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Die große Wiederentdeckung aus Amerika.
"Ein Amerikaner" liest sich wie das Kaleidoskop einer Reise durch die Seele Amerikas, ein unabwendbares Schicksal, derart reich an Entdeckungen und Kontrasten, dass Roths moderne Interpretation des wandernden Juden selbst Tocqueville geblendet zurückgelassen hätte." -- Los Angeles Times
Henry Roth, der 1995 starb, hatte eine ungewöhnliche Schriftstellerkarriere. Sein erster Roman "Nenn es Schlaf" (1934) wurde in Amerika zu einem großen Erfolg und zum Klassiker. Es folgten sechs Jahrzehnte der Schreibblockade, bis er mit über achtzig Jahren nach dem
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Produktbeschreibung
Die große Wiederentdeckung aus Amerika.

"Ein Amerikaner" liest sich wie das Kaleidoskop einer Reise durch die Seele Amerikas, ein unabwendbares Schicksal, derart reich an Entdeckungen und Kontrasten, dass Roths moderne Interpretation des wandernden Juden selbst Tocqueville geblendet zurückgelassen hätte." -- Los Angeles Times
Henry Roth, der 1995 starb, hatte eine ungewöhnliche Schriftstellerkarriere. Sein erster Roman "Nenn es Schlaf" (1934) wurde in Amerika zu einem großen Erfolg und zum Klassiker. Es folgten sechs Jahrzehnte der Schreibblockade, bis er mit über achtzig Jahren nach dem Tod seiner Frau zum Schreiben zurückkehrte und in einem Schaffensrausch Tausende von Manuskriptseiten verfasste, die später in einen vierbändigen Romanzyklus einflossen. Romanheld und Alter Ego in all seinen Werken ist die jüdisch-amerikanische Figur des Ira Stigman, dessen Lebens- und Leidensweg fast ein ganzes Jahrhundert umfasst. "Ein Amerikaner" ist der krönende Abschluss seines Werks, in dem Roth nicht nur die dreißiger Jahre in Amerika wiederaufleben lässt, sondern auch seiner Ehefrau, der Pianistin und Komponistin Muriel Parker, ein Denkmal setzt.
Autorenporträt
Roth, Henry
Henry Roth (1906-1995) wurde als Sohn jüdischer Eltern in Galizien geboren. 1909 emigrierte die Familie nach New York. Roth wuchs in Brooklyn und der Lower East Side auf. Später studierte er am City College, New York. Mit Anfang dreißig veröffentlichte er seinen Debütroman Call it Sleep (Nenn es Schlaf). Nach Jahrzehnten der Schreibblockade arbeitete er bis zu seinem Tod an dem mehrbändigen Romanzyklus Mercy of a Rude Stream. Der Roman Ein Amerikaner ist sein letztes Werk, das von einem Lektor des New Yorker bearbeitet und herausgegeben wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2011

