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Als die Gefährten des Odysseus von den Lotophagen bewirtet werden, vergessen sie alles und denken nicht daran, in ihre Heimat zurückzukehren. Mit Gewalt müssen sie aufs Schiff gebracht werden, um die Heimreise fortzusetzen. Dieser Mythos markiert den Beginn einer Geschichte des Vergessens, die die Geschichte der menschlichen Kultur als ihre andere Seite begleitet und heute mit der schwindenden Nachhaltigkeit digitaler Systeme und ihrer scheinbar unermeßlichen Speicherkapazität einen neuen Höhepunkt erreicht. Bereits Goethe rief dazu auf, der Destruktion des Gedächtnisses entgegenzuwirken, und…mehr

Produktbeschreibung
Als die Gefährten des Odysseus von den Lotophagen bewirtet werden, vergessen sie alles und denken nicht daran, in ihre Heimat zurückzukehren. Mit Gewalt müssen sie aufs Schiff gebracht werden, um die Heimreise fortzusetzen.
Dieser Mythos markiert den Beginn einer Geschichte des Vergessens, die die Geschichte der menschlichen Kultur als ihre andere Seite begleitet und heute mit der schwindenden Nachhaltigkeit digitaler Systeme und ihrer scheinbar unermeßlichen Speicherkapazität einen neuen Höhepunkt erreicht.
Bereits Goethe rief dazu auf, der Destruktion des Gedächtnisses entgegenzuwirken, und im 19. Jahrhundert versuchte die Romantik, durch die Hinwendung zum Mittelalter das kulturelle Gedächtnis zurückzugewinnen, während die an der Zukunft orientierten Ideologien die Weltgesellschaft lediglich ökonomisch optimieren wollten - ein Konzept, das seine Geltung grundsätzlich bis zur globalen Wirtschaftsgesellschaft des 21. Jahrhunderts behalten hat und das in der Hirnforschung, in der Gerontologie und in der Gentechnik ganz neue Dimensionen gewinnt.
Manfred Osten beschreibt in seinem Essay erstmals die Geschichte des Vergessens als Teil der Kulturgeschichte, von den Anfängen bis zur Gegenwart, bis zur Problematik heutiger digitaler Speichersysteme, die das menschliche Gedächtnis entlasten sollen, zugleich aber auch immer fragiler werden und damit den fortschreitenden Verlust des kulturellen Gedächtnisses geradezu 'programmieren'.
Autorenporträt
Geboren 19. Januar 1938 in Ludwigslust (Mecklenburg) 1952 Flucht in die Bundesrepublik Deutschland 1952 - 1959 Neusprachliches Gymnasium Bad Iburg 1959 - 1964 Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaften und Literatur in Hamburg und München 1964 1. juristisches Staatsexamen in München 1968 2. juristisches Staatsexamen in München 1968 Internationale Privatrechtsstudien (Univ. Luxemburg) 1969 Promotion "Über den Naturrechtsbegriff in den Frühschriften Schellings" 1969 Eintritt in den Auswärtigen Dienst 1969 - 1970 Frankreich, Botschaft Paris (Attaché-Ausbildung) 1971 - 1973 Kamerun, Botschaft Jaunde (Kultur- und Pressereferent) 1972 Tschad, Botschaft Fort Lamy (Geschäftsträger a. i.) 1973 - 1976 Bonn, Auswärtiges Amt (Länderreferent im Referat für "Südliches Afrika") 1976 - 1980 Ungarn, Botschaft Budapest (Leiter der Wirtschaftsabteilung) 1980 - 1983 Australien, Generalkonsulat Melbourne (stellvertretender Generalkonsul) 1983 - 1986 Bonn, Auswärtiges Amt (stellvertretender Leiter des Grundsatzreferates Dritte Welt Politik) 1986 - 1992 Japan, Botschaft Tokyo (Pressesprecher, anschließend Leiter der Kultur- und der Rechts- und Konsularabteilung) 1993 - 1994 Bonn, Leiter des Osteuropa-Referats (Mittel-, Ost und Südosteuropa, Russland, Mittelasien) im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Verheiratet seit 1966, 3 Kinder.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2004

Das Leben mit Velozifer
Zerstört die Digitalisierung die Erinnerungskultur? Manfred Osten klagt darüber jedenfalls gelehrt und elegant
Das „Veloziferische ist das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt und so immer aus der Hand in den Mund lebt.” Das konstatierte schon Goethe, in hohem Alter zwar, als alles um ihn herum zu schnell zu gehen begann. Aber dennoch, seine Beobachtung war prophetisch, denn wie viel zutreffender ist sie heute! Das zunehmende Lebenstempo ist eins der hervorstechendsten Merkmale der Moderne und, aus der Sicht aller Kulturpessimisten, ein Grund zur Sorge. Es mangelt uns an Muße, uns an alles, was wichtig ist, zu erinnern, eine Gedächtniskultur zu pflegen. Was uns daran hindert, ist der um sich greifende, vom Fortschritt der Technik genährte „Vergangenheitshass”; auch das wusste schon Goethe, für unseren Autor das Maß aller Dinge.
