Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 9,80 €
  • Broschiertes Buch

Marcel Duchamp gilt heute als der bedeutendste Vordenker der postmodernen Ästhetik. Kein Werk seiner Kunst befremdet Publikum und Kritik so sehr wie die Installation "Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtglas" im Philadelphia Museum of Art. Ist die Szenerie, aufgebaut nach dem Modell einer Peepshow, ein frauenfeindliches Machwerk oder schlicht der letzte Versuch, das Publikum noch einmal zu schockieren? Der Duchamp-Spezialist Herbert Molderings versucht eine neue Deutung des Spätwerks. Für ihn ist es das ironische Schlussbild einer künstlerischen Fragestellung, die Duchamp sein Leben lang beschäftigt hat: das "Sehen betrachten".…mehr

Produktbeschreibung
Marcel Duchamp gilt heute als der bedeutendste Vordenker der postmodernen Ästhetik. Kein Werk seiner Kunst befremdet Publikum und Kritik so sehr wie die Installation "Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtglas" im Philadelphia Museum of Art. Ist die Szenerie, aufgebaut nach dem Modell einer Peepshow, ein frauenfeindliches Machwerk oder schlicht der letzte Versuch, das Publikum noch einmal zu schockieren? Der Duchamp-Spezialist Herbert Molderings versucht eine neue Deutung des Spätwerks. Für ihn ist es das ironische Schlussbild einer künstlerischen Fragestellung, die Duchamp sein Leben lang beschäftigt hat: das "Sehen betrachten".
Autorenporträt
Molderings, HerbertHerbert Molderings, geboren 1948 in Bonn, ist Professor für Mittlere und Neuer Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2004 ist er außerplanmäßiger Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist freier wissenschaftlicher Autor und Ausstellungskurator.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2012