Ein Phönix aus Stapel zwei
Henry Roths autobiographischer Roman „Ein Amerikaner“ über die USA der Großen Depression wurde aus dem Nachlass rekonstruiert
Es beginnt mit einem tödlichen Unfall: Als Ira Stigman und seine neue Liebe M. einen Spaziergang zu einer nahe gelegenen  Pferderennbahn unternehmen, werden sie Zeugen eines schrecklichen Sturzes. Ein Jockey, der gerade ansetzt, sich an die Spitze des Hauptfeldes zu setzen, kommt genau vor ihren Füßen zu Fall. Sein Pferd kann sich noch einmal aufrichten, bevor es nach ein paar unbeholfenen Sätzen zusammenbricht. Die herbeigeeilten Helfer erschießen es an Ort und Stelle. Ira sieht in dem Unglück, das an das berühmte Pferderennen in Tolstois „Anna Karenina“ erinnert, ein düsteres Omen – nicht für seine gemeinsame Zukunft mit M., sondern für seine Zukunft als Schriftsteller. „Hinter uns lag eine Szene, über die ich noch sehr viel nachdenken sollte: von einem Pferd, das zugrunde ging, als das Rennen begann“, schreibt der Ich-Erzähler im Prolog von Henry Roth’ Roman „Ein Amerikaner“, der im vergangenen Jahr aus dem Nachlass des amerikanischen Schriftstellers herausgegeben wurde und nun auch auf Deutsch erschienen ist.
Denn dieser Ira Stigman steckt in einer tiefen Schreibkrise. Die Veröffentlichung seines vielversprechenden ersten Romans liegt zwei Jahre zurück. Mittlerweile ist das Buch vergriffen, und mit dem zweiten kommt der 32-jährige Ira nicht voran. Von ein paar Wochen in der Künstlerkolonie Yaddo in Saratoga Springs in upstate New York verspricht er sich im Sommer 1938 inspiriertes Arbeiten, frei von den Ablenkungen im Greenwich Village, wo er zusammen mit der zehn Jahre älteren Literaturdozentin Edith in deren Apartment lebt. Doch bei seiner Rückkehr nach Manhattan sitzt zwar in Gestalt der jungen Komponistin M. eine neue Frau neben ihm in dem kleinen Ford Model A, der Iras ganzer Stolz ist, aber ein neues Buch steckt nicht in seiner schicken ledernen Büchertasche auf der Rückbank, die von Ediths Geld angeschafft worden ist.
Und Ira hat plötzlich gleich zwei Probleme: Mit der unvermeidlichen Trennung von Edith, die ihn, den jüdischen Jungen aus den Slums der Lower Eastside, am College entdeckt und gefördert hat, die ihn seit Jahren aushält und ihm ein elegantes, sorgenfreies Leben in den Künstlerkreisen von New York City ermöglicht, verliert er seinen Lebensunterhalt, während die anhaltende schöpferische Krise seine wirtschaftliche Eigenständigkeit in weite Ferne rückt. Anstatt sich dem Dilemma zu stellen, flieht Ira an die Westküste. Er beschließt, mit seinem Kumpel, dem überzeugten Marxisten Billy Loem, in dem Ford Model A den Kontinent zu durchqueren, um sich in Hollywood als Drehbuchautor zu verdingen. Es soll der heroische Beginn eines Reifeprozesses sein, auch wenn Edith immer wieder Geld nach Kalifornien schicken muss.
Iras Schreibblockade, Dreh- und Angelpunkt von „Ein Amerikaner“, ist keine literarische Fiktion. Vielmehr hat Henry Roth seinen letzten Roman selbst einer Krise abgerungen, die letztlich der Grund dafür war, weshalb er das Buch bis zu seinem Tod 1995 nicht vollenden konnte. Roth ist der berühmteste Fall eines writer’s block. Wie seinem Alter Ego Ira Stigman, der das Stigma schon im Namen trägt, war Roth mit seinem Debütroman „Nenn es Schlaf“ 1934 ein großer Erfolg gelungen, nach dessen Erscheinen er für Jahrzehnte verstummte. Erst mit über achtzig Jahren schrieb er den vierbändigen Roman-Zyklus „Mercy of a Rude Stream“, dessen Protagonist ebenjener Ira Stigma ist. In „Ein Amerikaner“ schrieb er die Geschichte seines Helden dann bis in die Gegenwart fort, und zwar buchstäblich im Wettlauf gegen die Zeit.
Eintausendneunhundert Seiten umfasste das Rohmanuskript, das Roth als „Batch 2“ (Stapel zwei) bezeichnete. Aus diesem Konvolut hat der damalige Assistent in der Literaturredaktion des New Yorker, Willing Davidson, in jahrelanger Arbeit den Roman „Ein Amerikaner“ extrahiert, so wie er jetzt vorliegt. Es handelt sich also um ein editorisches Konstrukt, die Umformung eines Fragments in einen Roman. Dass das Buch dabei homogen wirkt, liegt vor allem daran, dass die Schilderung der späten dreißiger Jahre, beginnend mit Iras Trennung von seiner Mentorin Edith und endend mit der Hochzeit von Ira und M., ein relativ geschlossenes Ganzes bildet, während der Herausgeber die unausgearbeiteten Partien, in welchen es um die nachfolgenden Jahrzehnte geht, nicht in die Buchausgabe übernommen hat. Als Rahmenhandlung dienen zwei eingeschaltete Kapitel, in denen der mittlerweile alte und todkranke Ira Stigman in den 1990er Jahren vom Sterben seiner Frau, jener M., die der Leser als blühendes junges Mädchen kennenlernt, berichtet und von seinem verzweifelten Kampf, den Roman zu Ende zu schreiben.
