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In Windys Salon hat sich der Professor, ein langjähriger Stammkunde, gerade zurechtgesetzt. "Noch kürzer?" fragt Windy. "Wollen Sie wirklich aussehen wie ein Marinesoldat, Herr Professor? Was haben Sie gegen Ihre Haare?" Windy schneidet und plaudert dabei über Gott und die Welt. Von dem Dekan im Rollstuhl, der angeblich mit einem Splitter im Unterleib aus dem Vietnamkrieg zurückgekehrt ist, und von Richter Caldwell, der hinter allen jungen Mädchen her war, bevor er einen Schlaganfall bekam. Von ihren beiden Männern, Seth, der im Gefängnis landete, und Walter, der eines Tages mit dem Wohnmobil…mehr

Produktbeschreibung
In Windys Salon hat sich der Professor, ein langjähriger Stammkunde, gerade zurechtgesetzt. "Noch kürzer?" fragt Windy. "Wollen Sie wirklich aussehen wie ein Marinesoldat, Herr Professor? Was haben Sie gegen Ihre Haare?" Windy schneidet und plaudert dabei über Gott und die Welt. Von dem Dekan im Rollstuhl, der angeblich mit einem Splitter im Unterleib aus dem Vietnamkrieg zurückgekehrt ist, und von Richter Caldwell, der hinter allen jungen Mädchen her war, bevor er einen Schlaganfall bekam. Von ihren beiden Männern, Seth, der im Gefängnis landete, und Walter, der eines Tages mit dem Wohnmobil auf und davon ist und sie mit den beiden Mädchen sitzenließ. Von einem Tornado, den sie selbst nur knapp überlebt hat, und von Blue Hole, einem tiefen Loch im Fluß, das in die Unterwelt führen soll. Man sagt Windy nach, sie habe das Zweite Gesicht, und schon als Kind, nach dem Tod ihres Vaters, hat sie Engel gesehen. Sie entführt den Professor und uns aus einem sehr realen Frisiersalon in ein merkwürdiges, rätselhaftes Zwischenreich, sie zieht uns hinein in schwindelerregende Vorfälle, existentielle Fragen und unterirdische Zusammenhänge. Ein Buch von so suggestiver Kraft wie Die Sache mit dem Hund.
Autorenporträt
Verena Reichel, 1945 geboren, wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie übersetzte u.a. Ingmar Bergman, Katarina Frostensen, Lars Gustafsson, Henning Mankell, Anna-Karin Palm, Hjalmar Söderberg und Märta Tikkanen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.1999

Lauschen im Hades
Lars Gustafssons windige Geschichte · Von Pia Reinacher

Ab und zu schweigt sie. Meistens aber plaudert die Coiffeuse. Der Professor hört zu, halb amüsiert, halb betäubt. In der Mitte sei das Haar noch ein bisschen schwarz, das sei selten in seinem Alter, sie sagt es ihm geradeheraus, denn sie ist ein aufrichtiger Mensch. Die Coiffeuse liebt das Haar des Professors, so weich, weiß, dicht, wie es ist. In ihrem Beruf brauche man nur drei Dinge: Schere, Shampoo, Geduld, sagt sie.

In Lars Gustafssons neuester Geschichte "Windy erzählt" werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Der schwedische Erfolgsautor hat die Haarschneiderin "Windy" - wir kennen sie bereits aus dem Roman "Die Sache mit dem Hund" - zum Mittelpunkt der Welt gemacht. In ihrem Monolog schießt alles zusammen. Die Coiffeuse ist es, welche die Fäden in der Hand hat und dem Philosophieprofessor die Welt erklärt. Alles kommt zur Sprache, unterschiedslos, sie flüstert im selben leiernden Ton über das Wetter, die Todesstrafe, die Spanische Grippe, den Versuch, Hitler zu klonen oder den lieben Gott.

Ein seltsames erzählerisches Arrangement, das Gustafsson seinem Leser beschert, und nach den ersten paar Seiten schüttelt man irritiert den Kopf. Kann das gut gehen? Diese Geschwätzigkeit? Dieses Zufallsprinzip? Und dann gerät plötzlich die Erzählbühne ins Wanken. Merkwürdige Katastrophensignale häufen sich. Die Coiffeuse redet vom alten Professor van de Rouwers, der eines Nachts im See treibend gefunden wird - ertränkt? Wir wissen es nicht, erfahren aber, dass der erklärte Widerstandskämpfer und Humanist in der Jugend antisemitische Artikel geschrieben hat. Wurde er umgebracht? Von einem Bewunderer, der nicht damit leben konnte, dass sein Idol zusammengebrochen ist? Sie redet vom Dekan, der im Vietnamkrieg verletzt wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt, hoch oben im West Mall Building von einem Fenster zum anderen fährt und alles unter Kontrolle hält. Sie redet von Richter Caldwell, seinem Freund, einem passionierten Anhänger flachbrüstiger Mädchen, die er in Supermärkten und Bars aufstöberte - vor seinem Schlaganfall, als er noch sprechen konnte. Hat er etwas mit dem Tod seines Widersachers zu tun?

