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Joakim Garff, einer der besten Kenner von Kierkegaards Leben und Werk, hat die maßgebliche Biografie voregelegt. Anschaulich und detailliert zugleich, erörtert er dessen Philosphie und stellt auf der Grundlage genauer Archivkenntnisse Zeitbezüge her, die ihr Verständinis erleichtern. Ein großer europäischer Lebensroman, bestiommt nicht nur für Philosophen.

Produktbeschreibung
Joakim Garff, einer der besten Kenner von Kierkegaards Leben und Werk, hat die maßgebliche Biografie voregelegt. Anschaulich und detailliert zugleich, erörtert er dessen Philosphie und stellt auf der Grundlage genauer Archivkenntnisse Zeitbezüge her, die ihr Verständinis erleichtern. Ein großer europäischer Lebensroman, bestiommt nicht nur für Philosophen.
Autorenporträt
Joakim Garff, geboren 1960, promovierte 1990 an der Universität Kopenhagen, lehrt seit 1994 am Søren Kierkegaard Research Center in Kopenhagen, ist Mitherausgeber von Søren Kierkegaards Skrifter und war 1989 -1999 auch Mitherausgeber der Kierkegaardiana. Im Carl Hanser Verlag ist erschienen: Søren Kierkegaard. Biografie. Aus dem Dänischen von Hermann Schmid und Herbert Zeichner (2004).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2004