Dass dem ungleichen Paar – er ein jüdischer Underdog und Einwandererkind der ersten Generation, psychisch labil, genusssüchtig, phlegmatisch und voller Selbstzweifel, sie eine höhere Tochter aus altem Neuengland-Adel – fünfzig glückliche Ehejahre bevorstehen werden, scheint allerdings die längste Zeit mehr als ungewiss. Nicht nur, weil die Ablösung von Edith sich schwieriger gestaltet als gedacht, zumal Ira in Kalifornien Schiffbruch erleidet, in einem schäbigen Wohnheim strandet und bald sein geliebtes Auto verkaufen muss, um sich mit dem Erlös über Wasser zu halten. Sondern auch, weil er in eine neue, emotionale Abhängigkeit zu seinem Kumpel Billy gerät, der mit seinem Gerede über die korrupte „Booshwasie“ heftig an die Schuldkomplexe des im Grunde unpolitischen Salonkommunisten Ira appelliert. Ist nicht gerade das Fehlen eines politischen Standpunktes der Grund für seine literarische Lähmung, fragt er sich, muss man nicht einsehen, dass der Ästhet bankrott ist in einer Zeit, da die Weltwirtschaftskrise das Land verelenden lässt?
Deren Härten lernt Ira so recht erst an der Westküste kennen, unter den Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Beschaffungskriminellen, und vollends, als er versucht, zurück nach New York zu trampen und sich schließlich den Hobos anschließt, die auf die Güterzüge in den Osten aufspringen. Aber dass Ira auf halber Strecke dann doch wieder um Geld für eine Zugfahrkarte bittet, diesmal M., heißt nicht, dass er nicht doch noch erwachsen wird.
Nach seiner Rückkehr geht er nicht mehr den bequemsten Weg, der darin bestünde, in M.’s Studiowohnung einzuziehen; er beantragt vielmehr Wohngeld und begnügt sich mit billigerem Pfeifentabak. Als er beobachtet, wie ein heillos überladener Lastwagen mit Achsbruch auf einer Kreuzung liegen bleibt, bündelt er den Vorfall in einer Kurzgeschichte, die den sozialen Unfrieden jener Jahre auf wenigen Seiten genau wiedergibt. Diese Geschichte wird endlich vom New Yorker angenommen. Es ist Iras Wiederauferstehung als Schriftsteller, die ihm auch die Kraft gibt, vor dem provozierenden Selbstbewusstsein seiner neureichen Schwiegereltern nicht zu verzagen, auch wenn er wie Henry Roth zeitlebens eine starke Frau an seiner Seite brauchen wird, die aufpasst, dass sein literarisches Talent nicht versiegt.
„Ein Amerikaner“ besticht vor allem durch eine stoffliche Fülle, die einen darüber hinwegsehen lässt, dass sich der Roman nicht durchweg auf höchstem literarischen Niveau bewegt. Auf Passagen von geradezu hymnischer Verdichtung folgen ganze Kapitel, deren staunenswerte stilistische Unambitioniertheit ahnen lässt, dass Roth nicht mehr dazu gekommen ist, sie zu überarbeiten. Hier schaut man dem Roman sozusagen unter die Motorhaube, und es ist die eines unverwüstlichen Model A von Ford. Dass das Buch zwischen den Genres oszilliert und sich jäh wendet, vom Künstlerdrama zur Liebesgeschichte, von der Sozialreportage zur Roadnovel, als die es nebenbei der wohltuend ernüchterte Gegenentwurf zu Jack Keroucs romantisierendem Prosagesang „On the Road“ ist, macht neben Roth’ Genauigkeit und Ungeschütztheit als Beobachter die Größe dieses unbedingt lesenswerten Romans aus. Als Fremdkörper nehmen sich dagegen die Modernismen im eigentlich eher altmodischen Duktus von Heide Sommers deutscher Übersetzung aus. Wörter wie „gemobbt“, „ausgebremst“, „halbgar“ oder „finanziell ausgetrocknet“ stecken wie falschbunte Dartpfeile in den sprachlichen Jahresringen, an denen sich ablesen lässt, wie lange dieser Roman gewachsen ist. CHRISTOPHER SCHMIDT
HENRY ROTH: Ein Amerikaner. Roman. Aus dem Englischen von Heide Sommer. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 384 Seiten, 23 Euro.
Aus den über tausend Seiten
des Rohmanuskripts destillierte
der Herausgeber die Essenz
Der Roman ist das wohltuend
unromantische Gegenstück zu
Kerouacs „On the Road“
Tausche Auto gegen Job: Wie viele Arbeitssuchende während der Großen Depression war auch dieser Mann auf unserem 1932 in den USA entstandenen Foto bereit, seine Mobilität zugunsten eines Einkommens zu opfern. Das untere Bild zeigt eine undatierte Aufnahme des jungen Henry Roth.
Fotos: Scherl,
Hugh Roth/Reuters
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2011

