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Recep Tayyip Erdogan ist eine der schillerndsten Figuren auf der internationalen politischen Bühne. Er führte die Türkei in eine nie dagewesene Phase der Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Unter seiner Regierung bewegte sie sich immer weiter in Richtung Europa. Er führt aber auch einen rücksichtslosen Kampf gegen politische Gegner und kritische Medien und initiiert die Reislamisierung der Türkei. In ihrer umfassenden Biografie zeichnet Cigdem Akyol den Weg Erdogans von einer Kindheit in ärmlichen Verhältnissen bis ins höchste politische Amt der Türkei nach.

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Produktbeschreibung
Recep Tayyip Erdogan ist eine der schillerndsten Figuren auf der internationalen politischen Bühne. Er führte die Türkei in eine nie dagewesene Phase der Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Unter seiner Regierung bewegte sie sich immer weiter in Richtung Europa. Er führt aber auch einen rücksichtslosen Kampf gegen politische Gegner und kritische Medien und initiiert die Reislamisierung der Türkei. In ihrer umfassenden Biografie zeichnet Cigdem Akyol den Weg Erdogans von einer Kindheit in ärmlichen Verhältnissen bis ins höchste politische Amt der Türkei nach.
Autorenporträt
Akyol, Cigdem
Cigdem Akyol, geboren 1978, studierte Osteuropakunde und Völkerrecht an der Universität in Köln. Anschließend Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule. 2006 begann sie als Redakteurin bei der taz in Berlin, zunächst im Inlandsressort, später Wechsel zu den Gesellschaftsseiten. Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie schreibt u.a. für den Standard, die Presse, die NZZ, die WOZ, die Zeit online und die FAZ.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2016

Was hat Recep Tayyip Erdogan vor?
Der Aufstieg eines begabten Straßenjungen zum Sonnenkönig: Die Journalistin Çigdem Akyol widmet dem türkischen Staatspräsidenten eine Biographie

Inmitten des gerade zu Ende gegangenen Fastenmonats Ramadan sorgte ein kleiner Istanbuler Plattenladen weltweit für Schlagzeilen: Ein wütender Mob aus zwanzig Männern stürmte den Laden im Stadtteil Cihangir und prügelte mit Flaschen und Rohrstücken auf den Besitzer und dessen Gäste ein: Aus Anlass des neuen "Radiohead"-Albums fand dort eine Hörparty statt, bei der auch Wein getrunken wurde. Doch Alkohol und Musik, das darf in den Augen von konservativen Muslimen während des Ramadan nicht sein.

Vor zehn, fünfzehn Jahren krähte in der Türkei kein Hahn danach, ob man fastet oder nicht. Seitdem die AKP die Regierung stellt, hat sich die Toleranz verflüchtigt. Wie der Islam zu leben ist, bestimmt nun einzig und allein Recep Tayyip Erdogan. Jeder soll sein wie er: ein frommer sunnitischer Muslim, der nicht raucht, nicht trinkt, der betet und sich auch an die religiösen Vorschriften des Fastenmonats hält. Das Befolgen religiöser Regeln hat für Erdogan Vorrang vor persönlichen Rechten und Freiheiten.

Anders lassen sich seine Worte nach dem Überfall von Cihangir nicht deuten: Den Plattenladen anzugreifen sei genauso falsch gewesen, wie während des Ramadan Alkohol zu trinken und Musik zu hören, erklärte Erdogan, Staatspräsident eines Landes, dessen Gesetze den tätlichen Angriff von Personen verbieten, nicht aber den grundsätzlichen Konsum von Alkohol oder Hörpartys - auch nicht während des Ramadan.

Die in Istanbul lebende deutsch-türkische Journalistin Çigdem Akyol, Jahrgang 1978, hat eine Biographie des türkischen Staatspräsidenten geschrieben, die das Phänomen Erdogan deutschen Lesern näherbringen will. Nach einer Phase der Hoffnung, in der Erdogan als reformwilliger und EU-orientierter Demokrat auftrat, baut er, der lieber die Hand zur Faust ballt, als andere Hände zu schütteln, die Türkei immer mehr zu einem Ein-Mann-Staat nach seinen Vorstellungen um.

Für Akyol ist Erdogan ein Verführer und Narziss, dessen unbändiger Wunsch nach Bedeutsamkeit nur zu verstehen ist, wenn man die politischen und gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt, in denen er aufwuchs und Gefallen an der Politik fand. Sie prägten auch die erste Generation der türkischen Gastarbeiter, die sich von 1961 an auf den Weg nach Deutschland machte, weshalb die Lektüre dieser soziohistorischen Analyse, der Akyol viel Sorgfalt widmet, auch ein Gewinn für das Verständnis der hier lebenden Deutsch-Türken ist. Für nicht wenige waren die Verhältnisse der Anlass, der Heimat den Rücken zu kehren.

