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Helmut Schmidt hat das Europa der letzten Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt. Die Artikel und Reden, die dieser Band versammelt, zeugen von dem vielfältigen Engagement eines Europäers aus Leidenschaft. Jetzt steht Europa am Scheideweg: Dies ist auch Thema des Gesprächs zwischen Helmut Schmidt und Joschka Fischer, mit dem das Buch endet.
Die ausgewählten Texte, in einem Zeitraum von über sechzig Jahren entstanden, schlagen den Bogen von den frühen Nachkriegsjahren über die langwierige Diskussion um die Errichtung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bis zur gegenwärtigen Krise.
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Produktbeschreibung
Helmut Schmidt hat das Europa der letzten Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt. Die Artikel und Reden, die dieser Band versammelt, zeugen von dem vielfältigen Engagement eines Europäers aus Leidenschaft. Jetzt steht Europa am Scheideweg: Dies ist auch Thema des Gesprächs zwischen Helmut Schmidt und Joschka Fischer, mit dem das Buch endet.

Die ausgewählten Texte, in einem Zeitraum von über sechzig Jahren entstanden, schlagen den Bogen von den frühen Nachkriegsjahren über die langwierige Diskussion um die Errichtung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bis zur gegenwärtigen Krise. Sich zu Europa bekennen, hieß für Helmut Schmidt immer auch, Opfer zu bringen - und den Bürgern den Sinn dieser Opfer zu erklären. Heute fehlt es vielfach an Verständnis dafür, dass die europäische Integration zu den wichtigsten Interessen der Bundesrepublik gehört, die Stimmung droht zu kippen. Das Zusammenwachsen der Völker Europas war aber von Anfang an ein Geben und Nehmen, und diejenigen, die über die Jahre am meisten davon profitierten, waren wir Deutsche. Der vorliegende Band wirbt für die Fortsetzung der Europäischen Union - im Augenblick ihrer tiefsten Krise.
Autorenporträt
Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, wurde 1918 in Hamburg geboren. Nach seinem Abschied aus der aktiven Politik kam er 1983 als Mitherausgeber zur Zeit. Neben seinen Beiträgen für die Zeit, veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Bei Hoffmann und Campe erschienen Einmischungen. Ausgewählte Zeitartikel von 1982 bis heute (2010), Zug um Zug (mit Peer Steinbrück, 2011), Mein Europa (2013) und Dann wäre ich Hafendirektor geworden (2015). Helmut Schmidt starb am 10. November 2015 in Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014

Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation

Für den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt es in der EU zu viele Leute, "die rumquatschen", aber zu wenige Leute, die wissen, wovon sie reden.

Von Gregor Schöllgen

Helmut Schmidt ist ratlos. Das ist durchaus notierenswert, denn normalerweise hat der Altkanzler für jedes Problem eine Lösung zur Hand. Ursprünglich war das auch im Fall Europas so. Beinahe sechseinhalb Jahrzehnte ist es her, als der Kriegsheimkehrer und Student der Volkswirtschaft im "Mitteilungsblatt der SPD-Landesorganisation Hamburg" forderte, dass "die Konsolidierung Europas als eines die dritte Kraft darstellenden Gesamtkörpers nicht der geruhsamen Entwicklung von Generationen oder auch nur von Jahrzehnten überlassen werden" dürfe, sofern sie "noch rechtzeitig wirksam werden" solle. Nur "bei schnellem gemeinsamen Handeln" bestehe die Hoffnung, dass "eine starke politische und wirtschaftliche Vereinigung" des nicht von den Sowjets besetzten oder kontrollierten Teils von Europa "ein so starkes Gewicht" erlangen könne, dass es "die Balance zwischen West und Ost" zu halten vermöge. Diese in den eigenen Reihen nicht unumstrittene Position des damaligen Vorsitzenden des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) vom Juni 1948 ist gemeinsam mit anderen Aufsätzen und Reden Helmut Schmidts, darunter auch einige im Bundestag gehaltene, jetzt nachzulesen.

