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Zum Freud-Jahr 2006 (150. Geburtstag von Sigmund Freud) schildert Eva Weissweiler die spannende und tragische Familiengeschichte des Begründers der Psychoanalyse.
Schon vor der Ehe verspricht Sigmund Freud seiner künftigen Frau Martha Bernays, es den "Biographen nicht leicht (zu) machen". Tritt jemand mit dem Ansinnen, eine Biographie über ihn zu schreiben, an ihn heran, erklärt er, sein Leben sei nur in Bezug auf die Psychoanalyse interessant. Diese Abneigung wurde von fast allen Chronisten seines Lebens übernommen. Sie schildern den Entstehungsprozess seiner Lehren, äußern sich über seine…mehr

Produktbeschreibung
Zum Freud-Jahr 2006 (150. Geburtstag von Sigmund Freud) schildert Eva Weissweiler die spannende und tragische Familiengeschichte des Begründers der Psychoanalyse.

Schon vor der Ehe verspricht Sigmund Freud seiner künftigen Frau Martha Bernays, es den "Biographen nicht leicht (zu) machen". Tritt jemand mit dem Ansinnen, eine Biographie über ihn zu schreiben, an ihn heran, erklärt er, sein Leben sei nur in Bezug auf die Psychoanalyse interessant. Diese Abneigung wurde von fast allen Chronisten seines Lebens übernommen. Sie schildern den Entstehungsprozess seiner Lehren, äußern sich über seine Reisen, seine Krankheiten, seine Beziehungen zu Kollegen, klammern aber den "Familienroman" fast vollständig aus. Von seinen sechs Kindern wird meist nur Anna, die Gralshüterin, ausführlich erwähnt. Die übrigen fünf, Mathilde, Martin, Oliver, Ernst und Sophie, könnten ebenso gut überhaupt nicht gelebt haben. Seine Ehefrau Martha erscheint höchstens als schattenhafte Figur, dazu bestimmt, ihm "die Misere des Alltags" vom Leib zu halten. Auch das Schicksal von Freuds Schwestern - vier von ihnen kamen im Holocaust um - wird meist ausgeblendet.

Eva Weissweiler unternimmt es, dieses Defizit aufzuarbeiten, und hat dafür eine Fülle von unveröffentlichten Quellen - Briefe von Martha Freud und ihren Kindern, aber auch solche von Freud selbst - ausgewertet. Sie schildert eine spannende und tragische Familiengeschichte, die von der Gründerzeit über die Weltkriege bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, bis zu den Enkeln und Urenkeln, die Sigmund Freud noch erlebt haben: dem englischen Maler Lucien Freud beispielsweise, der amerikanischen Psychotherapeutin Sophie Freud und der englischen Schriftstellerin Esther Freud.
Autorenporträt
Weissweiler, EvaEva Weissweiler, Dr. phil., geboren 1951, Studium der Musikwissenschaft und Germanistik. Buchveröffentlichungen u.a.: Clara Schumann, 1990; Gejagt von der Liebe, Roman, 1993; Der Sohn des Cellisten, Roman, 1996; Komponistinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 1999; Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter, 2002; Die Freuds. Biographie einer Familie, 2005; Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist, 2007. Eva Weissweiler lebt als freie Schriftstellerin und Filmautorin in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2006

Freud, wie er grübelt und lacht
Wieder- und Neuerscheinungen zum 150. Geburtstag des Wiener Seelenforschers

Mozart, Heine, Rembrandt, Freud, es gibt wohl keinen Zweifel, wer in diesem Jahr der großen Jubiläen den Vogel abschießen wird: das Wolferl natürlich. Mozarts Landsmann Sigmund Freud ist ihm allerdings hart auf den Fersen. Landauf, landab werben Ausstellungen, Symposien, Filmretrospektiven darum, sich dem Begründer der Psychoanalyse wieder anzunähern - bis hin zu einer Wanderausstellung mit Freud-Cartoons aus dem New Yorker, die im Juli in London startet.