Manfred Osten gehört zu den PC-Benutzern der ersten Generation, denen das elektronische Kommunikationshandwerkszeug nicht in die Wiege gelegt war. Angeeignet hat er es sich, wohl oder übel und keineswegs aus optimistisch spielerischer Lust am Neuen. Es ist doch eher Teufelszeug, was da auf uns gekommen ist: immer mehr Daten, immer schneller, zum Instantgebrauch, abgespeichert und aus dem Sinn. Wem spräche Osten nicht aus der Seele. Allein, die summarische Anklage, mit der er der schnellen und schnelllebigen Kommunikation unserer Zeit den allenthalben zu beobachtenden Niedergang der Sitten und unser aller rapides Abgleiten in die Barbarei anlastet, reizt doch zum Widerspruch.
Ein solcher fällt besonders leicht, wenn man sich der Medienrevolutionen früherer Epochen entsinnt. In der Frühzeit der literarischen Kultur hegte Platon ein tiefes Misstrauen gegen die Schrift, die nur das Vergessen befördere, und als der Buchdruck das Zeitalter der Alphabetisierung einläutete, wurde das von den kulturellen Eliten am Hof und auf der Kanzel nicht begrüßt.
Jede Neuerung stößt auf den Widerstand der Etablierten. Sie erfahren die Ersetzung, zutreffender: die Ergänzung „ihres” Mediums durch ein neues als Niedergang, was sich nicht selten in einen ausgeprägten Gegenwartshass übersetzt. Die Archivare der Tontafeln müssen den viel feineren, handlicheren, aber auch ephemereren Papyrus mit Besorgnis aufgenommen haben. Wie sollte man einem so flatterhaften Stoff etwas anvertrauen, das für die Ewigkeit gedacht war? Und sie hatten recht, denn die praktisch unzerstörbaren Tontafeln erzählen uns noch heute vom Leben im Altertum, wohingegen die meisten Papyri aus der Zeit verbrannt, von Würmern zerfressen oder zu Staub zerfallen sind. Heute sind es die elektronischen Dateien, die uns im Vergleich zu Büchern kurzlebig erscheinen und deshalb als eine Bedrohung des kulturellen Erbes.
Mensch und Suchmaschine
Wunderbar gelehrt und stilistisch höchst elegant lamentiert Osten über die Erosion des kollektiven Gedächtnisses, die an der Menschenwürde selber nagt. Die Zerstörung der Erinnerungskultur legt er der Digitalisierung der Informationsspeicherung und -übermittlung zur Last. Denn alles Wissenswerte wird ungreifbar, weil die Datenträger keinen Bestand mehr haben. „Über den Wert der Digitalisate”, mahnt er, „entscheidet allein deren Verfügbarkeit.” Das galt freilich nicht minder für Tontafeln und gilt noch immer für die „haptische Realität der Bücher”.
Verdruss bereitet Osten auch die Fehleranfälligkeit auf Nullen und Einsen reduzierter Daten. Dem Umstand, dass das Aufspüren von Fehlern und Fälschungen in handschriftlichen Dokumenten Lebensinhalt von Generationen von Historikern war und noch ist, schenkt er wenig Beachtung, noch der allgemeineren Tatsache, dass die Vergangenheit, die er gern erinnert wissen will, niemals als solche fassbar und gegenwärtig sein kann, sondern allenfalls ihr moduliertes Echo.