Die meisten der rund 30 Beiträge stammen aus der Zeit seiner Kanzlerschaft, also den Jahren 1974 bis 1982, sowie den folgenden drei Jahrzehnten. Sie zeigen einen in Sachen Europa zwischen Tatendrang und Optimismus auf der einen und Enttäuschung und Ratlosigkeit auf der anderen Seite schwankenden Mann. Geblieben ist die Überzeugung, dass es zu einem möglichst umfassend integrierten Europa mit seinem deutsch-französischen Motor keine Alternative geben kann; gewachsen ist die bittere Erkenntnis, dass aus dem vor 65 Jahren geforderten "schnellen gemeinsamen Handeln" nicht viel geworden ist.

Die bürokratische Selbstverwaltung, die an seine Stelle getreten ist, war ein schleichender Prozess, dem alle Bundeskanzler durch mehr oder weniger folgenreiche Initiativen gegensteuern wollten. Auch Schmidt, der sich zugutehalten darf, 1978 im Schulterschluss mit Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing das Europäische Währungssystem (EWS) mit seinen "festen, aber durch einvernehmliche Beschlüsse der Teilnehmer änderbaren Wechselkursen" auf den Weg gebracht zu haben. Tatsächlich gehört die Etablierung des EWS neben der Durchsetzung des Nato-Doppelbeschlusses zu den bleibenden außenpolitischen Leistungen des fünften Kanzlers.

Es überrascht daher nicht, dass Schmidt nicht nur zu den frühen und konsequenten Protagonisten der Europäischen Währungsunion zählte, sondern dass er sich in der zurückliegenden Euro-Krise auch vehement für den Erhalt des Euro-Verbundes ins Zeug legte. Dafür sprechen nach wie vor nicht nur handfeste wirtschaftliche Interessen, würde doch "die bloße Absicht der Wiederherstellung nationaler Währungen" sogleich "eine wiederhergestellte D-Mark kolossal aufwerten, damit den deutschen Export schwer behindern, die Basis unseres hohen sozialen Wohlstandes, und ungezählte deutsche Arbeitsplätze vernichten". Schlimmer noch, könnte ein Scheitern der gemeinsamen Währung auch ein Scheitern des integrierten Europa nach sich ziehen. Und das ist der eigentliche Albtraum des Helmut Schmidt.

Denn was ist dieses Europa im 21. Jahrhundert? "Wir haben keine gemeinsame Sprache. Wir haben eigentlich nicht einmal eine gemeinsame Religion." Wohl wahr, wir haben "eine große Zahl gemeinsamer Grundwerte", sind "von der Notwendigkeit der Grundrechte überzeugt", haben "ein System der Gewaltentrennung etabliert" und sind "gemeinsam von den Vorzügen der parlamentarischen Demokratie überzeugt". Aber sind diese gemeinsamen Bande auch dann belastbar, wenn es um alles oder nichts geht? Folgt man Schmidt, geht es für den alten Kontinent in diesem Jahrhundert um nicht weniger als die "Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation", denn die Europäer stehen vor der Marginalisierung. Das liegt zum einen an selbstverschuldeten Versäumnissen. So ist es bis heute nicht gelungen, eine politische Union zu etablieren, die diesen Namen verdienen, der Währungsunion das fehlende Fundament verschaffen und damit jene "gemeinsame ökonomische Politik" ermöglichen würde, die nicht nur der Altkanzler in der noch keineswegs ausgestandenen Währungskrise vermisst hat. Für andere Entwicklungen, die den Europäern gefährlich werden können, tragen sie allerdings nur eine mittelbare Verantwortung: Als der junge Schmidt seine eingangs zitierten Visionen und Forderungen zu Papier brachte, lag der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung bei knapp 20 Prozent, also rund einem Fünftel. Wenn er sich heute vorstelle, "wie das Verhältnis im Jahr 2100 aussehen wird", werde ihm "schwarz vor Augen". Denn schon 2050 dürfte "der Anteil der Europäer unter zehn Prozent liegen". Ähnliches gilt für ihren Anteil am Weltsozialprodukt. Das erläutert Schmidt in einem Gespräch mit dem vormaligen Außenminister Joschka Fischer, das den Band abrundet.