Die alte Jungfrau im Hause des Vaters
Ein sommerlicher Forscherzwist in Kopenhagen: Wie fromm war der Dandy Sören Kierkegaard ?
Still und beschaulich liegt das Kierkegaard-Forschungszentrum in der Store Kannikestræde im Herzen Kopenhagens, ein Ort der philologischen Gelehrsamkeit und des hermeneutischen Scharfsinns. Hier wird alles gesammelt und erforscht, was der 1813 in Kopenhagen geborene und 1855 dort gestorbene Philosoph in seinem kurzem, aber rastlos produktiven Leben zu Papier gebracht hat; die publizierten Schriften ebenso wie die unpublizierten, dazu Journale, Notizbücher, Briefe, lose Zettel und Lebensdokumente aller Art. All dies geht in die große kritisch-historische Kierkegaard-Ausgabe ein, deren Abschluss erst in einigen Jahren zu erwarten ist.
Plagiat! Pfusch! Schummelei!
Im Kierkegaard-Zentrum sitzen zwei Forscher beinahe Tür an Tür, von denen jüngst der eine dem anderen ohne Vorwarnung den Fehdehandschuh hingeworfen hat. Peter Tudvad heißt der Angreifer, Joakim Garff der Angegriffene. Garff kennt man in Deutschland dank seiner großen, im Frühjahr in Übersetzung erschienenen Kierkegaard-Biographie. Als sein Buch vor vier Jahren in Dänemark herauskam, wurde es von den Kritikern gefeiert und von den Lesern verschlungen. Garff, darin war man sich einig, hatte die große und bis auf weiteres maßgebliche Lebenserzählung des Philosophen geschrieben, zugleich eine Gesellschaftsbiographie einer Ära, des „Goldenen Zeitalters”, ein Buch, das wissenschaftlichen Standards ebenso genügte wie erzählerischen. Im Vorwort dankt Garff auch dem Kollegen Tudvad, der ihn jetzt öffentlich des „Pfuschs”, des „Plagiats” und der philologischen „Unzuverlässigkeit” bezichtigt hat.
Peter Tudvad, Garffs Gegenspieler, hat vor einigen Wochen selbst ein großes und womöglich noch ehrgeizigeres Buch vorgelegt. „Kierkegaards København” heißt es; keine Biographie des Philosophen also, sondern ein akribisches Porträt der Stadt, in der Kierkegaard geboren wurde und bis zu seinem Tode lebte. Mit unbändigem Fleiß und archivarischem Feuereifer ist Tudvad zu den Quellen hinabgestiegen und hat dabei nichts als Einzelheiten zutage gefördert; Einzelheiten, von denen er glaubt, dass sie geeignet seien, andere, falsche Kierkegaard-Bilder zu entzaubern, Einzelheiten, von denen er glaubt, dass sie auch anderen zugänglich wären, wenn sie nur den Weg in die Archive gingen. Als alle Welt Garffs Biographie als Nonplusultra pries, habe er, sagt Tudvad, mit seiner Kritik an Garffs Nachlässigkeiten nicht länger hinterm Berg halten können. So kam es, dass er rechtzeitig zum Erscheinen des eigenen Buches eine publizistische Attacke auf Garff lancierte und en passant die Vorzüge der eigenen, quellenkritischen und archivphilologischen Arbeitsweise ins rechte Licht rückte.
Einen kühlen Sommer lang hat der Streit Dänemark erhitzt. Man sah die Protagonisten und ihre Hilfstruppen aufziehen, las heftige Vorwürfe und langwierige Entgegnungen, hörte den Direktor des Kierkegaard-Zentrums ein schlichtendes Wort sprechen, das keine Linderung brachte. Garffs Buch sei nicht wissenschaftlich (und obendrein fehlerhaft), so Tudvad. Sein Buch sei gar keine wissenschaftliche Darstellung, sondern eine Biographie, erwidert Garff, der andererseits Wert darauf legt, in seinem Buch den üblichen wissenschaftlichen Standards entsprochen zu haben. Wort und Widerwort eskalierten zu einer öffentlichen und womöglich nützlichen Diskussion darüber, was überhaupt eine Biographie sei: ein populäres Genre und Stiefkind der Wissenschaft oder aber das Königsgenre einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung. So handelt der Streit zum einen vom korrekten Umgang mit den Quellen, mit philologischen (Hilfs-)Mitteln und erzählerischer Freiheit, zum anderen aber ganz offenkundig vom „richtigen” Bilde Kierkegaards.
Garff, so wirft Tudvad ihm vor, habe Kierkegaard als „Lebemann” dargestellt. Als einen spendablen Flaneur und Genießer, der sich zeitweilig den Luxus mehrerer Hausdiener leistete und auch sonst nicht sparte, an Spenden für die Armen so wenig wie am Essen für sich selbst. Tudvad dagegen hat bei seinem Quellenstudium zum Beispiel entdeckt, dass der isländische Schreinergeselle Strube gar nicht als Diener bei Kierkegaard tätig war (wie Garff schreibt), sondern bei ihm mit seiner Familie ein Obdach fand, als ihm seine Nervenkrankheit den Broterwerb verwehrte.
Später habe sich Kierkegaard sogar um einen Platz im Hospital bemüht. Aus einer Vielzahl solcher Details, die in der Regel durch solide Quellenkenntnis belegt sind, setzt Tudvad sein Kierkegaard-Bild zusammen. Anders als Garff steht ihm nicht der Sinn danach, Kierkegaard zu „kontextualisieren”, ihn als Sterblichen in Gesellschaft anderer womöglich unbedeutenderer Sterblicher zu porträtieren.
Materialberg mit Gipfelkreuz
Tudvad deutet Kierkegaard vielmehr als radikalen Nachfolger Christi, dessen Leben und Denken noch für die Heutigen ein Prüfstein sein soll. Wer Kierkegaards Existenz verweltlicht, ästhetisiert, ja frivolisiert, der versündigt sich, so Tudvad, an seiner Lebensbotschaft. Nicht als Lebemann und Dandy soll Kierkegaard in die Geschichte eingehen, sondern als Samariter und Gottsucher. Dies zu unterstützen, ist Tudvad jede Haarspalterei recht. Die „Jungfrau”, die nach Garff in Kierkegaards Vaterhaus als Haushälterin tätig war, erweist sich nach Tudvads Recherche als eine Frau von 37 Jahren, mithin eher als älteres Mädchen. Ähnlich marginal und kleinkrämerisch wirken viele der Vorwürfe, die Tudvad in Garffs Richtung adressiert. Doch da sich sein Kierkegaard-Bild allein aus Marginalien zusammensetzt, schlummert für ihn in jeder (falschen) Kleinigkeit die alles entscheidende Frage nach Kierkegaards wahrem Charakter.
In der dänischen Öffentlichkeit hat Garff viel Rückendeckung erhalten. Tudvad, so scheint es vielen, hat sich auf Kosten eines Kollegen selbst zu profilieren versucht. Die eigennützigen Motive seiner Polemik liegen auf der Hand: sein Buch, nicht das von Garff, soll künftig den Status Quo der Kierkegaard-Philologie verkörpern. Ein Unterschied ist freilich, dass Garffs erfolgreiches Buch sich gerade nach dem Streit wieder glänzend verkauft, dass es in deutscher (Siehe SZ vom 22. März 2004), englischer und anderen Übersetzungen vorliegt, während Tudvads Buch im Vergleich eher als Monument oder besser als Materialhalde positivistischer Verbissenheit dasteht.
Interessanterweise hat Tudvads Position aber auch Unterstützer gefunden. Nun äußern sich auf einmal diejenigen, denen Garffs Biographie immer schon zu schillernd war, zu ironisch, zu wenig im Einklang mit der Kierkegaard-Orthodoxie. Unter dänischen Theologen ist es weithin üblich, Kierkegaard als Heiligen zu betrachten. Die Darstellung des Theologen Garff ließ diesbezüglich Wünsche offen. Nun kommt in Tudvads Kritik eine Position zum Ausdruck, der sich manche Kierkegaard-Forscher nicht im Stil, doch in der Sache durchaus verbunden fühlen. Wem gehört Søren Kierkegaard, das ist die unterschwellige Schlüsselfrage des Kopenhagener Streits: den Theologen? Den Philologen? Den Philosophen? Gehört er den Frommen oder den Nicht-mehr-Frommen?
Wer freilich glaubt, die Frage abschließend beantworten zu können, der versündigt sich erst recht an Kierkegaard. In seiner Schrift „Entweder-Oder” von 1843 stellt Kierkegaard mit dem „Ethiker” und dem „Ästhetiker” zwei Existenzweisen einander gegenüber, die auch auf dem Wege der Hegelschen Vermittlung nicht zueinander finden können. Der ethische Kierkegaard, den Tudvad in den Quellen gefunden haben will, dürfte auch weiterhin ohne den ästhetischen nicht zu haben sein.
CHRISTOPH BARTMANN
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004