Sehr merkwürdig, diese Peep Show
Kein Bruch mit der Kunstgeschichte – stattdessen sexuelle Begierden und Weltschmerz: Herbert Molderings entreißt dem Spätwerk Marcel Duchamps so manches Geheimnis
Es mag nur ein Detail sein, aber wer sich im Philadelphia Museum of Art die Nase an einer rohen Holztür plattdrückt, um durch zwei Astlöcher hindurch Marcel Duchamps sagenumwobenes Werk „Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. Das Leuchtgas“ zu erspähen, kommt an der Einsicht nicht vorbei: Die Vulva des Frauentorsos, dessen Schenkel sich vor dem Auge des Betrachters spreizen, überzeugt nicht. Anatomisch hielte sie einem Vergleich mit Gustave Courbets Gemälde „L’Origine du Monde“ von 1866 in keiner Weise stand, dabei hatte Duchamp sein letztes Werk doch ausdrücklich in einem Hyperrealismus konzipiert, um der von ihm verachteten Malerei der New York School und ihren „Leinwandbespritzern“ ihren Irrweg zu zeigen.
  Als ob sein durch und durch mimetisches Werk für den Avantgarde-Geschmack der Zeit nicht antimodern genug gewesen wäre, zog Duchamp mit seinem Spätwerk in Philadelphia auch noch sämtliche Register einer klassischen Ikonografie wie den Topos der „Nuda veritas“ – zum Beispiel mit der Fackel der Wahrheit, wie Paul Baudry sie in seinem Bild „La verité“ 1882 prominent in Szene gesetzt hatte. Bei Duchamp ist es eine Gaslampe, die von der Frau wie ein Phallus umfasst und in die Höhe gereckt wird; zugleich bediente Duchamp die Begeisterung der Surrealisten für das Diorama. Für den Maler Jasper Johns stellte das Peep-Show-Environment das „merkwürdigste Kunstwerk“ dar, „das je in einem Museum zu sehen war“.
  Warum aber strahlt die üppige Frau in der 1968 installierten Arbeit, die sich Duchamp ursprünglich als Inbegriff des Eros gedacht hatte, so „morbide, abstoßende und misogyne Züge“ aus, die sich von den Studien so merklich unterscheiden, wie Herbert Molderings in seinem Buch über Duchamps Spätwerk konstatiert? Warum liegt die Frau auf dem Rücken, während Duchamp sie in allen vorbereitenden Studien, Foto-Collagen und aufwendigen Gipsreliefs stets stehend vorgezeichnet hatte? Der langjährige Duchamp-Forscher wirft diese bislang nicht gestellten Fragen auf und beantwortet sie mit einer überraschenden biografischen Erklärung: Eine tiefgreifende Lebenskrise hat Duchamp demnach veranlasst, das in den Jahren von 1946 bis 1966 entstandene Opus grundlegend zu verändern.
  Ausführlich klärt Molderings zunächst die zahlreichen kunsthistorischen Verweise, mit denen Duchamp die obskure Liegende und ihren „Perspektivraum“ an die Tradition zurückbindet, die bis zu Dürers „Unterweisung der Messung mit Zirkel und Richtscheidt“ von 1538 zurückreicht – jene Anweisung tauchte sinnfällig als Emblem des Vorgestrigen in einem Pamphlet von Ad Reinhardt aus dem Jahr 1946 auf. Duchamp hatte jene Vorlage mit dem Werk „Gegeben sei . . . “ polemisch gekontert, um alle erdenklichen Argumentationslinien eines fortschrittlich gesinnten Modernismus nach dem Gusto des Chefkritikers Clement Greenberg zu durchkreuzen und mit dem pornografischen Guckkasten auch das Publikum vor den Kopf zu stoßen. Zusätzlich umgab er die Arbeit mit der Aura des Rätsels, indem er sie erst posthum zur Ausstellung freigab. Der angebliche Bruch aber mit allen Übereinkünften der westlichen Kunstgeschichte, der Duchamp allenthalben als Pioniertat bescheinigt wird, ist zu großen Teilen Klischee einer bequemen Werkrezeption: Duchamp hat in fast allem, was er tat, auf verblüffende Weise die Kontinuität gepflegt. Nur ist diese nicht immer offenkundig.
  Eine wesentliche Inspiration Duchamps für die Installation in Philadelphia ging indessen nicht von der Kunstgeschichte aus. Es war eine jahrelange, äußerst heftige, verheimlichte Romanze mit der Bildhauerin Maria Martins, der Gattin des brasilianischen Botschafters in New York, deren Körper die Vorlage für den Abguss der Liegenden abgab; Duchamp titulierte sie als „Notre Dame de désir“. Wie heute bekannt, hatte Duchamp Dutzende Briefe mit obszönen, ungeschminkt sexuellen Begierden an die Angehimmelte gerichtet. 1946 widmete er ihr gar eine mit Sperma gemalte Landschaft (bekannt ist Duchamps Hang zur Zote, wenn diese nur ein Minimum an Sprachwitz erkennen ließ; sie sollte helfen, falsches Pathos zu vermeiden).
  Doch Frau Martins verweigerte sich 1951 endgültig dem glühenden Wunsch Duchamps, ihren Ehemann zu verlassen und beendete die Affäre. Der Schock saß tief für Duchamp – umso tiefer, als seinerzeit ein Schicksalsschlag den nächsten jagte. Bereits 1950 war Duchamps langjährige Lebensgefährtin Mary Reynolds gestorben, 1952 starb seine „mütterliche Freundin und Förderin“ Katherine Dreier, dann sein ältester und engster Freund Francis Picabia und die Sammler Louise und Walter Arensberg – letzterer ein entscheidender intellektueller Mitstreiter und Fürsprecher Duchamps bei dessen Karriere in den Vereinigten Staaten.
  Auch ein anderes, geheimnisumwittertes, weil verschollenes Werk, das Molderings minutiös rekonstruiert, geht auf die Affäre mit der Femme fatale Maria Martins zurück: „Der Grüne Lichtstrahl“, geschaffen für den „Saal des Aberglaubens“ in der Pariser Ausstellung „Le Surréalisme en 1947“. Duchamp entlehnte dieses unscheinbare Wandobjekt, wie Molderings nachweisen kann, Jules Vernes Roman „Le Rayon-vert“: Entworfen wird darin eine Liebesgeschichte, in der Duchamp seine damalige Affäre mit der brasilianischen Bildhauerin wiedererkannte.
  Ungezügelte Leidenschaft, sexuelle Begierden, Liebeskummer, der schließlich in Weltschmerz gründet, und alles dieses zusammen als Schrittmacher von Duchamps Kunst: Das hätte man gerade bei diesem angeblich so kühlen Strategen nicht erwartet. Intensives Quellenstudium entreißt dem Jahrhundertkünstler noch immer so manches Geheimnis.
GEORG IMDAHL
  
Herbert Molderings: Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp. Carl Hanser Verlag, München 2012. 242 Seiten, 18,90 Euro.
Marcel Duchamp, 1938 in seinem Pariser Atelier.
FOTO: AKG-IMAGES / DENISE BELLON
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der hier rezensierende Professor für Kunst und Öffentlichkeit Georg Imdahl lässt sich von Herbert Molderings Interpretation des letzten, zwischen 1946 und 1966 entstandenen Werks von Marcel Duchamp überzeugen und findet hier die Fragen gestellt, für die sich die Kunstgeschichte bislang nicht interessierte. Der als Duchamp-Kenner bekannte Autor klärt detailliert die kunsthistorischen Verweise und Implikationen, kann am Ende aber mit einer biografischen Deutung überraschen, so der Rezensent. Die leidenschaftliche heimliche Affäre mit der Bildhauerin Maria Martins, die diese 1951 beendete, löste bei Duchamp eine tiefe Lebenskrise aus und erklärt die rätselhaften "morbiden, abstoßenden und misogynen Züge", die das Werk ausstrahlt, wie Imdahl dem Buch entnimmt. Eine ebenso einleuchtende wie überraschende Erklärung, findet der Rezensent, der hier "intensives Quellenstudium" zu gutem Nutzen eines bekannten Werks lobt.

© Perlentaucher Medien GmbH