Hier lässt er seinen Sorgen ungebremsten Lauf, moniert einmal mehr, dass es in der EU "zu viele Leute" gibt, "die rumquatschen, aber zu wenige Leute, die wissen, wovon sie reden", warnt vor einer Aufnahme der Türkei und schließt argumentativ zugleich den Kreis zur demographischen Entwicklung und ihrer Folge, der Marginalisierung Europas und seiner Zivilisation. Denn "man muss wissen, dass die Türken sehr zeugungsfreudig sind. [...] Die Aufnahme der Türkei [...] bedeutet Freizügigkeit für alle Türken, und die werden mit zig Millionen nach Mitteleuropa drängen." Diesen Albtraum hatten die Europäer schon einmal - allerdings zu einer Zeit, die selbst Helmut Schmidt nicht mehr erlebt hat.

Helmut Schmidt: Mein Europa. Reden und Aufsätze. Mit einem Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Joschka Fischer.

Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2013. 367 S., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gregor Schöllgen kann nur staunen, wie lange das alles her ist. Wenn er die in diesem Band versammelten Reden und Aufsätze des Altkanzlers Helmut Schmidt liest, namentlich die aus Schmidts Kanzlerzeit 1974-1982, und sich Schmidts Aufruf zu einer möglichst raschen Konsolidierung Europas vor Augen führt, kann er mit Schmidt feststellen, dass es zu diesem schnellen Handeln wahrlich nicht gekommen ist. Festellen kann er allerdings auch, welche Bedeutung die Etablierung der EWS und der Nato-Doppelbeschluss haben und wie groß also der Verdienst des Altkanzlers in mancher Hinsicht ist. Schmidts ebenfalls im Band enthaltener Rückblick scheint Schöllgen wiederum eher sorgenvoll.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2014

