Produktbeschreibung
Die Macht der Vergangenheit
Autorenporträt
Ljubic, NicolNicol Ljubic wurde 1971 in Zagreb geboren und wuchs als Sohn eines Flugzeugtechnikers in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf. Er studierte Politikwissenschaften und arbeitet als freier Journalist und Autor. Seine Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis. 2010 erschien sein Roman Meeresstille, für den er den Adelbert-von- Chamisso-Förderpreis und den ver.di Literaturpreis Berlin-Brandenburg erhielt. Zuletzt gab er die Anthologie Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit (2012) heraus.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010

Zwei Leben, ein Gerichtsstand
Von der Liebe in Zeiten des Nachkriegs: Nicol Ljubic und sein Balkan-Berlin-Roman „Meeresstille”
Ein junger Deutscher, dessen Vater vor vielen Jahren als Gastarbeiter aus Kroatien ins Land gekommen ist, lernt in Berlin endlich die Frau kennen, die ihn der Fadesse seines Lebens entreißt. Die schöne, temperamentvolle Ana ist eine Studentin aus Serbien, arbeitet abends als Garderobiere im Theater und hat für jeden Anlass einen Satz von Shakespeare parat. Denn ihr Vater, einst Professor für Anglistik in Sarajevo, war der führende Shakespeare-Experte des Balkans. Heute steht er freilich nicht mehr vor seinen Studenten, um sie über das Motiv der Rache bei dem englischen Dramatiker zu unterrichten, sondern als Angeklagter vor dem Tribunal in Den Haag, wo er sich gegen den Vorwurf zu wehren hat, er sei in ein abscheuliches Kriegsverbrechen in Visegrad verwickelt gewesen.
Dort, im Osten der einstigen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina, war 1992 die muslimische Bevölkerung, die knapp die Mehrheit der Stadt stellte, in einer groß angelegten ethnischen Säuberung vertrieben worden. Zahllose Flüchtende wurden erschlagen, erstochen oder erschossen und von der uralten Steinbrücke über die Drina, der Ivo Andric seinen berühmten Roman gewidmet hat, in den Fluss geworfen. Der ehrenwerte Professor Simic, über den vor dem Krieg ein jeder nur das Beste zu sagen wusste, soll muslimische Familien zu einem Haus geleitet haben, in dem sie sich in der Obhut des Roten Kreuzes sicher wähnten, ehe nächtens serbische Freischärler, von ihm geholt, das Haus verriegelten und anzündeten.
Hier Robert, der Deutsche mit kroatischen Wurzeln, der sich für seinen tüchtigen Vater nie besonders interessiert und auch dessen Sprache nicht erlernt hat – dort Ana, die stolze Serbin, die ihrem geächteten Vater die Treue hält und ein erschreckendes Geheimnis hütet. Zehn Monate waren die beiden zusammen, die für Robert das ungetrübte Glück bedeuteten. Doch hat ihm Ana all die Zeit von ihrem Vater nur erzählt, er sei warmherzig und immer ein wenig traurig gewesen, nicht jedoch, dass er im Gefängnis sitzt und sie ihm Briefe nach Den Haag schreibt. Seit drei Wochen ist das Paar getrennt, und Robert, der die Briefe des Vaters entdeckt hat, hadert mit dem „Gefühl, betrogen zu sein, diesem Gefühl, dass sie zwei Leben führte, eines mit ihm, eines ohne ihn”. Es kränkt ihn, dass Ana sich ihm nicht offenbarte, aber er erkennt auch sein eigenes Versagen: Wie unaufmerksam, selbstbezogen musste er gewesen sein, dass er in seinem Glück gar nicht bemerkte, unter welchem Druck die Frau stand, die er liebte?
Eine heikle Liebesgeschichte, ein heikler Roman. Der 1971 in Zagreb geborene, in Deutschland aufgewachsene Nicol Ljubic erzählt aus der Perspektive von Robert, dem ins Grübeln geratenen Liebhaber, und im steten Wechsel zweier Schauplätze und Zeiten. Ein Abschnitt ist der Liebe gewidmet, den Bildern des Friedens und der Eintracht, als Ana und Robert an der Ostsee „die Meeresstille” erlebten, den erotischen Szenen, in denen die frisch Verliebten einander erkunden und genießen. Der nächste Abschnitt hingegen spielt im Gerichtssaal in Den Haag, wo die Anklage verlesen wird, Zeugen befragt werden und der wie entrückte Angeklagte alle Vorhaltungen von sich weist.