Wir können uns aus der Zeit nicht herausstehlen
Der Komplex Kierkegaard: Joakim Garff schreibt eine Biographie über den dänischen Dichterphilosophen und holt ihn aus der existentialistischen Dämmerung / Von Eberhard Rathgeb

Sören Kierkegaard ist gescheitert. Als er am Sonntag, dem 18. November 1855, um halb eins in der Frue Kirke in Kopenhagen im Sarg liegt, ist in der Kirche kein Platz mehr frei. Sein Bruder Peter Christian hält die Totenrede. Nach der Trauerfeier wird der Sarg zum Friedhof gefahren. Die Menge eilt hinterher. Am 2. Oktober war Kierkegaard ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen. Er war zweiundvierzig Jahre alt und hat sich wahrscheinlich zu Tode geschrieben. Das Leben als Dichter hat ihn erschöpft.

Kierkegaard liegt einundvierzig Tage im Krankenhaus, verweigert das letzte Abendmahl aus der Hand eines Pastors und fällt schließlich ins Koma. Am Sonntag, dem 11. November, ist er tot. In den Nachrufen wird er als Dänemarks größter religiöser Schriftsteller gepriesen. Dabei hatte er sich in den letzten Lebensjahren gewünscht, ein Märtyrer zu werden, verfolgt von der Menge, befürchtend, daß ihm das Volk auf der Straße eins auf die Nase geben würde. Schlimmer noch in dieser von ihm beklagten leidenschaftslosen Zeit: Er würde gleichsam von Gänsen totgetrampelt werden. Er hat sich geirrt. Die Gänse gingen nicht nur sonntags in die Kirche, um dort einen Gänserich predigen zu hören, sie kamen auch noch zu seiner Beerdigung.