Windy hat das zweite Gesicht. Eine Sibylle von Delphi ist sie, die munter vor sich hin orakelt, Umweltkatastrophen und Verschwörungen prophezeit. Sie spricht mit den Toten; sie weiß von spurlos Verschwundenen; sie hört mirakulöse Stimmen auf ihrem Telefonanrufbeantworter; sie wird heimgesucht von unerlösten Geistern. Eine rätselhafte, eine verrückte Welt, welche die sehende Coiffeuse düster monologisierend evoziert, eine Welt, die bevölkert ist von Grenzgängern zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Leben und Tod.

Auf diese Engführung läuft alles zu. Aus diesem Zentrum, so begreift man plötzlich, bezieht die Geschichte ihren Sinn. Eine diskrete Art von Sinnsuche regiert diesen Text, sie verbirgt sich hinter den Selbstgesprächen der Coiffeuse. Ein Schleier von Banalität liegt über den Dingen, und mit einem Ruck reißt ihn der Autor weg. Man hätte es wissen können, denn der Untertitel führt auf die richtige Spur: "Windy erzählt. Von ihrem Leben, von den Verschwundenen und von denen, die noch da sind." Der Leser versteht, dass diese Haarschneiderin eine moderne Anwältin des Schattenreichs ist, eine Mittlerin zwischen Lebenden und Toten.

Dass der Durchbruch der Realität zu den Gemächern des Totenreichs möglich ist, zeigt Gustafsson in zwei Schlüsselszenen: moderne Varianten der Unterweltmythen. Der Autor bedient sich alter Symbole. Windy weiß, dass jeder in die Unterwelt absteigt, früher oder später, "aber die Kunst ist, hinabzusteigen und wieder zurückzukommen". Die Unterwelt, die sie halluziniert, ist einmal ein Schrottplatz, durch den man in eine schauerliche Schlucht steigt. Verrostete, längst überwucherte Autos liegen da, die vor Jahren abgestürzt sind, in einem liegen die Skelette einer Frau und eines Mannes. Man geht tiefer, der Weg wird schmaler, Windstöße und Geräusche sind zu hören, von ferne leuchtet ein Licht. Wie in den Mythen sind es auch bei Gustafsson nur die Auserwählten mit dem goldenen Geschenk, die das Gesetz des Todes durchbrechen und aus dem Hades zurückfinden. Wer in Blue Hole in das tiefe Loch im Fluss klettert und zum unterirdischen See schwimmt, verschwindet. Tollkühne Kinder versuchen es manchmal, alle ertrinken. Nur einer ist zurückgekommen, ein alter, wunderlicher Mexikaner, ein von den Göttern Begnadeter, und erzählt, was er im Schattenreich gesehen hat.

Es sind die letzten Fragen, die Lars Gustafsson seiner Coiffeuse aufbürdet, die letzten Dinge, die er seiner so leichthin erzählten Geschichte einschreibt, und es ist diese irritierende Grundierung des Oberflächlichen, flüchtig Hingeworfenen mit dem Existenziellen, welche die Faszination seiner Geschichte ausmacht.

Lars Gustafsson: "Windy erzählt. Von ihrem Leben, von den Verschwundenen und von denen, die noch da sind". Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag, München 1999. 132 S., geb., 26,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Helmut Frielinghaus nennt Gustafssons neuen Roman eine "Inspiration". Das mag man nicht glauben, bleibt Frielinghaus in seiner Begeisterung doch ziemlich konventionell. Nach einer viel zu umfangreichen Zusammenfassung der Geschichte und einigen Bemerkungen über den Autor kommt Frielinghaus zu dem Schluss: "Wie alle Bücher Gustafssons ist auch dieses neue, bei schmalem Umfang, reich an wundersamen, angenehm gruseligen und komischen Geschichten." Explizit würdigt er die Übersetzung durch Verena Reichel, die sehr schön den Bewegungen des Monologs folge.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Wenn Lars Gustafsson erzählt, folgt man stets kühl und logisch komponierten Geschichten, die ihre Welten mit fotographischer Genauigkeit zeichnen." Dorothea Dieckmann, DIe Zeit, 09.12.1999

"... kleines Meisterwerk" Thomas Köster, Süddeutsche Zeitung, 02./03.10.1999

"...es ist diese irritierende Grundierung des Oberflächlichen, flüchtig Hingeworfenen mit dem Existenziellen, welche die Faszination seiner Geschichte ausmacht." Pia Reinacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.1999