Damals wie heute ist die türkische Gesellschaft tief gespalten. Die verwestlichte, städtische Elite teilt sich die wichtigsten Posten in Militär, Bürokratie und Verwaltung untereinander auf, für die breite Bevölkerung hat sie nur Geringschätzung übrig. Die türkische Soziologin Nilüfer Göle hat diesen Konflikt mit dem Begriffspaar "weiße Türken" und "schwarze Türken" umschrieben. In eine Familie von "schwarzen Türken" wird Erdogan am 26. Februar 1954 hineingeboren. Er wächst auf am Goldenen Horn von Istanbul, im ärmlichen Hafenviertel Kasimpasa, auf dessen Straßen das Recht des Stärkeren regiert.

Es sind unruhige Jahre, die noch junge türkische Republik kämpft mit Wirtschaftskrisen und Regierungskrisen, öffentliche Hetze gegen Minderheiten ist alltäglich genauso wie politische Gewalt und staatliche Repression. Adnan Menderes, der erste aus freien Wahlen hervorgegangene türkische Ministerpräsident, stellt sich offen gegen den Laizismus und wird 1960 von den Generälen dafür hingerichtet. Erzählungen darüber, wie ihn das als damals sechsjährigen Jungen verstörte, gehören zu Erdogans Reden-Repertoire. Genauso wie die Anekdoten über seine Kindheit und Jugend, in der er Sesamkringel verkauft und keine Konfrontation scheut. Aus religiösen Gründen verbietet der strenge Vater ihm, Fußball zu spielen. Erdogan tut es trotzdem, heimlich. Auch Akyol gibt diese Anekdoten wieder. Bedauerlicherweise erzählt sie wenig darüber hinaus.

Das politische Idol des jungen Erdogan wird Necmettin Erbakan, der Pate des politischen Islams in der Türkei, der von 1970 an verschiedene islamistische Parteien gründet, die immer wieder verboten werden. "Erbakans Parolen für eine ,Rettung durch den Islam' oder einen ,Gottesstaat' sind für Erdogan wie eine Offenbarung", schreibt Akyol. Ausgestattet mit großem rhetorischen Talent macht Erdogan schnell Karriere, wird Oberbürgermeister von Istanbul, kommt dann aber ins Gefängnis, weil er ein vermeintlich islamistisches Gedicht rezitiert. Die Haftzeit ist kurz, trotzdem tritt ein scheinbar gewandelten Erdogan aus dem Gefängnistor, der erkannt habe, dass das kemalistische Establishment das politische Fortkommen eines Islamisten à la Erbakan immer verhindern wird.

Erdogan bricht mit Erbakan und gründet 2001 mit Weggefährten seine eigene Partei, die AKP. Diese entschärft den politischen Islam des Ziehvaters, verleugnet diese Wurzeln aber auch nicht. Schon 2002 wird sie an die Regierung gewählt. In Gang gesetzt wird die Emanzipationsbewegung der "schwarzen Türken", von Leuten also, die das kemalistische Establishment jahrzehntelang als rückständige Tölpel behandelt hatte.

Sie sind nun nicht mehr der Fußabtreter der Nation, sondern bilden das Rückgrat von Erdogans "neuer Türkei". Erdogan, schreibt Akyol, "gab den schwarzen Türken ihre Würde zurück". Bei jeder neuen Wahl danken ihm die Menschen dafür.

Akyols Darstellung ist weitgehend differenziert. Mitunter verfällt sie in einen raunenden Ton, der die Ausgewogenheit stört. Der Aufstieg des frommen türkischen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen zum mächtigsten Mann des Landes mag atemberaubend sein, und vielleicht ist es sogar nachvollziehbar, dass man, wenn man sich über einen längeren Zeitraum mit Erdogan befasst, diesem Faszinosum ein wenig erliegt. In einer Biographie, die sich dezidiert um Objektivität bemüht, haben gewisse Sätze nichts verloren.

Wenn es etwa um Erdogans Geburtsort Kasimpasa geht, schreibt Akyol: "Ausgerechnet von hier aus (...) begann 1443 die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, die das Ende des Byzantinischen Reichs einläutete. Fast 500 Jahre später, am 26. Februar 1954 wird hier in einem Holzhaus der heute mächtigste Mann der Türkei geboren." Was möchte die Autorin damit suggerieren?

