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Esteban hatte sich als junger Mann ein anderes Leben erträumt, ist aber in der Familienschreinerei hängengeblieben. Anders als sein sozialistisch strenger Vater will er wie alle anderen auch sein Stückchen vom großen Immobilienkuchen. Und als sein Vater alt und nicht mehr handlungsfähig ist, investiert er das im Familienbetrieb erarbeitete Geld in eine Baufirma. Doch die Firma geht pleite und mit ihr die Schreinerei. Insolvenz, die Mitarbeiter stehen auf der Straße, selbst die kolumbianische Pflegerin des alten Vaters kann nicht mehr bezahlt werden. Doch Esteban ist auch mit siebzig noch ein…mehr

Produktbeschreibung
Esteban hatte sich als junger Mann ein anderes Leben erträumt, ist aber in der Familienschreinerei hängengeblieben. Anders als sein sozialistisch strenger Vater will er wie alle anderen auch sein Stückchen vom großen Immobilienkuchen. Und als sein Vater alt und nicht mehr handlungsfähig ist, investiert er das im Familienbetrieb erarbeitete Geld in eine Baufirma. Doch die Firma geht pleite und mit ihr die Schreinerei. Insolvenz, die Mitarbeiter stehen auf der Straße, selbst die kolumbianische Pflegerin des alten Vaters kann nicht mehr bezahlt werden. Doch Esteban ist auch mit siebzig noch ein vitaler Mann. Und er ist Realist. Eine Perspektive für die Zukunft sieht er nicht - und zieht die Konsequenzen.
Autorenporträt
Rafael Chirbes wurde 1949 in Tabernes de Valldigna geboren. Er verließ früh den Ort seiner Kindheit und lebte u.a. in Salamanca, Madrid und Barcelona, später einige Zeit in Paris und Marokko. Nach dem Studium arbeitete er als Literatur- und Filmkritiker. Zuletzt lebte Rafael Chirbes in Alicante, wo er 2015 starb.
Rezensionen
"Ein Tag genügt Chirbes, um in gewaltigen inneren Monologen Zeit und Vergangenheit seiner Figuren heraufzubeschwören. Von Zukunft redet hier keiner mehr. Stattdessen reden sie von Pleiten und Pfändungen, von der Arbeit, die sie verloren haben, vom familiären Beistand, ohne den der einzelne vor die Hunde ginge." Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2014

Der Scherenschnitt der Krise
Gebrochen, gallig durchtränkt: In seinem neuen, in aller Bitterkeit großartigen Roman „Am Ufer“
erzählt Rafael Chirbes von seiner Heimat Spanien nach dem Platzen der Immobilienblase
VON RALPH HAMMERTHALER
Spanien, sagte ein sozialistischer Wirtschaftsminister, sei das Land Europas, in dem man in der kürzesten Zeit das meiste Geld verdienen kann. Was er nicht sagte: Es ist auch das Land, in dem man in der kürzesten Zeit das meiste Geld verlieren kann. Aber das wusste er damals noch nicht. Denn den Jahren des Baubooms und der Immobilienspekulation folgte ein beispielloser Zusammenbruch: „Bei mir zu Hause von der Terrasse aus sehe ich die unbewegten Kräne über dem halb fertigen Wohnblock, an manchen von ihnen hängt eine Schubkarre, und diese Schubkarren sind der Stempel unter die Katastrophe, meine Katastrophe, die Aufgabe meiner Projekte, das Zeichen dafür, dass die Kräne unbenutzt sind und die Firma pleite. Ich sehe die Wohnblocks, zum Teil reine Betonskelette, sonst Ziegel, unverputzt. (. . .) Die Kräne: ein Scherenschnitt am Himmel und daran schaukelnd die Schubkarre, wie ein Selbstmörder an seinem Strick.“
„Am Ufer“ heißt der bittere und in seiner Bitterkeit großartige neue Roman von Rafael Chirbes. Er spielt an nur einem Tag im Dezember, so wie auch seine Romane „Der Fall von Madrid“ und „Krematorium“ an nur einem Tag spielen. Ein Tag genügt Chirbes, um in gewaltigen inneren Monologen Zeit und Vergangenheit seiner Figuren heraufzubeschwören. Von Zukunft redet hier keiner mehr. Stattdessen reden sie von Pleiten und Pfändungen, von der Arbeit, die sie verloren haben, vom familiären Beistand, ohne den der einzelne vor die Hunde ginge – und immer wieder von Tomás Pedrós. Im Epilog spricht dieser Pedrós dann selbst, am Flughafen, das Ticket für ein schönes, fernes Land in der Tasche. Die große Sause ist vorbei, jetzt zählen Solidität und Unauffälligkeit. Armut hat beinahe etwas Modisches. Spanien stehen langweilige, traurige Jahre bevor. Eher nüchtern als zerknirscht stellt Pedrós das alles fest, während er darauf wartet, dass sein Flug aufgerufen wird.