Scheitern eines amerikanischen Traums

Die Bücher von Henry Roth sind Ereignisse. Mit "Ein Amerikaner" liegt nun der fünfte Band seines Romanzyklus "Die Gnade eines wilden Stroms" vor: das Dokument einer rettenden Liebe.

Von Andreas Nohl

Jede neue Publikation aus dem Nachlass von Henry Roth kommt einer Sensation gleich. Der junge amerikanische Literaturredakteur Willing Davidson hat sich der Arbeit unterzogen, aus einem Konvolut von annähernd 2000 Manuskriptseiten ein zusammenhängendes Stück Erzählliteratur zu destillieren, das nun in einem Umfang von 370 Seiten auf Deutsch vorliegt: "Ein Amerikaner", im Original "An American Type". Zu danken ist dieses literarische Ereignis vor allem der Übersetzerin Heide Sommer, die sich von der ersten Stunde an für die Publikation der nunmehr fünfbändigen romanhaften Autobiographie "Mercy of a Rude Stream" in Deutschland eingesetzt hat. Auch wenn man ihren Übersetzungsentscheidungen nicht immer zustimmen möchte: Ihr gebührt das höchste Lob.

Henry Roth gilt aufgrund seines Romans "Call It Sleep" (Nenne es Schlaf) zu Recht als einer der großen jüdisch-amerikanischen Autoren des vergangenen Jahrhunderts. Mit nur achtundzwanzig Jahren legte er diesen Roman 1934 vor - die in Inhalt und Form ungeheuerliche Geschichte des kleinen jüdischen Einwandererjungen David Schearl in New York. "Eine der größten literarischen Leistungen in der amerikanischen Literatur dieses Jahrhunderts", schrieb der englische Kritiker Walter Allen; als Parallelen wurden Joyces "Ulysses" und Twains "Huckleberry Finn" genannt. Denn "Call It Sleep" ist ein Roman, der sich, neben avancierten Erzähltechniken, in ungewöhnlicher Meisterschaft und Differenzierung der Slangsprache des Schmelztiegels bedient. Aber nicht die formalen Eigenschaften machen das Buch zu einem Meisterwerk, sondern die atemberaubende Intensität der Erzählung selbst.

Das Buch, kaum erschienen, geriet durch den Bankrott des Verlages in den Strudel der wirtschaftlich desaströsen Zeiten und in Vergessenheit, während Henry Roth sich in einer massiven Schreibblockade verlor. Sechzig Jahre lang schwieg der Autor - abgesehen von einer erratischen Sammlung kürzerer Texte, die sein italienischer Übersetzer und Freund Mario Materassi unter dem Titel "Shifting Landscape" 1987 herausgab. Roth wurde unterdessen Metallschleifer, Mathematiklehrer, Geflügelzüchter, Vater zweier Söhne. Die Publikation des ersten Bandes seiner Autobiographie, "A Star Shines over Mt. Morris Park", erregte 1994 großes Aufsehen. Der Verlag kündigte fünf weitere Bände an. Bereits der nächste, "A Diving Rock on the Hudson", der noch im letzten Lebensjahr von Roth erschien, enthielt die einschränkende Vorbemerkung: "Dieser Roman ist keine Autobiographie und sollte auch nicht als solche verstanden werden."

