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Ein Mensch? Ein Tier? Oder irgendetwas dazwischen? Neben Kaspar Hauser war Victor von Aveyron der berühmteste Fall eines "Wolfskinds". Eine nackte Kreatur, die sich, in Südfrankreich von Jägern entdeckt, auf einem Baum versteckt. Er kann nicht sprechen, isst Nüsse und Wurzeln und verabscheut gekochte Speisen. Ist sein merkwürdiges Verhalten kulturell oder biologisch bedingt? Ist der Mensch - frei nach Rousseau - von Natur aus gut, oder prägt erst die Erziehung sein Wesen? Boyle, der in den USA lebende Autor, hat sich dem Fall Victor von Aveyron angenommen. In seinem zutiefst ergreifenden…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mensch? Ein Tier? Oder irgendetwas dazwischen? Neben Kaspar Hauser war Victor von Aveyron der berühmteste Fall eines "Wolfskinds". Eine nackte Kreatur, die sich, in Südfrankreich von Jägern entdeckt, auf einem Baum versteckt. Er kann nicht sprechen, isst Nüsse und Wurzeln und verabscheut gekochte Speisen. Ist sein merkwürdiges Verhalten kulturell oder biologisch bedingt? Ist der Mensch - frei nach Rousseau - von Natur aus gut, oder prägt erst die Erziehung sein Wesen? Boyle, der in den USA lebende Autor, hat sich dem Fall Victor von Aveyron angenommen. In seinem zutiefst ergreifenden Porträt eines Wolfskindes geht er der subtilen Grenze nach, an der sich entscheidet, wer Mensch und wer Tier ist.
Autorenporträt
T. C. Boyle, geb. 1948 in Peekskill, New York im Hudson Valley, war Lehrer an der dortigen High-School und publizierte während dieser Zeit seine ersten Kurzgeschichten. Heute lebt er in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles Creative Writing.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2010

Fressen mit Moral
T. C. Boyles Novelle „Das wilde Kind” schickt einen Wolfsjungen zwischen die Fronten von Natur und Zivilisation
Manchmal hängt ihm ein zappelnder Mäuseschwanz aus dem Mundwinkel, und auch Frösche haben Pech, wenn sie zu langsam sind. Nüsse, Eicheln und roh verschlungene Kleintiere bleiben lange seine bevorzugte Nahrung. Erst allmählich lernt er, gekochte Kartoffeln zu essen. Victor von Aveyron, wie man ihn später nennt, ist „Das wilde Kind” aus der gleichnamigen Erzählung von T. C. Boyle. Der amerikanische Albtraum-Deuter, Satiriker und Ex-Hippie Boyle hält sich weitgehend an den historischen Fall jenes französischen Jungen, der 1797 erstmals in den Wäldern der Pyrenäen gesichtet wird. Anfang der siebziger Jahre hatte François Truffaut diesen Stoff unter dem Titel „Der Wolfsjunge” verfilmt, und dass der wilde Victor gerade jetzt einen neuen Interessenten gefunden hat, könnte ein gutes Zeichen sein. Goodbye Wohlstandsverwahrlosung, welcome Wildnis: Wenn die Freunde der Freaks, Monstren und Mischwesen zurück sind, könnte auch auf dem literarischen Sektor endlich Schluss sein mit all den halbgaren Mittelschichtsneurosen.
Das kurze Leben dieses an Kaspar Hauser erinnernden Wolfskindes ist schnell erzählt, und tatsächlich braucht es nur 106 lakonische Seiten, die eher unboylesk ausfallen – ohne satirisches Knallwerk oder sonstige Aufputschmittel. Aber welch ein Rattenschwanz an Menschheitsfragen durchzuckt die Geschichte! Der Junge, den verarmte Bauern ausgesetzt hatten, wird Teil eines pädagogischen Großexperiments: „War der Mensch bei seiner Geburt eine tabula rasa, ungeformt und ohne Ideen, bereit, von der Gesellschaft beschrieben zu werden, erziehbar und imstande, auf dem Weg zur Vervollkommnung voranzuschreiten? Oder stellte die Gesellschaft, wie Rousseau behauptete, einen verderblichen Einfluss dar und nicht das Fundament alles Richtigen und Guten?”