Sein Gesamtwerk umfaßt fünfundfünfzig Bände, eine neue Ausgabe seiner Schriften erscheint gerade in Dänemark. Dahinter aber verschwand sein Leben, das an Ereignissen, die im landläufigen Sinne berichtenswert scheinen, äußerst mager ist. Er hat sich verlobt, er hat die Verlobung gelöst. Durch die Welt ist er nicht gekommen, er fuhr ein paarmal für kurze Zeit nach Berlin. Er hat kein öffentliches Amt bekleidet, sondern als Privatier vom Erbe seines wohlhabenden Vaters gelebt. Er hat mit Überwindung Theologie studiert, aber keine Pfarrstelle angenommen. Statt dessen hat er Bücher mit klingenden Titeln geschrieben: "Entweder/Oder" und darin das "Tagebuch des Verführers", "Der Begriff Angst", "Die Wiederholung", "Furcht und Zittern" und "Die Krankheit zum Tode". Mit fliegender und scharfer Feder hat er die staatliche Amtskirche und deren dünnblütiges Christentum angegriffen. Er hatte eine fixe Idee: daß die Wahrheit nur die eigene Existenz sei. Er hatte eine Aufgabe: das wahre Christentum zu fordern.

Bei all der vordergründigen Ereignislosigkeit seiner Biographie war er sich sicher, daß eines Tages sein Leben von höchstem Interesse sein würde. Er wurde nicht nur der Vordenker der dialektischen Theologie und der Stichwortgeber der Existentialisten, sondern auch: Kierkegaard läßt sich aus seiner Zeit nicht herausschälen, so wie er sich nicht aus seiner Zeit herausstehlen wollte. Und zwar in einem radikalen existentiellen und intellektuellen Sinne. Diese Erkenntnis ist das große Verdienst der in diesen Tagen erschienenen, gut erzählten Biographie des jungen Dänen Joakim Garff, eines der Herausgeber von Kierkegaards Schriften in der neuen Gesamtausgabe, die auch in Deutsch erscheint.

Sören Kierkegaard wird am 5. Mai 1813 als siebentes Kind einer reichen Familie geboren. Der Vater ist damals sechsundfünfzig, die Mutter fünfundvierzig Jahre alt. Über der Familie liegt kein Segen. Der Tod kehrt früh ein. Ein Bruder stirbt mit zwölf, eine Schwester nach langer Krankheit im Alter von fünfundzwanzig Jahren. Auch die Schwermut und der strenge Protestantismus des Vaters, der an das Bibelaufschlagen glaubt, lastet wie Blei auf dem Gemüt des Jüngsten: Der geliebte Vater wird zum Trauma. Vor Vollendung ihres fünfunddreißigsten Lebensjahres werden noch zwei Schwestern und ein Bruder sterben. Kierkegaard glaubt lange Zeit, daß er ebenfalls früh aus dem Leben gerufen werde: Das sei der Fluch einer Familie, deren Vater in der Jugend auf der Heide gegen Gott die Faust ballte. Eine andere Version des Geheimnisses um die väterliche Schwermut lautet, daß der Vater glaubte, am Tod seiner Kinder schuld zu haben, weil er sich in frühen Jahren mit Syphillis infiziert habe. Als die "unmenschlichste Grausamkeit" habe sein Vater ihm das Christentum vorgestellt, auch habe der Greis seine "eigene furchtbare Schwermut" in des Sohnes Seele gesenkt. "Meine Schwermut", schreibt Sören Kierkegaard 1847, "hat viele Jahre lang bewirkt, daß ich nicht dahin kommen konnte, im tiefsten Sinne zu mir selbst du zu sagen. Zwischen meiner Schwermut und meinem Du lag eine ganze Phantasiewelt."

Er büffelt in der Schule Latein, Griechisch und Hebräisch, wird Student der Theologie und beklagt die "wunderlich stickige Luft, die uns im Christentum begegnet", in der alles, was die Menschen auf Erden treiben, zur Sünde erklärt werde. Einflußreiche, mal radikale, mal weiche Alternativen zur Amtskirche lernt er früh kennen - in der Person Jakob Christian Lindbergs, aber auch N. F. S. Grundtvigs. Dennoch: Das alles reicht nicht aus, Kierkegaard sucht schon in frühen Jahren eine Wahrheit für sich, er möchte die Idee finden, für die er leben und sterben will. Er wird herausfinden, so sein Biograph Joakim Garff, daß diese Idee seiner Existenz darin liegt: zu schreiben. Fragte sich nur, über was. Er habe, so Garff, wie ein literarische Freibeuter seine Vergangenheit geplündert. Er hat aber auch jeden Anlaß in seiner unmittelbaren Gegenwart beim Schopf gepackt. Sören Kierkegaard war ein eminent aufmerksamer Zeitgenosse.