Robert hofft, dass Ana zu ihm zurückkehren wird, und er möchte sie jetzt, da sie sich ihm entzogen hat, verstehen lernen. Deswegen ist er nach Holland gereist, um jenen Mann zu beobachten, der einen manchmal arroganten, manchmal unheilbar melancholischen Eindruck erweckt und mit dem er etwas gemein hat. „Sie beide lieben Ana, und er fragt sich, was Simic über ihn weiß?” Hat Ana in ihren Briefen auch von ihm berichtet, dem Vater vielleicht sogar sein Foto geschickt, ein Bild des Mannes, mit dem sie ihr Leben teilen wollte? Kein Zweifel, was Ana und Robert verband, war kein Abenteuer, kein Techtelmechtel; es war Liebe.
Verfänglich ist, dass der Roman übergangslos aus dem Bett, in dem sich die beiden inniglich miteinander beschäftigen, in den Gerichtssaal springt, um von Massaker, Folter, Mord zu referieren; auf die reine Idylle des Privaten, die in der Erinnerung nur immer schöner wird, folgt stets das Protokoll unfassbarer Verbrechen. Das gibt dem Text eine Dynamik, der man sich schwer entziehen kann, ist allerdings berechnend schematisch.
Hinzu kommt, dass Ljubic nicht gerade ein Stilkünstler ist und sich zumal schwer tut, sexuelle Attraktion und Aktion in Worte zu fassen. Auch dass er Robert mit einer Kindheit ausstattet, in der es mancherlei Probleme gab, diesen aber, als Ana ihn küsst, von sich selbst sagen lässt, er würde durch sie „auf das ungetrübte Glück des Kindes zurückgeworfen”, ist nicht eben schlüssig. Überhaupt passt manches nicht ganz zusammen, schon die zahlreichen Zitate nach Shakespeare nehmen sich in einem Roman befremdlich aus, der aus der Perspektive Roberts erzählt wird, von dem wir eingangs erfahren, dass er noch nie ein Stück von Shakespeare gelesen oder gesehen habe.
Gleichwohl ist „Meeresstille” ein Roman, der zu Herzen geht und einiges zu denken aufgibt. Nicht nur, weil Ana ein anderes Serbien repräsentiert als jenes, auf das wir medial seit bald zwanzig Jahren eingewöhnt werden. Faszinierend vieldeutig hat Ljubic den Vater gezeichnet, dem man das grauenhafte Verbrechen nicht zutrauen mag. Und weil Robert gezwungen ist, sich mit dem Schicksal seiner serbischen Freundin, mit der Verstrickung ihres Vaters auseinanderzusetzen, kommt er darauf, dass er selbst in seinem Leben etwas versäumt hat: nämlich nach seiner kroatischen Herkunft und jenen Verwandten zu fragen, die in den sechziger Jahren nicht nach Deutschland ausgewandert, sondern in einem Land geblieben sind, in dem sich vorher und später so furchtbare Dinge ereigneten. KARL-MARKUS GAUSS
Nicol Ljubic
Meeresstille
Roman. Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2010. 192 Seiten, 17 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ein Buch über den Versuch, die Wahrheit zu erfahren, die Wahrheit über den Bosnienkrieg. Barbara von Becker liest es als Geschichte einer Liebe vor dem Hintergrund einer bis heute offenen Wunde Europas. Es geht um die Verstrickungen der Elterngeneration, um Schuldkomplexe, die der junge Autor Nicol Ljubic in einem Klima von Besonnenheit und Fairness zu verhandeln versteht, wie die Rezensentin anerkennend erklärt. Beeindruckend findet Becker auch, wie souverän Ljubic poetische Liebesszenen, nüchterne Prozessbeobachtungen aus Den Haag, Fakten und Argumente miteinander arrangiert, die sachliche Schilderung der Verbrechen gegen die Gefühle seiner Figuren setzt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2010

Literatur Das ist ja immer die Frage, ob politisches, engagiertes, zeitgenössisches Schreiben möglich ist. Der 1971 in Zagreb geborene Reporter und Schriftsteller Nicol Ljubic hat es versucht, in seinem Roman "Meeresstille" (Hoffmann und Campe, 17 Euro) über die zweite Generation der im Jugoslawienkrieg Geflohenen. Es ist ein Buch voller Fragen und poetischer Momente, das scheinbar ewige Sicherheiten durch einen neuen Blick erschüttert. Am Ende vielleicht etwas konstruiert, etwas zu entschlossen einem Plan folgend. Aber doch eines der mutigsten, schönsten, kraftvollsten deutschen Bücher der ersten Jahreshälfte.

vw

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»Ein leiser Roman, der nicht von deutscher Schuld spricht und doch mit ihr konfrontiert.« Aachener Nachrichten, 24.04.2010