Oder für das Jahr 1976, Erdogan ist gerade Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbands der "Nationalen Heilspartei" geworden, schreibt sie: "(...) trotzdem deutet nichts darauf hin, dass einer mit solch einer politischen, religiösen und gesellschaftlichen Herkunft einmal das höchste Amt des Staates bekleiden wird". Was hätte auch darauf hindeuten können? Oder für das Jahr 2002, als die AKP erstmals die Regierungsgeschäfte übernimmt. "Keiner von ihnen ahnt zu diesem Zeitpunkt, wie lange Erdogan dem Land erhalten bleiben wird." Wie, die Türken können nicht in die Zukunft sehen?

Dem Lektorat hätten diese Phrasen auffallen müssen. Auch die Hinweise auf Quellen und Archive hätten mehr Präzision vertragen. Zwar findet sich am Ende des Buches eine Bibliografie, die unter anderem türkischsprachige Erdogan-Biografien aufführt. Doch wenn die Autorin im Text auf dieses Material verweist, bleiben die Titel im Dunkeln, ist beispielsweise lediglich von "wohlwollenden Biografen" die Rede. Auch der ultimative Titel "Erdogan. Die Biografie", der selbstbewusst einen Endgültigkeitsanspruch manifestiert, wirkt unseriös.

Die Geschichte Erdogans ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Wie es aussieht, wird er der Türkei und Europa noch eine ganze Weile erhalten bleiben und noch ist offen, wohin die Reise führt.

Die Frage, ob Erdogan ein Islamist ist oder nicht, beantwortet Akyol mit Nein. Zwar sei unbestritten, dass Erdogan sich eine islamisch-konservative Gesellschaft unter Vorherrschaft des sunnitischen Islam wünsche. Doch nicht das Credo "Der Islams ist die Lösung" leite ihn an, sondern eher das sonnenkönighafte "Der Staat bin ich". Das nach Einschätzung der Autorin für einen Islamisten typische Bestreben, religiös legitimierte Regeln für Staat und Gesellschaft zu etablieren und nichtreligiöse Legitimationen abzulehnen, stellt sie im Falle Erdogans nicht fest. Er sei kein Islamist, sondern "ein Taktiker erster Güte". Seit wann schließt das eine das andere aus?

Man wird diesem Politiker nicht gerecht, wenn man versucht, ideologische Schablonen auf ihn anzuwenden. Dass Erdogan nicht der Demokrat ist, als der er sich lange präsentierte, hat er schon bewiesen. Dass Erdogan die Befolgung religiöser Regeln durchaus zu einer gesellschaftlichen Pflicht erhebt, die vor geltendem Recht Vorrang hat, zeigte er unter anderem mit seiner Reaktion auf den Angriff auf den Plattenladen von Cihangir.

Sicherlich, der Vorfall ist nur eine Momentaufnahme. Er reiht sich jedoch ein in eine Kette von Ereignissen, die sehr wohl darauf hinweisen, dass Erdogan sich nicht von seiner islamistischen Kinderstube verabschiedet hat. Man sollte Erdogan beim Wort nehmen und ihn mit äußerster Vorsicht genießen. Es wäre bedauerlich, wenn es in den Erdogan-Erzählungen von morgen einmal heißen würde: Damals, 2016, hatte noch niemand geahnt, dass Erdogan die Türkei zu einem islamistischen Staat umformen wolle.

KAREN KRÜGER

Çigdem Akyol: "Erdogan". Die Biografie.

Herder Verlag, München 2016. 384 S., geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Karen Krüger hat die Erdogan-Biografie der deutsch-türkischen Journalistin Cigdem Akyol immer dann mit Gewinn gelesen, wenn Akyol die historischen und geselllschaftlichen Hintergründe beleuchtet, die die Karriere des türkischen Präsidenten erst möglich gemacht haben - und die übrigens auch viele Türken nach Westeuropa trieben: Die Verachtung und Vernachlässigung der ländlichen Regionen durch das städtische Istanbul. Wenn Akyol allerdings Erdogans Leben und Werdegang nachzeichnet, ist Krüger weniger zufrieden. Die faszinierten Passagen über den Aufstieg des Jungen aus dem armen Kasimpasa sind der Rezensentin zu nah an Erdogans eigenem Reden-Repertoire. Auch der raunende Journalistenton gehört ihrer Ansicht nicht in eine Biografie, dafür hätte sie sich mehr Belege und Quellenangaben gewünscht. Schließlich geht die Rezensentin nicht d'accord mit Akyols politischer Deutung Erdogans, die in ihm weniger einen Islamisten als einen absolutistischen Monarchen sieht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.06.2016