Wir dürfen nach dieser neuen Biographie Kierkegaard endgültig als einen Menschen sehen, der auf anstrengend geniale Weise seine Existenz in Schrift auflöste und dabei diese lebenslange Auslöschung durch das geschriebene Wort nicht einmal radikal begriff oder sich eingestand. Bissig und leidenschaftlich hatte er in der "Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift" gegen die mächtige Philosophie Hegels gewettert. Er, Hegel, habe die Wahrheit der Existenz in der dürren Objektivität der Begriffe ins Knie gezwungen. Dabei sei die Wahrheit nichts anderes als Subjektivität. Hegel wohne in der Hütte der Begriffe neben dem Schloß der Existenz. Schön und griffig gesagt, wie so vieles bei Kierkegaard. Aber dann verwandelt sich doch die Subjektivität unter Kierkegaards schreibender Hand in ein endloses Schreiben über die Subjektivität.

Er lebte in Fülle, und zwar nicht nur geistig. Als er Student war, machte er Schulden, die sein Vater, der sich aus armen Verhältnissen hochgearbeitet hatte und jeden Taler langsam umzudrehen verstand, begleichen mußte: Viele Reichstaler trug der Sohn als Dandy zum Buchhändler, zum Schneider, in die Konditoreien und zum Tabak- und Weinhändler. Er lebte mit seinem älteren Bruder Peter Christian, der ebenfalls Theologie studiert hatte und in den Kreisen der protestantischen Staatskirche sehr angesehen war, daheim beim Vater. Die Mutter, über die er in den Tagebüchern kein Wort verliert, war 1834 gestorben. Drei Jahre darauf zieht er aus der Wohnung aus: "Ich will mich abwenden von denen, die nur auf der Lauer stehen, um aufzudecken, daß man sich in der einen oder anderen Hinsicht verfehlt hat - hin zu ihm, der sich mehr freut über einen Sünder, der umkehrt, als über die 99 Weisen, die keiner Umkehr bedürfen." Er wird dann aber für kurze Zeit wieder ins Elternhaus zurückgehen, wo der übermächtige Vater im August 1838 im Alter von zweiundachtzig Jahren stirbt. Sören Kierkegaard deutet den Tod des Vaters als ein Opfer: ". . . und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, das er in seiner Liebe zu mir brachte; denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann." Die beiden Brüder legen das Erbe in Aktien an. Das Erbe wird für ein ganzes Leben reichen.

Der andere Mensch, der Kierkegaard zum Schriftsteller werden ließ, ist Regine Olsen, das junge Mädchen, mit dem er sich verlobt. Nach einem Jahr aber schon löst er die Verlobung auf, und die Geschichte wird zum Stadtgespräch. Ernst, um ein Lieblingswort Kierkegaards zu verwenden, hat er die Verlobung von Anfang an wahrscheinlich nicht gemeint. Die Briefe an seine Verlobte, so Joakim Garff, verraten in ihrer auffallenden ästhetischen Anlage nicht den zukünftigen Ehemann, sondern einen Schriftsteller: Sie sind als Abschiedsbriefe konzipiert. Als Kierkegaard den Bruch mit Regine Olsen herbeiführt, wird die verlorene Verlobte für ihn zu einem Mahnmal: im Beruf des Schriftstellers seine Berufung zu sehen.

Aus dieser ersten der wenigen Lebensgeschichten wird sein erstes Buch entstehen, mit dem seine Schriftstellerkarriere beginnt: "Entweder/Oder". Das später berühmte "Tagebuch eines Verführers" muß mit den Augen seines Biographen auch als ein Tagebuch einer gefürchteten Verführung durch die Frau gelesen werden, der sich Kierkegaard entzog. Die literarische Inszenierung von philosophischen Problemen, die "Entweder/Oder" auszeichnet, hatte Kierkegaard bei dem jung verstorbenen und von ihm geschätzten Philosophieprofesser Poul Martin Möller gelernt, mit dem er Gespräche führte. Im strengen Sinne beginnt mit "Entweder/Oder" auch der lange Zug der Pseudonyme, hinter deren Masken Kierkegaard schreibt: Denn was im Buch steht, soll nicht als eine Existenzaussage Sören Kierkegaards verstanden werden. Die einzige Existenzaussage, die Kierkegaard für sich mit diesem Buch trifft, lautet, daß seine allererste - und schließlich auch allerletzte - existentielle Wahrheit das Schreiben ist.