Seinen Niederschlag findet das auch in den Buchkatalogen. Das mag damit zu tun haben, daß der leidenschaftliche Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern, der die Freud-Forschung von Anbeginn begleitet hat, in ruhigeres Fahrwasser geraten ist. Neuerdings konzediert auch die Neurobiologie dem Deuter des Unbewußten seine große Bedeutung im Zwischenreich von Seelenkunde und Hirnforschung. So erscheint im April eine Sammlung von Aufsätzen des Medizinnobelpreisträgers Eric Kandel, emigrierter Wiener Jude wie Freud, der sich als herausragender Vermittler zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie erwiesen hat ("Die neue Biologie des Geistes", Suhrkamp, ca. 300 S., 24,90 Euro).

Wer einen Crashkurs in Sachen Freud absolvieren möchte, wird fündig bei Hans-Martin Lohmann ("Freud für die Westentasche", Piper, 128 S., 9,90 Euro, Ende April); übersichtlich auch Barbara Sternthals Monographie "Sigmund Freud. Leben und Werk 1856-1939" (Brandstätter, 160 S., 29,90 Euro). Wer sich aber tief hineinbegeben will in den Kosmos des Wiener Seelenforschers, kommt an zwei Standardwerken nicht vorbei, nämlich an "Sigmund Freud", das sein Leibarzt Max Schur verfaßt hat (Suhrkamp 1982, 701 S., 15 Euro), und an Peter Gays "Freud" (S. Fischer, 2001, 904 S., 16,90 Euro). Die Geschichte der Psychoanalyse breitet auf 620 Seiten der Amerikaner Eli Zaretsky in "Freuds Jahrhundert" aus (Zsolnay, 39,90 Euro), während der Frankfurter Dozent Micha Brumlik seinem soeben erschienenen Buch über Freud den apodiktischen Titel "Der Denker des 20. Jahrhunderts" gibt (Beltz, 280 S., 22,90 Euro).

Einen Überblick über die originalen Texte von Sigmund Freud vermittelt am besten die im Buchhandel kostenlos erhältliche Broschüre "Sigmund Freud" aus dem S. Fischer Verlag. Neben der gebundenen Gesamtausgabe in 19 Bänden (8759 Seiten!) finden sich dort auch preiswerte Taschenbücher, von der "Traumdeutung" bis zu den "Schriften über Kokain". Wer es langsamer angehen lassen möchte, ist bestens bedient mit dem Titel "Sigmund Freud: Das Lesebuch", in dem die Herausgeberin Cordelia Schmidt-Hellerau chronologisch (von 1892 bis 1932) die kürzeren Schriften versammelt und mit Kommentaren versehen hat (ebenfalls S. Fischer, 350 S., 12 Euro). Bereits hier erschließt sich dem Leser, daß Freud auch ein Kulturmensch und Schriftsteller von Gnaden war, ein fabelhafter Stilist und flamboyanter Erzähler, dem der Witz nicht fremd war. "Die ,Psychopathologie des Alltagslebens' ist ja total komisch", attestiert denn auch der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth, der demnächst den spektakulären Versuch unternehmen will, eine Psychoanalyse-Sitzung im Kernspintomographen zu untersuchen.

Zu den bisher erschienenen zahlreichen Briefbänden gesellt sich im April ein Briefwechsel der besonderen Art: Auf 750 Seiten dokumentiert die Herausgeberin Ingeborg Meyer-Palmedo die Korrespondenz, die Freud zwischen 1904 und 1938 mit seiner Tochter Anna geführt hat (S. Fischer, 34,90 Euro). Das "Annerl", jüngstes und liebstes seiner sechs Kinder, später selbst angesehene Analytikerin, Mitbegründerin der Kinderanalyse und Gralshüterin, begleitete den Vater bis zu seinem Krebstod in London 1939. Weitere Reminiszenzen aus Verwandtschaftsfeder, wenngleich vollkommen privater Natur, sind Lilly Freud-Marlés "Erinnerungen an eine große Familie" mit dem Titel "Mein Onkel Sigmund Freud", die sich im Nachlaß der Schauspielerin fanden (Aufbau, 336 S., 19,90 Euro, Ende März).

Im selben Verlag erscheint demnächst auch Birgit Lahanns und Ute Mahlers Text-Foto-Band "Als Psyche auf die Couch kam. Die rätselhafte Geschichte des Sigmund Freud" (192 S., 24,90 Euro), in dem die beiden Journalistinnen die wichtigsten Schauplätze von Freuds Leben und Wirken aufsuchen. Eine Erkundungsreise durch die Stadt, in der Freud in der Berggasse 19 seine weltbewegenden Studien betrieben hat, unternehmen Lisa Fischer und Regina Köpl in "Sigmund Freud. Wiener Schauplätze der Psychoanalyse" (Böhlau, 221 S., 19,90 Euro).