Die Warnung - die übrigens in der deutschen Ausgabe fehlt - war deswegen sonderbar, weil in dem Buch für jedermann ersichtlich das authentische Leben des Autors behandelt wurde. Damit verschob sich die Definition des Werks von der romanhaften Autobiographie zum nicht autobiographischen Roman. Geschuldet war dies dem Umstand, dass Roth in diesem zweiten Band eine in der Geschichte der Literatur einzigartige Zäsur vornahm: auf Seite 141 wird der Stammbaum der Familie, der dem Buch voransteht, erneut und erweitert abgedruckt. Der Grund für diese Veränderung liegt darin, dass der Autor unvermittelt die jüngere Schwester Minnie einführt, mit der Ira ab der Pubertät ein intensiv-inzestuöses Verhältnis pflegt - mit Lust und Beschämung und einer Wucht der Selbstverwerfung, die in der Rückschau alttestamentarische Züge annimmt. Um einem Prozess mit Roths Schwester vorzubeugen, wurde das Buch als fiktiver Roman ausgegeben.

Das änderte aber keineswegs etwas daran, dass die vier Bände eine (auto)biographische Einheit bilden. Sie decken etwa den Zeitraum von 1914 bis 1930 ab. Diese vier Bücher sind in der Folge auch auf Deutsch erschienen, allerdings bei drei verschiedenen Verlagen: Beltz-Quadriga ("Die Gnade eines wilden Stroms", "Ein schwimmender Fels am Ufer des Hudson"), Ullstein ("Die Entfesselung"), Rotbuch ("Requiem für Harlem"). Nun "Ein Amerikaner" bei Hoffmann und Campe.

Protagonist des Buchs ist Ira Stigman, das Alter Ego des Verfassers. Ira heißt im Hebräischen der Wachsame/Wehrhafte, im Lateinischen Zorn. Lässt man bei Stigman den letzten Buchstaben weg, bleibt Stigma übrig. Welches Stigma also trägt der wachsame, zornige Ira hier?

Ira hat seinen großen Roman abgeschlossen; er ist Anfang Dreißig und wird ausgehalten von der New Yorker Literaturprofessorin Edith. Die Kritik der kommunistischen Linken, sein Roman sei im Grunde "bourgeois", schüchtert Ira ein. Er ist in jeder Hinsicht um Anpassung bemüht. Ein Stipendium in der Künstlerkolonie von Yaddo soll seinem zweiten Roman - proletarisch korrekt über den verkrüppelten Arbeiter Bill Loem - neuen Schwung verleihen. Dort aber lernt er die elegante junge Komponistin M kennen, sie verlieben sich. Ira ist mit seiner Situation unzufrieden, vor allem mit seiner finanziellen Abhängigkeit von Edith und seiner Unfähigkeit, etwas Neues zu schreiben und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Kurzentschlossen fährt er mit Bill und dessen Familie nach Los Angeles, um dort Arbeit als Drehbuchschreiber zu suchen. Diese Reise wird durch die manische Unausgeglichenheit von Bills Charakter, seine pseudorevolutionäre Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit zur seelischen Höllenfahrt. Bill ist in vieler Hinsicht ein Spiegelbild von Iras eiferndem, jähzornigem Vater. Aber auch hier befindet sich Ira in einer verdrießlichen Abhängigkeit, und es wird schnell deutlich, warum er seinen Roman über Bill nie zu Ende schreiben wird.

Erst seine Trennung von Bill und seine Rückkehr nach New York unter abenteuerlichsten Umständen geben der Handlung einen romanhaften Schub. Die Fahrt als Tramp in Güterwaggons - "in dieser donnernden Krypta auf Schienen" - quer durch die Vereinigten Staaten mit den typischen abgerissenen Figuren erinnern stellenweise an Jack Londons "Abenteuer des Schienenstrangs". Zurück in New York trennt sich Ira von Edith und schmiedet zusammen mit M jenes Liebesbündnis, das beide in geradezu symbiotischer Weise vor den Bedrängnissen einer aus den Fugen geratenen Zeit beschützen wird.