Von Usbekistan
bis Marokko
Wo liegt Europa? Kann die EU so etwas wie Heimat
sein? Worum es geht bei den Europawahlen
VON DIETMAR SÜSS
Es raunt in Deutschland. Endlich, so tönt es auf vielen Kanälen, endlich werden die Deutschen die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg los.
  Doch damit nicht genug. Die erinnerungskulturelle Schlacht um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist längst keine „historische“ Debatte um diplomatische Interessen, politische Verantwortung oder Großmachtstreben. Heute geht es – mit Blick auf den Europawahlkampf – um deutlich mehr. Denn zur Disposition steht die Legitimation des europäischen Projekts als eine wesentliche Lernerfahrung aus dem mörderischen Nationalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
  Die neue Kritik am deutschen „Schuldstolz“, ein hässliches Wort der deutschen Rechten, zielt vordergründig auf eine Neubewertung des Ersten Weltkriegs. Doch der eigentliche Fluchtpunkt ist ein anderer: „Die Idee“, so schrieben unlängst einige Historiker in einem kleinen Manifest in der Welt , „dass wir mit ,Europa‘ den Nationalismus bekämpfen müssten, der angeblich die Triebfeder des Dreißigjährigen Krieges des 20. Jahrhunderts gewesen sei, hat den Nationalstaat zu Unrecht diskreditiert.“
  Gibt es aber wirklich einen Zweifel, dass der Nationalstaat im 20. Jahrhundert nicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung war? Bemerkenswerterweise verliert diese Kritik am Euro, am angeblich falschen Geschichtsbewusstsein kaum ein Wort über die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs, über den rassistischen Vernichtungskrieg und den Mord an den europäischen Juden.
  Für eine ganze Generation deutscher Nachkriegspolitiker aller Couleur spielten die Erfahrungen des Zweiten, weniger des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle für
ihre Vision eines gemeinsames Europas. Und dazu zählte auch eine gemeinsame europäische Währung.
  Wie prägend diese historische Erfahrung ist, lässt sich mit viel Gewinn in den Reden und Aufsätzen Helmut Schmidts nachlesen, die er über mehr als fünfzig Jahre hin gehalten und publiziert hat. Auffallend ist die lange und ungebrochene Kontinuität seines europapolitischen Engagements, das schon in den späten Vierzigerjahren begann, als er sich vehement für den Schuman-Plan und die gemeinsame deutsch-französische Kohle- und Stahlproduktion einsetzte – zum Entsetzen seines Parteivorsitzenden Kurt Schumacher.
  Schmidt war beides zugleich: Visionär und Realist, ein Europäer aus Vernunft, der den Integrationsprozess immer auch als notwendige Folge nationaler Interessenabwägung begriff. Das ließ ihn mit scharfer Zunge gegen Regelungswahn wettern, gleichzeitig beispielsweise 1974 mit Engelszungen an die Genossen der Labour-Partei appellieren, ihren Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft nicht rückgängig zu machen. Und er warb, wie anlässlich der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1979, für ein Europa der „sozialen Gerechtigkeit“, das weder von den „Kapitalisten“ noch von einer einzigen kommunistischen Partei regiert werde. Da sprach noch der Kalte Krieg sein Nachtgebet.
  Europa, auch eine gemeinsame europäische Währung, waren für Schmidt Herzensangelegenheiten, und er wurde nicht müde, gerade auch die ökonomischen Vorteile der europäischen Integration für das vereinigte Deutschland zu betonten. „Der Ausbau der Europäischen Union geschieht nicht aus Idealismus“, bekräftigte Schmidt während der Griechenland-Krise im Juli 2010. „Sondern für uns Deutsche ist er eine strategische Notwendigkeit.“ Auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember 2011 erinnerte er seine Genossen daran: „Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn – und außerdem fast alle Juden auf der ganzen Welt – sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zurzeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Peripherie geschehen sind. Wir Deutschen sind uns nicht ausreichend im Klaren darüber, dass bei fast allen unseren Nachbarn wahrscheinlich noch für Generationen ein latenter Argwohn gegen die Deutschen besteht.“ Nur aber aus der Vergangenheit, das betont Schmidt immer wieder, lebe Europa nicht.
  Ihm geht es ums Heute, um die „Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation“. Die Europäer und europäische Werte – wie etwa der Ausgleich sozialer Interessen – drohten an den Rand gedrängt zu werden im globalen Wettbewerb, so die Argumentation Schmidts, der aus diesem Grund einem raschen Beitritt der Türkei skeptisch gegenübersteht – und das mit Argumenten, die ziemlich befremden. Im Gespräch mit Joschka Fischer, das den Abschluss des Bandes bildet, versteigt sich Schmidt zu dem Satz: „Verhandlungen können eines Tages zur Vollmitgliedschaft führen. Dann muss man wissen, dass die Türken sehr zeugungsfreudig sind und es vor dem Ende des 21. Jahrhunderts hundert Millionen Türken geben wird.“
