeweils sieben Millionen Zuschauer an.

Im Dezember 1967 besuchte Giordano zum ersten Mal Israel, und veröffentlichte 1991 "Israel, um Himmels willen, Israel". Dazu ergänzt er jetzt: "In diesen Jahren hatte es keinen Tag gegeben, an dem ich nicht daran gedacht, an dem ich nicht um Israel gebangt, mich nicht mit ihm gefreut oder getrauert habe . . . Die einseitige Front der 1968er gegen den Judenstaat hat mich abgestoßen. Und das mit der verblendeten Formel ,Israel=Imperialismus - Palästinenser/Araber=Sozialismus', was eine geradezu infantile Unkenntnis des Nahost-Konflikts, seiner Ursachen und seines Verlaufs offenbarte."

1987 kam "Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein" heraus, dessen Thema die Behauptung war, dass die meisten NS-Täter davongekommen sind. Dies sei die zweite Schuld nach der ersten von Hitler. In "Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr" von 2000 wandte sich Giordano dagegen, dass die Bundeswehr Traditionen der Wehrmacht weiterpflegte. Die meisten Bücher Giordanos lösten heftige Debatten aus.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich bei Giordano das Gefühl der Empathie, also Anteilnahme am Schicksal, Leiden und Tod von Menschen, die einer anderen Gruppe als der eigenen angehörten. Zu ihnen zählten die Opfer des Genozids an den Armeniern, über die er die TV-Dokumentation von 1986 "Die armenische Frage existiert nicht mehr" schuf. Giordano engagierte sich auch für das Andenken an die deutschen Opfer der Vertreibungen, wobei er darauf besteht, dass die Kausalität niemals vergessen wird, denn "primär verantwortlich für den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen sind die, die ihn angezettelt haben - Hitler und das nationale Kollektiv seiner Anhänger. Also sind sie auch verantwortlich für die Vertreibung." Giordano besteht auf der Chronologie und ihrer Kausalität. Das ist seine "Charta", womit er sich nicht überall Freunde verschafft hat.

Gegen Ende seiner Lebenserinnerungen beklagt er die "falsche Toleranz" beim interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen: "Es ist wahr, nicht alle Muslime sind Terroristen. Aber derzeit sind alle Terroristen Muslime . . . Wird es dabei bleiben?" Und zum Schluss des Buches noch sein Lebensmotto: "Du bist davongekommen, bist davongekommen! . . . Mein Leben ist mir immer wie ein Traum vorgekommen . . . ich werde erst durch den Tod aus ihm erwachen. Bis dahin beabsichtige ich allerdings, meinen Feinden und meinen Freunden noch eine Weile erhalten zu bleiben." Ich bin froh und stolz, dass ich seit 50 Jahren zu den Letzteren zählen darf.

ARNO LUSTIGER.

Ralph Giordano: Erinnerungen eines Davongekommenen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 553 S., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Dorion Weickmann hat mit Bewegung diese Autobiografie des Publizisten Ralph Giordano gelesen. Es sind dies die Erinnerungen eines Mannes, der als Sohn einer jüdischen Mutter den Nationalsozialismus nur versteckt und unter erbärmlichsten, quälendsten Bedingungen überlebt hat und dem die Welt danach "nicht mehr heil geworden ist". Respektvoll erinnert Weickmann an die Stationen Giordanos Lebens, die Mitgliedschaft in der KPD, die journalistische Arbeit und die vielen Debatten, die Giordano "streitbar bis zur Polemik" angestoßen hat. Dem Rezensenten hat sich Giordano hier als "ein zorniger Mann, ein zärtlicher Mann" gezeigt, was Weickmann offenbar ganz zutreffend erscheint.

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"Ralph Giordano hat spannende Lebenserinnerungen geschrieben. Ich bin froh und stolz, dass ich seit 50 Jahren zu seinen Freunden zählen darf." Arno Lustiger FAZ