Zugleich ist dieser Roman ein Buch des Abschieds: Bereits der Prolog schlägt einen Bogen von der Werbung um M bis zu ihrem Tod. Immer wieder beschwört der Autor das Bild der hochgewachsenen, schlanken Frau herauf, die ihm mit ihrem eher vornehmen Oak-Park-Hintergrund - "ausgerechnet der Heimat von Ernest Hemingway" - die Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft verhieß, die er als jüdischer Außenseiter so sehr ersehnte. Denn der Antisemitismus im Amerika jener Depressionsjahre war keineswegs nur latent: "Und kaum hatten sich alle auf ihre Plätze gesetzt, als auch schon die fatale Frage gestellt wurde - und zwar von dem ehemaligen Geflügelzüchter, der rechts neben ihm saß: Ob Ira Jude sei. ,Wer - ich?' Eine Sekunde warten, um das Schwanken vor dem Absturz zu verlängern: ,Nein, ich doch nicht.' Und dann folgte das übliche Herumgebohre." Da sie ihn dennoch für einen Juden halten, können sie ihn nun "schikanieren, über ihn herfallen und ihn in die Judenzange nehmen - ihre Lieblingsbeschäftigung".

Doch nicht der Antisemitismus, auch nicht allein die Herkunft aus armen jüdischen Verhältnissen liegt der spezifischen Lebensproblematik des Protagonisten zugrunde. Die Wucht und auch die Schonungslosigkeit, mit der Henry Roth zum Teil über sein Alter Ego zu Gericht sitzt, belegen eine schmerzhafte Zerfallenheit des Autors mit sich selbst. In "Ein Amerikaner" entsteht das Bild eines zutiefst verunsicherten, fast krankhaft ambivalenten Mannes. Von Anfang an herrscht der Ton des Selbstzweifels.

Iras Stigma ist das des künstlerischen Außenseiters, der die Hoffnungen, die in ihn gesetzt werden, nicht erfüllen kann. Mit scharfem Blick seziert Roth das eigene Ungenügen nicht anders als das seiner Zeitgenossen. Sie alle haben ihre Ideale aufgegeben. Bill Loem ist alles andere als der Vorzeigeproletarier, mit dem sich eine bessere neue Welt aufbauen ließe. Der Vater von M hat seine protestantisch-christlichen Ideale für einen lukrativeren Job an den Nagel gehängt. Das moralische Scheitern lauert überall in Amerika, auch und vor allem bei den Einwanderern. "Ira hatte das Gefühl, dass für alle seine Verwandten die Ankunft in diesem Land zu einer Art prosaischer Tragödie geworden war. . . Sie schienen sich aufzuopfern für etwas, das Ira nicht benennen konnte. Für Amerika? Die amerikanische Lebensart? Den amerikanischen Traum? Es kam ihm so vor, als opferten sie sich für den Erfolg."

Ira ist nicht bereit, diesen Weg um des Erfolgs willen mitzugehen. Er hat nur zwei Möglichkeiten: die berufliche Selbstentfremdung, die er bei allen Menschen sieht, zu teilen oder die Entfremdung des Künstlers von der Gesellschaft in Kauf zu nehmen. Vor beidem scheut Ira zurück, und eine Lösung der paradoxen Krise findet sich allein in der Liebe zu M. Insofern ist "Ein Amerikaner" das Dokument einer großen, rettenden Liebe.

Das Projekt, aus einem großen Konvolut von Manuskriptseiten durch editorische Eingriffe ein neues Buch herzustellen, kennt überzeugende Vorbilder: 1986 erschien "The Garden of Eden" von Hemingway, und der Leser, der den Autor längst zu kennen glaubte, entdeckte eine vollkommen neue Facette an ihm. Ähnlich gelungen war 1999 die Publikation "True At First Light" von demselben Autor.