Als man den Jungen einfängt, ist er nackt, stumm und vermeintlich taub – beinahe ein Tier, „die Zähne so gelb wie die einer Ziege”. Er wird nach Paris in die Taubstummenanstalt des Abbé Sicard gebracht, wo sich der ebenso ehrgeizige wie geduldige Arzt Itard um ihn kümmert, in der Hoffnung, das wilde Kind zu zivilisieren. Aber selbst jahrelange pädagogische Übungen erbringen keinen Durchbruch. Irgendwann kann der Junge den Vokal „O” aussprechen, und deshalb nennt man ihn Victor. Aber er interessiert sich vor allem für Essbares, auch wenn er auf elementare Signale wie Fürsorge und Liebe reagiert. Mitleid und Gerechtigkeitsempfinden kann man ihm nur in Ansätzen beibringen.
Itard weigert sich, ihn für nicht erziehbar zu halten, und eine Zeitlang ist der Wilde die Sensation der Pariser Salons. Aber allmählich schläft diese Neugier ein, und als bei dem Jungen die Pubertät beginnt, wird er zunehmend zum Problem. Itard gibt auf, und Victor lebt – ein abgebrochenes Experiment am Menschen – in der Familie des Hausmeisterehepaars weiter. Er schaut stundenlang den Wolken nach und stirbt im Alter von vierzig Jahren. Aus die Maus, scheint die zurückhaltend empathische Erzählstimme zu sagen.
Auf den ersten Blick wirkt „Das wilde Kind” wie eine etwas grobklotzige Versuchsanordnung mit all dem Natur-Kultur-Zubehör, das man in die vorgestanzten Förmchen stecken kann – auf den historischen Itard gehen im übrigen auch jene Steckbrettspiele zurück, mit denen heutige Kleinkinder trainiert werden. Bei genauerer Betrachtung passt aber rein gar nichts zusammen. Weder romantisiert T. C. Boyle den vorzivilisatorischen Zustand in der Wildnis, noch werden die eifrigen Erzieher als schwarze Pädagogen abgewatscht. Aus für Rousseau, aus für die tabula rasa. Selbst die vulgärmaterialistische „Erst kommt das Fressen, dann die Moral”-Formel funktioniert nicht, weil Lebensmittel für Victor etwas anderes darstellen als bloße Nahrung. Möglicherweise sind gerade die abstrakten Ideen das Problem, der Beweisfimmel. In seinem vorvorletzten, 2003 erschienenem Roman „Drop City” hatte T. C. Boyle einen VW-Bus voller Hippies in der Wildnis Alaskas stranden lassen, so dass die Natur – als Projekt verstanden – auf genau diejenigen zurückschlug, die ihr einen Flauschfaktor anhängen wollten.
Ursprünglich war „Das wilde Kind” als Teil des Romans „Talk Talk” geplant gewesen, als Manuskript der gehörlosen Hauptfigur Dana Halter. Das betont Zurückgenommene steht dieser schlanken Erzählung gut, auch die wenigen verrutschten Metaphern („die Stadt war wie eine steinerne Blume”) können ihr nichts anhaben. T. C. Boyle wollte die Geschichte von Victor nach eigenen Angaben ins Mythische überhöhen, aber er hat auch den Gegenmythos eingebaut. Wie gut, dass weiter unklar bleiben kann, was es ist, das in uns Mäuse frisst, manchmal „O” sagt und den Wolken nachhängt. JUTTA PERSON
 
T. C. BOYLE: Das wilde Kind. Erzählung. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2010. 106 Seiten, 12,90 Euro. 
Schwarz-grüne Pädagogik in einer etwas unentschiedenen Versuchsanordnung
Mit den Wölfen heulen: Szene aus François Truffauts Film „Der Wolfsjunge”, der auf demselben Fall beruht wie das neue Buch von T.C. Boyle. Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Beklommen und beeindruckt ist Rezensentin Irene Binal von dieser Novelle, in der T.C. Boyle die Geschichte des sogenannten Wolfsjungen Victor von Aveyron erzählt, der 1797 von Jägern in Südfrankreich gefunden, vielleicht auch gefangen genommen wurde und von den wissenschaftlichen und ärztlichen Koryphäen der Gesellschaft auf Teufel komm raus zivilisiert werden sollte. Binal sind hier all die "Grausamkeit und Ignoranz" begegnet, zu der unsere Zivilisation gegenüber dem Fremden fähig ist. Dass Boyle aber auch von Rebellion und Freiheit erzählt, und das in schlichter Lakonie und dabei immer wieder in "herzzerreißenden Bildern" hat die Rezensentin nachhaltig berührt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Der in den USA lebende Autor T.C. Boyle entwirft mit knappen Worten ein einfühlsames Porträt des ›wilden‹ Kindes. Dabei geht er der subtilen Grenze nach, an der sich entscheidet, wer Mensch und wer Tier ist.« K.-H. Lampert, Südhessen-Woche 15.02.2012