  Die oftmals so verzweifelte Suche nach einer europäischen Identität hat indes allzu leicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die Grenzen Europas immer fließend waren. Die Zeitgenossen zogen die Grenzen jeweils neu. Nach dem Ersten Weltkrieg glaubten beispielsweise viele Intellektuelle, dass die „Neue Türkei“ unter Kemal Pascha rasch ein Teil Europas werden würde. Die Türkei-Debatten haben also einen langen Vorlauf, und sie deuten an, dass das Reden über Europa ein „riesenhafter Roman“ ist, wie das der Wiener Historiker Wolfgang Schmale genannt hat; ein Roman, „in dem Hunderte, vielleicht Tausende Geschichten zusammengefädelt werden, die einerseits „passiert“ sind, andererseits, so wie sie erzählt werden, voller Mythen, Legenden, Verleugnungen“ stecken.   Schmale, ein ausgezeichneter Kenner der europäischen Geschichte, hat kein gewöhnliches Geschichtsbuch vorgelegt, sondern einen Reisebericht, in dem er über „sein“ Europa, persönliche Begegnungen, historische Zusammenhänge, alltägliche Kleinigkeiten berichtet – in einer uneitlen Sprache, mit Blick für Details. In seinem Buch geht es um Menschen und Landschaften, um Erinnerungen und Sehnsüchte nach untergegangenen Welten.
  Er erzählt nicht nur über Berlin und Paris, Wien und Kopenhagen. Seine Reise führt dorthin, wo er „sein“ Europa findet: in Armenien als gemeinsamem Teil der christlich-jüdischen Welt, oder in Usbekistan, wo Europa und Asien aneinanderstoßen. Wenigstens dort, so Schmale, erfreue sich der Euro noch „ungebrochenen Interesses“. Und er erzählt von den Jungen, die die Euro-Münzen sammeln und wissen, aus welchen Ländern sie stammen und welche Münzen ihnen noch fehlen. Seine Reise führt Schmale auch nach Marokko, zu Europas „südlichem Limes“, wo so viele unterschiedliche kulturelle Einflüsse – arabische, schwarzafrikanische, christlich-jüdische –aufeinandertreffen.
  Der Kampf um Europas Grenzen, um die „Festung Europa“ und seine lange imperiale Vergangenheit und Gegenwart: Auch darum geht es in Schmales Buch. Kann Europa so etwas wie Heimat sein? Zurückhaltend ist er gegenüber all den Untergangsszenarien, die vielerorts beschworen werden. Schmale findet sein Europa nicht in Brüssel oder bei der Europäischen Zentralbank. Sein Europa findet er in der Vielgestalt europäischer Erinnerungsorte, in der Verflechtung der vielfältigen Geschichten der Europäer. Das mag manchen naiv anmuten, und natürlich ist damit kein Problem der Währungsunion gelöst. Aber Schmale erinnert daran, dass dieses Europa nie eindeutig definierbar war und sich jenseits der großen Schlagworte von „Europa als Wertegemeinschaft“ konstituierte – wer die spanisch-französische Filmkomödie „L’auberge espagnole“, die Geschichte über eine europäische Studenten-WG in Barcelona, gesehen hat, ahnt, was Schmale etwas abstrakt formuliert.
  Womöglich sind die ehemaligen Erasmus-Studenten der 1990er-Jahre inzwischen die Europa-Experten der Gegenwart und müssen sich nun mit der Reform der Europäischen Union herumschlagen. Altbundespräsident Roman Herzog macht dafür einige Vorschläge, die jedoch kaum jemand als besonderen „Ruck“ empfinden wird. Dafür wiederholt er, geschliffen klar formuliert, viel Bekanntes: die EU als „Überstaat“, als Bürokratiemonster, dem vor allem eines hilft: eine Verschlankung seiner Organe und eine Einschränkung seiner Regelungen. Auffällig ist, wie sehr sich die Argumente liberal-konservativer Staatskritik, die seit den 1980er-Jahren gegen den Sozialstaat vorgetragen wurden, heute in den Debatten über die Reform der EU wiederfinden. Zu Recht beobachtet Herzog jenes „Demokratie-Defizit“, das die Überzeugungskraft der europäischen Idee hat schwinden lassen. Kaum jemand wird bezweifeln, dass es der EU-Kommission an demokratischer Legitimation fehlt und die Macht des Europäischen Parlaments auf allen Ebenen gestärkt werden muss.
  Wie überzeugend Herzogs Idee einer „europäischen Nation“ als eines neuen Großkollektivs ist, wird sich erst noch herausstellen. Doch schon die ersten Versuche, so etwas wie eine gemeinsame europäische Geschichtskultur zu etablieren und daraus in Brüssel ein Museum zu machen, zeigen die Probleme, vor denen ein solch neues Konstrukt steht. Herzog legt viel Wert auf den „Bürger“ und die „Bürgerdemokratie“. Das ist gut und richtig. Gleichwohl nimmt es wunder, wie wenig der Altbundespräsident die EU auch als soziales Projekt begreift, in dem der Bürger nicht nur mehr „Demokratie wagen“ und weniger Bürokratie ertragen soll, sondern auch angesichts der Finanzkrise Schutz vor den Verwerfungen marktwirtschaftlichen Wildwuchses erfährt.