Der Staat bin ich
Eine Biografie vollzieht nach, wie sich Recep Tayyip Erdoğan die Macht in der Türkei sichern konnte. Das hat viel mit der Geschichte des Landes zu tun
Recep Tayyip Erdoğan hat viel ausgeteilt in den dreizehn Jahren seiner Herrschaft, Polemik gehört zu seinem Standardrepertoire. Aber das, was der Mann 2013 während der Gezi-Proteste aufführt, ist selbst für seine Verhältnisse krass. Der damalige türkische Ministerpräsident beschimpft die Demonstranten als „erbärmliche Nagetiere“, die „das Schiff, in dem sich 77 Millionen türkische Bürger befinden“, zum Sinken bringen wollten. Das hat nichts mehr mit den kalkulierten Provokationen zu tun, für die Erdoğan berüchtigt ist. Diesmal schlägt er blind drauflos.
  Für Çiğdem Akyol gehört der Protestsommer 2013 zu den Schlüsselmomenten, in denen sich Erdoğans wichtigste Triebfedern offenbaren: die Gier nach Macht – und Angst. Die Journalistin hat eine Biografie über den Mann geschrieben, über dessen rigiden autoritären Führungsstil man sich hierzulande neuerdings mächtig aufregt, das Buch trägt den ultimativ klingenden Titel „Erdoğan. Die Biografie“. Tatsächlich füllt Akyol eine Lücke, es gibt im deutschsprachigen Raum einige Bücher, die sich mit Erdoğans Politik beschäftigen, aber bisher keines, das seinen Lebensweg detailliert und nuanciert nachzeichnet.
  Der hartnäckige Protest der Gezi-Jugend erweckt 2013 den Eindruck, Erdoğans Macht stehe auf der Kippe. Die Demonstranten treffen den Premier an einem empfindlichen Punkt. Er, der sich als Mann aus dem Volk inszeniert, als einen, der die Massen vertritt, hat einen veritablen Volksaufstand am Hals. Was dann folgt, ist ebenso erstaunlich wie bezeichnend: Erdoğan übersteht die Proteste, er übersteht auch den Korruptionsskandal, der Ende 2013 AKP-Politiker, regierungsnahe Unternehmer und die Familie des Premiers erfasst. Mehr noch: 2014 können die Türken ihren Präsidenten erstmals direkt wählen, mehr als 50 Prozent stimmen für Erdoğan. Anstatt zu straucheln, ist der Mann obenauf. Wie kann das sein?
  Warum es Erdoğan noch immer gelungen ist, sich gegen seine Gegner durchzusetzen, ist eine Frage, die Çiğdem Akyol, Jahrgang 1978, Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul, schon in ihrem Buch „Generation Erdoğan“ beschäftigt hat. Diesmal pirscht sie sich noch näher heran – so gut es geht, AKP-Politiker reden ungern mit kritischen Journalisten, Akyols Interview-Anfragen gehen ins Leere. Dafür ist sie ihm nachgereist, hat mit Befürwortern und Gegnern gesprochen, Archivakten gewälzt. Herausgekommen ist eine angenehm differenzierte Biografie, die Erdoğans immer repressiveres Herrschaftssystem ebenso beleuchtet wie seine anfänglichen Erfolge als Reformer.
  Aus Erdoğans Jugend im rauen Stadtteil Kasımpaşa erzählt Akyol die bekannten Anekdoten, bei denen, wie sie einräumt, Mythos und Wahrheit schwer zu trennen sind: Erdoğan prügelt sich, verkauft Sesamkringel, spielt Fußball, obwohl sein Vater kurze Hosen „unislamisch“ findet, und erwirbt sich ansonsten den Ruf eines kompromisslosen Moralverfechters, der seine Mitspieler ermahnt, keinen Alkohol zu trinken. Bis heute pflegt er sein Image als frommer Macho.
  Die Republik ist in jenen Jahren immer im Verteidigungsmodus, eine Abfolge von Chaos, Putsch, Repression. Das prägt auch den jungen Erdoğan. Etwa der Tod Adnan Menderes’, des ersten „islamischen“ Regierungschefs der Türkei, der in den Fünfzigerjahren vor allem die fromme Landbevölkerung vertritt und einige laizistische Reformen von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk rückgängig macht. 1960 putschen die Generäle, Menderes wird zum Tod durch den Strang verurteilt.