Dem gesamten Freudschen Clan widmet sich Eva Weissweiler mit dem Band "Die Freuds. Biographie einer Familie", in dem sie, auch anhand von bislang unveröffentlichten Dokumenten, die tragische wie schillernde Geschichte der Familie bis in die Gegenwart erzählt (Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 22,90 Euro). Allein die Hamburger Autorin Annette Meyhöfer hat anläßlich des 150. Geburtstages des Vaters der Psychoanalyse den Versuch unternommen, eine neue monumentale Biographie zu verfassen: "Eine Wissenschaft des Träumens. Sigmund Freud und seine Zeit". Das Buch soll einen Umfang von circa 600 Seiten haben, im Mai bei Knaus erscheinen und 22,95 Euro kosten.

Anna Mikula

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2006

Er öffnete sich und deckte sich damit zu
„Die Biographen aber sollen sich plagen”: Altes und Neues in Büchern über Sigmund Freud zum 150. Geburtstag
Von Arthur Schnitzler, Freuds heimlichem Doppelgänger, stammt der Satz: „Nicht die Psychoanalyse ist neu, sondern Freud, so wie nicht Amerika neu war, sondern Kolumbus.” Geboren im Sterbejahr seines Lieblingsdichters Heinrich Heine und gestorben in den Tagen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, stand Sigmund Freud mit einem Bein - dem vermutlich gefestigteren von beiden - noch mitten in der bürgerlichen Epoche des 19. Jahrhunderts, mit dem anderen aber im katastrophalen 20. Jahrhundert, darin alle Bürgerlichkeit unterging. Seinem pünktlich zur Jahrhundertwende erschienenen Epochenwerk „Die Traumdeutung” hatte er als Motto Verse des Vergil vorangestellt, jenes Dichters, der damals noch im Rufe stand, „Vater des Abendlandes” zu sein. Heuer blickt
uns von den Umschlägen der zum
150. Freud-Geburtstag am 6. Mai angeschwemmten Bücherflut und von den Coverfotos der Wochenblätter und Magazine das Bild eines alternden, wenn nicht greisen Übervaters mit grauem Vollbart und phallokratisch gespreizter Zigarre entgegen. Als wären Sigmund Freud und sein Jahrhundert niemals jung gewesen.
Auffällig, wie die Freud-Ikonografie den Zeitstimmungen folgt. Als Perle des vorangegangenen Freud-Jahres - es war das Jahr des Aufbruchs 1989, man beging den 50. Todestag des Begründers der damals für tot erklärten Psychoanalyse - war ein schöner Band mit Jugendbriefen Freuds erschienen, den abermals neu anzubieten der S. Fischer Verlag leider unterlassen hat: Herausgegeben, kommentiert und mit einem fulminanten Nachwort des kürzlich verstorbenen Walter Boehlich versehen, war in den Briefen an den Jugendfreund Eduard Silberstein das Werden eines mit großen Gaben der Beobachtung und der Phantasie ausgestatteten Sprachzauberers zu entdecken, der auch die mährischen Orte seiner frühen Kindheit wiederaufleben ließ. Daneben deutete sich in diesen Briefen ein Motiv als Quelle seines Werks an, das daraus nicht mehr wegzudenken ist: die Entbehrung, entweder durch das Leben selbst oder durch die Kultur auferlegt.
Duftmarken, seelenruhig
Auch nach der mittlerweile kanonischen Freud-Biografie von Peter Gay gäbe es also noch genügend Stoff, an dem die Biografen sich abarbeiten könnten, auch eingedenk der gar nicht groß genug zu veranschlagenden Bedeutung, die Freud der Kindheit allgemein und in der Selbstanalyse auch seiner eigenen zugemessen hatte. Freilich mit einem von ihm selbst daran befestigten Haken: „Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen”, schrieb schon der verliebte Jüngling an seine Verlobte. Alles autobiografische Material, an dem Freuds Werke reich sind, unterliegt dort - wie auch in seinen Briefen - einer meisterhaften sprachlichen wie literarischen Strategie der Verrätselung und „sekundären Bearbeitung”. Die einhergehenden Probleme ließen frühere Biografen noch nachdenklich werden, so wie Ludwig Marcuse, der schrieb: „Und wieweit war dieses Sich-Öffnen nicht auch das Gegenteil: ein Sich-Zudecken? Das wird die Frage sein, die immer wieder gestellt werden muss.”