Theodor W. Adorno kommt in der Biographie Garffs nicht vor, so wie Kierkegaards gesamtes Nachleben hier nicht zu Wort kommt. Aber um die Bedeutung von Garffs Buch einzuschätzen, sei nach vorne geschaut: Adorno hat in seiner Rede zum einhundertfünfzigsten Geburtstag Kierkegaards dem dänischen Philosophen die Konstruktion einer "objektlosen Innerlichkeit" vorgeworfen. Der Frankfurter Philosoph hielt an der "Totalität des Begriffs" fest, der ein Denken sich nicht verweigern könne, das ein Kreisen und Trudeln in sich selbst vermeiden möchte. Doch gerade der Innerlichkeit des Christentums, das sich nicht in einer wirklichen Nachfolge Christi bezeugen möchte, hat sich Kierkegaard, vor allem in seinem späten offensiv geführten Kampf gegen die Vertreter der Amtskirche, entgegengestemmt, wenn er auch wußte: "Ich bleibe der unglückliche Liebhaber in bezug darauf, selber das Ideal eines Christen zu sein, deshalb werde ich dessen Dichter." Der sehr einflußreiche Pfarrer N. F. S. Grundtvig, der später Bischof von Seeland wurde, las Kierkegaads Buch "Einübung im Christentum" richtig: nicht als Aufforderung zur Innerlichkeit, sondern gerade als Aufforderung zur "Ausübung von Christentum". Mit Joakim Garff begreifen wir nun Kierkegaards Werk als einen Entwicklungsroman, dessen Innerlichkeit darin besteht, daß Kierkegaard seine Existenz und seine Kritik der Zeit - Adorno darin nicht unverwandt - in Schrift verwandelte: ein empörter, doch machtloser Intellektueller.

Kierkegaard ist ein begnadeter Geheimniskrämer: Die Schrift hütet das Geheimnis der Subjektivität. Doch vielleicht, so Joakim Garff, ist das Geheimnis des Geheimniskrämers hinter zahlreichen Pseudonymen nichts anderes als die Macht der Schrift selber. So gesehen und so gelesen, wäre Kierkegaard nicht der letzte Rufer in der Wüste des Christentums und nicht der erste Existentialist, sondern unter seiner über die Papiere dahinfliegenden Hand gleichsam der erste Schriftsteller und der erste Intellektuelle vor dem Dilemma der Moderne: daß der Schlupfwinkel der Wahrheit nur die Sprache ist.

Wer über Kierkegaards Werk etwas erfahren möchte, der muß sein Leben kennen. Er lebte in einer Kleinstadt, aber er lebte nicht allein. Die Details geben den Ausschlag, seine Familiengeschichte und die Personen, die er traf und mit deren Existenz er sich auseinandersetzte. Joakim Garff nennt das: Kierkegaard "kontextualisieren" - nicht um ihn kleiner zu machen, sondern um ihn dort zu finden, wo er steht und geht und sein "Menschenbad" nimmt. Joakim Garff ist dem vertrackten Komplex Kierkegaard auf die Spur gekommen, indem er sich an die Fersen des dänischen Sonderlings heftete und mit bewundernswerter Gründlichkeit und Umsicht zeitgenössische Quellen und Schriften las, nicht nur die Werke Kierkegaards. Sein Buch ist die erste und wahrscheinlich endgültige Lagebeschreibung eines inneren und äußeren Kampfes, der den dänischen Geistesmenschen zu dem werden ließ, als den man ihn nun verstehen lernen sollte. Er war ein tragischer Schriftsteller, der sich seiner Zeit und ihren symptomatischen Erscheinungen radikal stellte: einem in der Amtskirche zur Untätigkeit paralysierten Christentum, aber auch der durch die Presse geweckten "Menschen-Furcht", die an die Stelle der Gottesfurcht rückt. Er stellte sich der in der Menge und dem sogenannten Publikum auflösenden Individualität, der Heuchelei und Unredlichkeit der Gänse-Existenzen und der grassierenden Geistlosigkeit. Er war ein Konservativer, dem die monarchistische Regierungsform gerade recht war, doch rückte er später leise auch, so meint Joakim Garff, in die Nähe eines christlichen Sozialismus, der sich damals schon zu Wort meldete.