  Wie soll künftig das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus organisiert werden: mithilfe einer weiteren Supranationalisierung der Politik, um ein stärkeres Gegengewicht gegenüber den „Heuschrecken“ zu schaffen? Oder ist die EU selbst ein „neoliberales Projekt“, mit dessen Hilfe sich die globale Finanzelite am Leben hält und geschützt ihren Raubzügen nachgehen kann? Was also können mögliche Alternativen sein? Dazu gehört zunächst eine gesunde Grundskepsis gegenüber aller Rhetorik des „Sachzwangs“ und der „Krise“; dazu gehört auch, wie es Gesine Schwan in einem lesenswerten Interview-Band mit dem Soziologen Hauke Brunkhorst und dem Schriftsteller Robert Menasse formuliert, die Kritik an Begriffen wie „Standortwettbewerb“, die auch Eingang in den Vertrag von Maastricht von 1992 fanden.
  Schwans Urteil: „Standortwettbewerb heißt, dass die Staaten miteinander in Wettbewerb treten, nicht aber die Unternehmen. Wenn Staaten miteinander in Wettbewerb treten, versuchen sie, sich gegenseitig in Sachen Kapitalinvestitionen durch Reduktion von Steuern und Sozialleistungen das Wasser abzugraben. Das hat aber in Europa dazu geführt, dass über die bestehenden, tradierten Vorbehalte und Vorurteile hinaus die Gegnerschaft zwischen den Nationalstaaten verstärkt wurde.“ Schwan will die Rechte des Europarlaments gestärkt und zentrale Entscheidungen mit den nationalen Parlamenten verschränkt sehen – eine „verschränkte Souveränität“, wie sie das nennt –, sodass beispielsweise Gesetze der Kommission oder der Haushalt sowohl im Europäischen als auch in den nationalen Parlamenten behandelt werden könnten. Im Kern geht es Schwan um den Versuch, die Legitimität der europäischen Institutionen und damit das Vertrauen zur Transparenz der Verfahren zu stärken.
  Ganz so konkret wird der österreichische Schriftsteller Robert Menasse nicht, und doch liest man das Gespräch mit viel Vergnügen, gerade wegen der ordentlichen Polemik. Menasse warnt davor, sich vom Begriff der „Finanzkrise“ blenden zu lassen. Denn in ihm spiegeln sich jene grundsätzlichen politischen und institutionellen Widersprüche der Europäischen Union: „Die nachnationale Entwicklung in Europa, die schon relativ weit gegangen ist, stößt immer wieder und immer schärfer auf nationalen Widerstand. Wir haben ein Zwischenstadium zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht.“ Eine „nachnationale Demokratie“ – das ist ein verwegener Vorschlag, der darauf abzielt, dass langfristig nationale Parlamente abgeschafft und die europäischen Institutionen beispielsweise auch Steuern erheben können, gleichzeitig aber auch regionale Partizipationsmöglichkeiten gestärkt werden.
  Das klingt alles noch recht abstrakt, zielt aber doch sehr grundsätzlich darauf, Begriffe wie „Bürgerbeteiligung“ oder „europäische Zivilgesellschaft“ mit Leben zu füllen. Dafür kann es nicht schaden, noch einmal ganz neu nachzudenken. Mit Menasse jedenfalls macht das Spaß und erschöpft sich nicht an der formelhaften EU-Kritik, auch wenn man nicht zu allem, was er sagt, laut applaudieren möchte. Vielleicht ist es das Tröstliche der Lektüre: Der Streit über Europa, sein kulturelles Erbe, seine „Krisen“ und Grenzen, ist nicht neu, und so oft wie Europas Untergang bevorstand, hat es sich an vielen Orten wieder neu erfunden. Eines hat Europa in jedem Fall verdient: mehr Leidenschaft.
Helmut Schmidt : Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer. Hanser, 2013. 368 Seiten, 22,99 Euro.
Wolfgang Schmale : Mein Europa: Reisetagebücher eines Historikers. Böhlau, 2013. 278 S., 24,90 Euro.
Roman Herzog : Europa neu erfinden: Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie. Siedler Verlag, 2014. 160 Seiten, 17,99 Euro.
Gesine Schwan , Robert Menasse, Hauke Brunkhorst: Weil Europa sich ändern muss. Ein Gespräch. Springer VS, 2014. 120 Seiten, 12.99 Euro.
Den Ausbau der EU
bezeichnete Helmut Schmidt als
„strategische Notwendigkeit“
Nach dem Ersten Weltkrieg
glaubten viele, dass die Türkei
bald zu Europa gehören würde
Roman Herzog hegt seine
Vorstellung von einer
„europäischen Nation“
Robert Menasse warnt davor,
den Begriff „Finanzkrise“
ganz ernst zu nehmen
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»Artikel, Reden und Gespräche aus sechs Jahrzehnten formieren sich zu einem glühenden, sozialdemokratischen Plädoyer für ein gemeinsames Europa.« Börsenblatt, 09.01.2014