  Als Sechsjähriger sieht Erdoğan in einer Zeitschrift ein Foto, es zeigt Menderes mit Schlinge um den Hals. Damals habe er nicht viel verstanden, erzählt er später. „Aber ich sah, dass mein Vater und meine Mutter sehr bestürzt waren.“ Erdoğan wird, schreibt Akyol, sich immer wieder auf Menderes beziehen. Als er 2001 mit Weggefährten die AKP gründet, nennt er ihn ein Vorbild und zitiert seinen Ausspruch: „Es reicht, das Volk hat das Wort.“ Wie Menderes wird sich Erdoğan mit dem kemalistischen Establishment anlegen, er wird sogar ins Gefängnis gehen – aber er wird sich durchsetzen.
  In der Episode klingt auch die alte sozio-kulturelle Spaltung der Gesellschaft an: Auf der einen Seite die „schwarzen“ Türken (eine Bezeichnung, die auf die Soziologin Nilüfer Göle zurückgeht) – religiös, konservativ, arm, bildungsfern. Und die „weißen“ Türken – die säkular-kemalistische Elite, die für die marginalisierten Milieus nur Verachtung übrig hat. Von Anfang an mobilisiert Recep Tayyip Erdoğan bei seinen Anhängern die Wut der von Herrschenden jahrzehntelang gedemütigten Schichten. „Er hat es den arroganten kemalistischen Eliten gezeigt und gibt den schwarzen Türken ihre Würde zurück“, schreibt Akyol. Die lieben ihn dafür – und bescheren ihm Wahlsiege.
  Eine weitere Frage zieht sich als roter Faden durch das Buch: Ist Erdoğan wirklich der stramme Islamist, für den ihn viele halten – also jemand, der den Staat nach seiner Auffassung vom Islam organisieren will? Akyols Antwort: Er entstammt dem islamistischen Milieu, ist aber kein Islamist im engeren Sinne. Sein Programm sei er selbst; die Losung „Der Staat bin ich“ eines Ludwig XIV. liege ihm näher als der Slogan „Der Islam ist die Lösung“. Klar sei aber, „dass sich Erdoğan eine islamisch-konservative Gesellschaft wünscht, in der der sunnitische Islam dominiert“. Akyol beschreibt, wie in Erdoğan die Erkenntnis reift, dass man als Islamist alter Schule in der Türkei nicht weit kommt; die Kemalisten wachen über den Laizismus wie ein Schießhund. Wegen eines vermeintlich islamistischen Gedichts muss Erdoğan, damals Bürgermeister von Istanbul, ins Gefängnis. Später bricht er mit seinem politischen Ziehvater Necmettin Erbakan, dem Grandseigneur des politischen Islams in der Türkei, und gründet mit Weggefährten die AKP, die 2002 an die Regierung gewählt wird.
  Ein Großteil des Buches widmet sich Erdoğans Regierungsjahren, es ist die Geschichte einer autoritären Wandlung. Die AKP startet als moderat muslimische, EU-orientierte und wirtschaftsliberale Kraft, die dem Land zwischen Europa und Asien demokratische Reformen und Wohlstand beschert. Mit Erdoğans zweiter und dritter Amtszeit wird die Regierung repressiver, und auch er selbst verändert sich: Sein Machthunger wächst, seine Furcht vor Entmachtung auch.
  Akyols Bestandsaufnahme nach dreizehn Jahren Erdoğan ist wenig ermutigend: Kritische Medien werden geknebelt, die Justiz eingehegt. Der Präsident führt wieder Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes – und zerstört die Chance, eine Lösung des Kurdenkonflikts zu seinem politischen Erbe zu machen. Wichtiger ist ihm der Umbau des Staats, er will in der Türkei ein Präsidialsystem einführen, das seine Machtfülle verfassungsmäßig verankert.
  All das beschreibt die Autorin Akyol kenntnisreich und kritisch, aber die Stärke ihrer Biografie liegt eben auch darin, dass sie Erdoğan nicht einfach als Autoritären vom anderen Stern porträtiert, der den türkischen Staat gekapert hat. Sondern als Kind eben dieses Staates, in dem Zentralismus und Repression eine Geschichte haben.
LUISA SEELING
„Er hat es den
arroganten kemalistischen
Eliten gezeigt.“
  
  
  
  
  
Çiğdem Akyol:
Erdoğan. Die Biografie. Herder-Verlag, Freiburg 2016, 384 Seiten. 24,99 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Die Macht der Geschichte: Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende Mai bei einer Feier in Istanbul zum Gedenken an den 563. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels. 1453 hatten islamische Osmanen die Christenmetropole eingenommen.
Foto: Emrah Gurel/AP
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