Die vier Vorläuferbände von Roths Autobiographie verzichten auf eine geschlossene Romanhandlung, vielmehr entwickelt sich die Erzählung aus episodischen Erinnerungsfragmenten. Neben dem Protagonisten Ira, dessen Geschichte erzählt wird, steht der achtzigjährige Schriftsteller, der sich erinnert und zugleich von seinem beschwerlichen Alltag Zeugnis gibt. Er leidet unter rheumatoider Arthritis und kann mit seinen schmerzverkrümmten Fingern nur noch am Computer schreiben: A. C. und P. C., die christliche Zeitrechnung, wird für ihn zu Ante und Post Computer. "Ecclesias", der nach dem Predigerbuch des Alten Testaments ("Alles ist eitel") benannte Computer, vertritt in den inneren Gesprächen des Autors eine objektivierende Instanz. Schonungslos weist er auf Unterschlagungen des erinnernden Bewusstseins hin und erspart dem Autor keine noch so peinliche Selbstentblößung.

Dieses starke kathartische Moment fehlt in "Ein Amerikaner". Aber mehr noch, die Alltagsszenen, darunter auch die kostbaren Miniaturen, die das Eheleben mit M im Wohntrailer schildern, sowie die fein gearbeitete episodische Struktur wurden aufgegeben zugunsten einer braven chronologischen Erzählung. Im Vergleich mit den Vorgängerbüchern fühlt sich das Ganze an wie ein Braten aus zusammengeklebtem Fleisch. Die Zerrissenheit, die ständige Selbstinfragestellung, die in der komplexen Textform ihre ästhetische Beglaubigung erhielt, wird dadurch auf inhaltliche Einsprengsel reduziert. Durch die Konstruktion eines Prologs und Epilogs versucht der Herausgeber, eine Klammer zu schaffen, die den Verlust der mehrschichtigen Struktur kompensieren soll - mit unzureichendem Erfolg. Die Beschwörung von M im Epilog - "seine M, seine unbeschreiblich kostbare M, ein Teil von ihm, mit ihm verflochten, verwoben, eins geworden, eins, eins, eins" - liest sich formelhaft und jedenfalls diametral dem entgegengesetzt, was Henry Roth in seinen anderen Werken der amerikanischen Literatur an neuen Dimensionen, an neuer Tiefe und Empathie erobert hat.

Henry Roth: "Ein Amerikaner". Roman.

Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 448 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Da Henry Roth vor allem als berühmtestes Beispiel einer fast lebenlangen Schreibblockade gilt, begrüßt Bernadette Conrad den posthum erschienenen Roman "Ein Amerikaner" besonders. Hier kann man nämlich einen Erzähler entdecken, der ungemein komisch ist und von Geschichten aus dem jüdischen Einwanderermilieu nur so sprudelt, schwärmt sie. Wie schon sein Alterswerk "Mercy of a Rude Stream", das Roth mit über 80 Jahren schrieb, ist auch die Hauptfigur dieses Romans autobiografisch angelegt, erfahren wir. Erzählt wird die Geschichte des Sohns jüdischer Einwanderer, der vor seiner Mäzenatin und vor seiner künftigen Frau quer durch Amerika flieht, erklärt die Rezensentin. Sie ist hingerissen von der komischen und selbstironischen Darstellung nicht nur des Protagonisten, sondern der vielen skurrilen Gestalten seiner Verwandtschaft, die unter Entwurzelung und Antisemitismus in der neuen Heimat leiden. Nicht verschweigen will die Rezensentin, dass der Roman vom Lektor des "New Yorker", Willing Davidson, aus einem ungeordneten Textkonvolut erst zusammengestellt und mit einer Rahmengeschichte versehen worden ist. Aber das Ergebnis überzeugt sie offensichtlich, und sie gibt ihrer Hoffnung Ausdruck, dass der 1995 gestorbene Autor noch von vielen Lesern als faszinierender Erzähler entdeckt wird und nicht nur als derjenige in Erinnerung bleibt, der fast 60 Jahre nicht schreiben konnte.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein Stück amerikanische Geschichte und zugleich eine wunderbare Liebesgeschichte im Amerika der großen Rezession." Bücher, 07.2011