Erfreulicherweise hat sich die seriöse Freud-Forschung dieser Fragen heute angenommen. Hans-Martin Lohmann, Mitherausgeber eines schwergewichtigen und dicht gestrickten, als Standardwerk für die nächste Zukunft maßgeblichen „Freud-Handbuchs”, weist in seinem klugen Abriss zu Freuds intellektueller Biografie auf manches ungelöstes Rätsel um dessen Kindheitsschilderungen und erinnert an den Satz im Essay über Leonardo da Vinci, wonach „die Kindheit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nachträglich entstellen”. Dem sprachbegabten Schriftsteller, der einen hinreißenden und unnachahmlichen Prosastil pflegte, blicken die Aufsätze eines Schwerpunkthefts der Neuen Rundschau beim Schreiben über die Schultern. Ein Essay aus dem Nachlass des Philosophen Hans Blumenberg zu Freuds „Metaphorik von Verhüllung und Enthüllung” stellt da die Schlüsselfrage, „ob nicht die Verhüllung nur die sekundäre Bekleidung von etwas sei, was sich in seiner primären Unmittelbarkeit nur schwer ertragen lasse.”
Die Feiertagsskribenten hält das nicht davon ab, sich auf ausgetretenen Pfaden und in immer neuen Kombinationen der Freudschen Selbstauskünfte, gleich welchen Kontexten sie angehören, nach Gusto zu bedienen. Die neueste biografische Mode äußert sich darin, dass der Leser kaum noch zwischen Worten des Biografhen und Worten seines Objekts unterscheiden kann, es offenbar auch nicht mehr soll. Bei Birgit Lahann, die im Duett mit der kunstgewerblichen Fotografin Ute Mahler schon bei Goethe, Schiller, Brecht und Hesse vorstellig war, ist dieses Verfahren zum Schriftbild eines Buchs geworden, in dem das gehäufte Zitiermaterial keiner Gänsefüßchen und keiner Nachweise mehr bedarf.
Als Spielmaterial wird der „O-Ton” Freuds nur noch kursiviert, und Autorin wie Fotografin können auch bei allen „selbstständigen” Kolportagen autobiografischer Quellen von sich sagen, sie seien dabei gewesen. Das liest sich dann so: „Sigmund . . . bleibt der Goldsohn der Mutter, bleibt die unbestrittene Nummer eins. Dabei ist es noch gar nicht lange her, da war er nachts in den Schlafraum der Eltern geschlichen. Aus Neugier? Wollte er die beiden beobachten? Beim Beischlaf vielleicht? Und dann pinkelt er seelenruhig mitten ins Zimmer. Wozu? Will er eine Duftmarke setzen?” Unfreiwillig gut passt dazu die Bildunterschrift zu einer Ansicht der Pariser Tuilerien: „Freud schreibt an seine Braut, dass er in der ganzen Stadt keine schönen Damentoiletten sieht.”
Dergleichen Literatur ist auch billiger zu haben: Einen für die Spaßgesellschaft kondensierten goldenen Zitaten-Freud präsentiert Ludger Lütkehaus mit dem Reclamheftchen „Freud zum Vergnügen”, das Frivoles verspricht, aber keine annähernd so gewitzte und würzige Lektüre wie Freuds vollständige Texte bietet. Wer hingegen auf populäre, gut lesbare und zuverlässige Weise über Freuds Leben und Werk aufgeklärt werden will, dem sei die wiederaufgelegte Biografie von Georg Markus empfohlen, am besten ergänzt um das in Freuds Hausverlag von Cordelia Schmidt-Hellerau sorgfältig ausgewählte und liebevoll kommentierte „Lesebuch”.
Die arme Familie!