Als Bischof Mynster, der auch Beichtvater von Kierkegaards Vater gewesen ist, 1854 stirbt, hält sein Nachfolger H. L. Martensen eine Rede, in der er den Verstorbenen vollmundig einen "Wahrheitszeugen" nennt. Da reißt Kierkegaard, der für sich selbst nur in Anspruch nahm, ein Genie, aber kein Apostel zu sein, erneut die Geduld, und er bricht einen öffentlich ausgetragenen Streit vom Zaun, indem er die Lebenslügen der Kirchenmänner anprangert, die das Christentum predigen, aber es sich dabei wohlergehen lassen. Ein wahrer Christ sei nur der Mensch zu nennen, der seine Existenz so führe, als lebe er gleichzeitig mit Christus und nicht in einem sicheren historischen Abstand von eintausendachthundert Jahren. H. L. Martensen entrüstet sich: ". . . glaubt Dr. S. Kierkegaard wirklich, daß wir noch einmal annehmen sollen, daß er es mit dem, was er unaufhörlich doziert, ernst meint, daß die Wahrheit in ,Existenz' ausgedrückt werden soll?" Die Kirche nimmt die Aufregung des Sonderlings, der sich bei seinem Kampf mit Flugblättern zu behelfen wußte, zur Kenntnis und geht zur Tagesordnung über. Und wir?

Albert Camus warf Kierkegaard in seinem Buch "Der Mythos von Sisyphos" vor, daß er sich vor der radikalen Annahme des Absurden, einem Leben ohne Sinn, schließlich doch in den Glauben gerettet habe. Ein Notausgang, den der französische Existentialist vermeiden wollte, weshalb er das Absurde an jeder Straßenecke erwartete. Was er nicht sah, wahrscheinlich, weil er nur die Standardwerke des Dänen kannte, war, daß der Kierkegaard schon viel weiter gekommen war als bis zur nächsten Ecke: Kierkegaard, der stolz darauf war, die Kategorie des einzelnen ins Spiel gebracht zu haben, sah die Auslöschung des Ich voraus, von dem nur noch eine Spur bleiben würde - in der Schrift, in der geschriebenen Existenz.

In seinen Testament vermachte Sören Kierkegaard sein gesamtes Hab und Gut Regine Olsen, doch deren Ehemann lehnte die Annahme des Erbes ab. Um seine literarische Hinterlassenschaft, Briefe, Zettel, Manuskripte in Säcken, Kisten und Schachteln, kümmerte sich erst einmal sein Vetter Henrik Lund. Alles andere, Möbel, Kleider, Wein, Zigarren, Bücher, wurde auf einer Auktion versteigert.

Joakim Garff: "Sören Kierkegaard". Biographie. Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid. Carl Hanser Verlag, München 2004. 958 S., geb, 45,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Otto Kallscheuer ist begeistert, und ginge es nach ihm, hätte es wohl auch nochmal 1.000 Seiten so weitergehen können, denn Joakim Garff sei es beinahe wirklich gelungen, den Roman zu verfassen, "als den Kierkegaard sich sein Leben erschrieb". Garffs Methode: "poetische Präzision und psychoanalytische Anamnese". So werde sichtbar, was den "Sokrates von Kopenhagen" trieb: Es war, so der Rezensent, die Verzweiflung. Kierkegaard konnte Innen und Außen nicht versöhnen, seine radikale Innerlichkeit nicht mit dem Zwang zum Schreiben. Eine Zerrissenheit, die Kallscheuer zufolge in eine "Diaspora literarischer Gesten" mündet, in Kierkegaards "berühmte Pseudonyma". Ein großes Lob für den Erzähler dieser Lebens- und Schreibgeschichte.

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