Das Grundproblem von Ostens gescheitem Traktat ist die Alternative, die er konstruiert: Gedächtnis oder Fortschritt. Als eine solche muss das Verhältnis beider nicht verstanden werden. Nur in der Erinnerung zu leben, bedeutet Stillstand, nur an Fortschritt zu denken, den Verlust von jedem Maß. Zwar ist es zunehmend schwierig, nicht vom Fortschritt überrollt zu werden, und das Gefühl, der Technik ausgeliefert zu sein, haben insbesondere im Umgang mit den elektronischen Medien viele. Aber dass deshalb das Gedächtnis auf der Strecke bleiben muss, ist ein Missverständnis.
Das im Herstellen von Assoziationen geübte Gedächtnis werde von Suchmaschinen ersetzt, beklagt Osten, ignoriert dabei aber einerseits, dass Suchmaschinen nichts suchen, was ihnen nicht von Menschen aufgegeben wurde und andererseits, dass sie trotzdem Assoziationen herstellen, auf die ein vernünftiger Mensch nie käme, was aber nur heißt, das unsere Vernunft dazu neigt, sinnvollen vor formalen Assoziationen den Vorzug zu geben. Um die Vorteile einer Suchmaschine zu nutzen, muss man lernen, in Kategorien zu denken, die Maschinen verarbeiten können. (Und die Maschinenbauer müssen lernen, die Arbeitsweise der Maschinen dem menschlichen Denken ähnlicher zu machen.)
Suchmaschinen, mit Verstand benutzt, erzwingen nicht das Vergessen. Sie treten nicht an die Stelle, sondern neben Bücher, Bilder, Bauwerke und andere Gedächtnisstützen und können helfen, die Informationsflut, die unaufhörlich auf uns eindringt, handhabbar zu machen. Die Aufnahmefähigkeit des Gedächtnisses ist, da es ein körperliches Substrat braucht, wahrscheinlich begrenzt, auch wenn wir einstweilen nicht wissen, wo die Grenzen liegen. Hilfsmittel brauchen wir deshalb dringend.
Die kumulative Geschichte
Denn auch wer nicht an Fortschritt glaubt, muss zugeben, dass die Menschheitsgeschichte und damit die Totalität dessen, was erinnert werden kann, kumulativ ist. Die Menge des Wissbaren, das Gedächtnis der Menschheit beinhaltet heute mehr als noch zu Goethes Zeit, die ja nur einen Augenschlag zurück liegt. Die Probleme, die sich daraus für die Bestimmung unserer selbst zwischen Vergangenheit und Zukunft ergeben, können unter den Voraussetzungen des Gegensatzes von Gedächtnis oder Fortschritt nicht gelöst werden.
Dass die digitalen Systeme die Erinnerungskultur zerstören, ist keine ausgemachte Sache. Sie werden sie aber verändern. Dazu, wie das geschieht, gibt Osten trotz des kulturpessimistischen Untertons seines Essays bedenkenswerte Hinweise.
FLORIAN COULMAS
MANFRED OSTEN: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt am Main, Insel, 126 Seiten, 14,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Etwas verhalten äußert sich Uwe Justus Wenzel über Manfred Ostens zwischen Unbehagen und Melancholie changierenden Essay über den Verlust der Erinnerungskultur. Zwar beeindruckt ihn Ostens Gang durch die Geschichte des Vergessens. So bescheinigt er dem Autor, über einen "großen Schatz trefflicher Worte und Wörter" zu verfügen  - von Homer über Goethe gehe es zu Nietzsche und Freud, zu Borges und Botho Strauss, Karl Heinz Bohrer und Odo Marquard. Zudem greife Osten eine Vielzahl von Themen auf, wie die nationalsozialistische Bücherverbrennung, digitalen Speichersysteme und ihre Haltbarkeitsprobleme oder die Hirnforschung. Aber eines stellt Wenzel dann doch unmissverständlich klar: "Zu einer Geschichte fügen sich die Fragmente dieser 'kleinen Geschichte' nicht". Auch eine "eigentliche Diagnose oder These" kann er nicht erkennen. Ob Osten die länger schon um sich greifenden, vergangenheitspolitisch verordneten Erinnerungsrituale als ein Gegengewicht zu dem Verlust der "anamnetischen Kultur" betrachtet, oder diese für eine letztlich verkleidete Formen des Vergessens hält, darüber etwa wird der Leser zu Wenzels Bedauern vom Autor im Unklaren gelassen.

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