Eine weitere biografische Unsitte ist die Methode einer schrankenlosen Einfühlung, die weder sprachlichen noch sachlichen Kontrollinstanzen folgt, so dass keiner mehr weiß, wer eigentlich spricht. Es ist kein Zufall, dass diese Mode auch anderswo grassiert, vor allem - um einen genuin Freudschen Ausdruck zu gebrauchen - in den deutschen „Familienromanen” der vergangenen Jahre. Eva Weissweiler hat für ihre Kollektivbiografie über Freuds Familie in Archiven und Nachlässen recherchiert. Ihre Sprache ist dabei aber so kurzatmig und denunziatorisch, dass sie keiner Nebensätze und keiner Zwischentöne mehr bedarf. Ihre Einfühlung in die vom Patriarchen angeblich chronisch vernachlässigten und malträtierten weiblichen Familienangehörigen geht hingegen so weit, dass sie Gerüchte, die schon zeit-
lebens über Freud verbreitet wurden, ungeprüft übernimmt: Als Schlüsselargument wärmt sie auch jene Klamotte wieder auf, wonach Freud ein sexuelles Verhältnis zu seiner Schwägerin Minna Bernays unterhalten habe. Weissweiler will sogar um die Ursachen häufig auftretender Darmerkrankungen bei Ehefrau und Schwägerin wissen: „Folgen fortgesetzten Analverkehrs”, den Freud als „sichere Form der Empfängnisverhütung” praktiziert habe. Da Freud aber häufig auch selbst über Darmbeschwerden klagte - müssen wir jetzt wohl annehmen, die beiden Damen hätten sich einen Dildo umgeschnallt und dem Kerl damit ihrerseits zugesetzt?
Was immer sich auch Ablehnendes gegenüber dem von Freud ins Zentrum des Familienromans gerückten Ödipusdrama sagen lässt, es kann nicht an Freud und seiner Lehre liegen, wenn die Nachfahren diesem intellektuellen Übervater des 20. Jahrhunderts entweder in blinder Verehrung oder mit vatermordender Demontage begegnen. Es war für die zahlreichen Kinder und Kindeskinder dieser Großfamilie gewiss nicht leicht, im alltäglichen Konkurrenzkampf um die Gunst des Patriarchen einen sicheren Platz zu erlangen, so auch für die Schwiegertochter Ernestine Drucker, deren Geschichte von Freuds Enkelin Sophie im Wechsel mit der Stimme ihrer Mutter erzählt wird.
Auch im Kreise der engeren Schülerschar wie unter der psychoanalytischen Zunft tobte und tobt der Familienkrieg. Dazu sind zwei neue Quellen erschienen: Isidor Sadgers persönliche Erinnerungen an seinen Lehrer, die wiederum ein Licht auf den großartigen Schriftsteller sowie auf das komplizierte, allerdings von persönlichen Enttäuschungen des Autors getrübte Kapitel Freud und das Judentum werfen; ferner die mit Freuds Genehmigung in den zwanziger Jahren angefertigten Sitzungsprotokolle aus der Lehranalyse seines Schülers Ernst Blum. Manfred Pohlen hat dieses interessante Dokument, das manchen stereotypen Lehrmeinungen über Freuds Praxis widerspricht, herausgegeben, doch wäre es besser gewesen, er hätte in seinen Kommentaren editorische Zurückhaltung geübt, statt mit anklägerischem Pathos eine neue Runde im apostolischen Streit um die vermeintlich wahre Freudsche Offenbarung einzuläuten. Die Protokolle zeigen Freud nicht als schweigenden Analytiker, sondern als aufmerksamen Zuhörer, der den Dialog mit seinem Analysanten suchte und sich auf die sokratische Kunst der Maieutik verstand.
Der Jude aus Mähren
Die unbestreitbare Perle unter den Neuveröffentlichungen dieses Freud-Jahres aber sind die von Christfried Tögel entdeckten Erinnerungen der Nichte Lilly Freud-Marlé (1888-1970), die als Schauspielerin und Diseuse selbst etwas von dem Sprachzauber ihres Onkels teilte. Fernab von allen gesuchten Enthüllungen, an denen die Freud-Literatur so krankt, gewinnt der selbst erklärte „Jude aus Mähren, dessen Eltern aus dem österreichischen Galizien stammten” eine menschliche Kontur, über die wir auch den Abstand ermessen können, der uns nicht erst seit heute von ihm trennt. Freud-Marlés hinreißendes Buch gehört im Bücherregal gleich neben Stefan Zweigs „Die Welt von gestern”. Eine These, für die Micha Brumlik, der Freud zum „Denker des 20. Jahrhunderts” erklärt, ein ganzes kluges und herausforderndes Buch benötigte, das allerdings sprachlich wie konzeptionell weit hinter seinem Anspruch zurückbleibt, wusste die Tochter einer Mutter, die mit zwei weiteren Schwestern Freuds in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus ums Leben kam, mit einem einzigen Satz auszudrücken: „Freuds ernste Erkenntnis, daß jede Form von Zivilisation den Vernichtungstrieb als Erbschaft in sich trug und keine Bemühung des Eros imstande war, den Todesinstinkt auszuscheiden, steht auch als tiefe Warnung am Ausgang dieser Vernichtungsperiode.” Bliebe also das große Freudsche Thema der Entsagung.
VOLKER BREIDECKER
LUDWIG MARCUSE: Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Diogenes Verlag, Zürich 1972. 253 Seiten, 21,90 Euro.
HANS-MARTIN LOHMANN, JOACHIM PFEIFFER: Freud-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Metzler Verlag, Stuttgart 2000. 452 Seiten, 64,95 Euro.
NEUE RUNDSCHAU, 117. Jahrgang, Heft 1. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 206 Seiten, 10 Euro.
BIRGIT LAHANN, UTE MAHLER: Als Psyche auf die Couch kam. Die rätselvolle Geschichte des Sigmund Freud. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 179 Seiten, 24,90 Euro.
LUDGER LÜTKEHAUS (Hrsg.): „Genug von meinen Schweinereien”. Freud zum Vergnügen. Reclam Verlag, Stuttgart 2006. 159 Seiten, 4 Euro.
GEORG MARKUS: Sigmund Freud. Die Biographie. Langen Müller Verlag, München 2006. 350 Seiten, 22,20 Euro.
SIGMUND FREUD: Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten. Hrsg. v. Cordelia Schmidt-Hellerau. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 477 S., 12 Euro.
EVA WEISSWEILER: Die Freuds. Biographie einer Familie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 479 S., 24,90 Euro.
SOPHIE FREUD: Im Schatten der Familie Freud. Meine Mutter erlebt das 20. Jahrhundert. Claasen Verlag, Berlin 2006. 475 Seiten, 19,95 Euro.
ISIDOR SADGER: Sigmund Freud. Persönliche Erinnerungen, hrsg. von Andrea Huppke und Michael Schröter. Edition Diskord, Tübingen 2006. 160 S., 22 Euro.
MANFRED POHLEN: Freuds Analyse. Die Sitzungsprotokolle Ernst Blums. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 399 Seiten, 22,90 Euro.
LILLY FREUD-MARLÉ: Mein Onkel Sigmund Freud. Erinnerungen an eine große Familie. Hrsg. v. Christfried Tögel. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 341 Seiten, 22,90 Euro.
MICHA BRUMLIK: Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, Weinheim 2006. 304 S., 22,90 Euro.
Wir sehen ihn gern als Übervater des 20. Jahrhunderts - als wäre er niemals jung gewesen: Sigmund Freud (1856-1939) am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer in der Wiener Berggasse 19, um 1935.
Foto: ullstein bild/Imagno
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "biografische Unsitte" verwirft Volker Breidecker die nicht nur in deutschen Familienromanen, sondern eben auch von Eva Weissweiler in ihrer Freud-Biografie angewandte Methode der "schrankenlosen Einfühlung" in das Objekt der Untersuchung. Zwar habe die Autorin in Archiven und Nachlässen geforscht, doch ihr Stil sei so "kurzatmig und denunziatorisch" und ihre Parteinahme für die weiblichen Familienangehörigen so absolut, dass sie "ungeprüft" Gerüchte übernehme, die schon so alt wie Freud selbst sind. Wenn die Darmprobleme Minnas von Freuds Hang zum Analverkehr stammen, woher kommen dann die gleichen Probleme Freuds, fragt sich Breidecker mit einer Mischung aus Sarkasmus und Widerwillen, um sich dann zum Glück schnell eines anderen Buches anzunehmen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein erfreuliches Unternehmen [...], eine Spurensuche im Dschungel von Briefen und Tagebüchern, aus denen sie herausliest, was jenseits der ärztlichen Praxis im Haushalt Freud tatsächlich passierte.« emotion