Es sieht so aus, als hätte Rafael Chirbes den Roman zur spanischen Krise geschrieben. Aber zum Glück enthält das Buch sehr viel mehr. Chirbes verhandelt darin seine großen, von Roman zu Roman enger geschnürten Themen von Tod und Vergänglichkeit. Vor dem Hintergrund der Krise leuchten sie umso schärfer und unbarmherziger auf. Esteban, Besitzer einer Schreinerei, hat sich mit Pedrós eingelassen und in zweifelhafte Bauprojekte verstrickt. Er wollte in kürzester Zeit das meiste Geld verdienen, dabei hat er in kürzester Zeit nur alles verloren.
Über weite Strecken ist Esteban der Erzähler. „Ich weiß nicht, ob ich es bedauere, nichts Höheres angestrebt zu haben. Hätte ich es, wäre meine Bitterkeit vielleicht noch größer, sie wäre von jener Galle durchtränkt, die meinen Vater sein Leben lang beherrscht und mit der er seine ganze Umgebung vergiftet hat.“ Chirbes hängt nicht am krisengebeutelten Zeitgeist, sondern sucht für das, was er als erzählenswert erachtet, nach historischen Wurzeln.
  Estebans Vater, erklärter Franco-Gegner, saß im Gefängnis und versteckte sich dann eine Zeit lang im nahegelegenen Sumpfgebiet. Erst auf Drängen seiner Frau kehrte er ins Haus zurück, zu Familie und Schreinerei, gebrochen, gallig durchtränkt. Durch den Verzicht auf Höheres erweist sich aber auch Esteban als Kind der Franco-Zeit. Viel später, wenn auch ohne persönlichen Bezug, bemerkt er: „Dem ganzen Land war ein solches Streben ausgetrieben worden. Nichts konnte wachsen und dieses Grau durchbrechen.“
  Esteban, siebzig Jahre alt, lebenslang im Küstenort Olba daheim, verkörpert dieses Grau. Als er, in Zeiten des Booms, Lust bekommt, mit Farben zu spielen, wird er ins Jedermannsgrau zurückgestoßen, mehr noch, in den Ruin.
Zu Hause pflegt er, seit er die kleine Kolumbianerin nicht mehr bezahlen kann, seinen dementen Vater. Er wäscht ihn, er ekelt sich, er nennt ihn einen Zombie, aber er verliert sich auch in den Anblick der runzligen Hände, „krumme Finger, Hornhaut, ungleichmäßige, deformierte Fingerkuppen, die Werkzeughände“. Und er sehnt sich danach, diese Hände zu küssen. Diese kurze, zärtliche Szene zeigt, wie Chirbes die kleinen Verlierer in den Blick nimmt, Handwerksbetriebe, Zulieferer für das große Bauen; Handwerker, die nicht das nächste Flugzeug nehmen können, um der Katastrophe zu entfliehen. Ein Film über die griechische Krise, „The Daughter“ von Thanos Anastopoulos, handelt ebenfalls von Handwerkern, die bankrottgehen. Am Ende steht da das Holzlager in Flammen. Auch Esteban weiß sich nicht mehr zu helfen; er sucht und findet eine drastische Lösung.
Einer aus Olba, immerhin, hat es geschafft. Francisco, Estebans Jugendfreund, der auf seine alten Tage in das verschlafene Nest zurückkehrt. Er, aus einer Familie von Franco-Anhängern stammend, ist eine Chirbes-Figur durch und durch. Denn er bringt eine gesellschaftliche Spannung ins Spiel, die auf den Bürgerkrieg zurückgeht. Klar, dass Francisco seinen Vater verachtet, aber dessen Geld nimmt er gern und überhaupt alles, was zu einem guten, wohlhabenden Leben gehört.
  Solche Charaktere tauchen bei Chirbes immer wieder auf, weil er sie in Spanien überall findet. Francisco war Chef eines angesehenen Magazins für erlesene Weine, ein Magazin von der Art, wie es auch Chirbes eine Zeit lang ernährt hat. Schon im vorangegangenen Roman „Krematorium“ ließ er die Hauptfigur auf dieselbe berufliche Vergangenheit blicken. Noch dazu hat Francisco die Tochter des Fischers geheiratet, Leonor, Estebans frühe große Liebe. Nichts weist darauf hin, dass er von dieser Liaison je etwas erfahren hat. Esteban aber trauert ihr immer noch nach. Dabei hat Leonor, mit weiblichem Instinkt, nur das bessere Los gezogen.
Dieser Roman hat nicht nur einen Epilog, sondern auch einen Prolog. Man muss diesen Prolog, sobald man mit dem Buch durch ist, noch einmal lesen. Denn er schildert das grausame Ende, das man beim ersten Lesen nicht zu deuten weiß. Außerdem erlebt man Chirbes, der sich sonst in kunstvollen Monologen ergeht, hier als Erzähler, distanziert, von außen betrachtend, im Gewand eines Krimiautors. Glaubt man ihm, dann war am Anfang, ehe er zu schreiben begann, nur die Vorstellung von einem Sumpf, in dem Bauschutt und Reste von Tieren und Menschen entsorgt werden. Tatsächlich drängt sich der Sumpf mit seinem Fäulnisgeruch immer wieder auf – als Versteck, als Jagdgebiet, Sexgebiet, Entsorgungsgebiet. Esteban kommt auch gern zum Angeln her.
Im Prolog wirft Ahmed, einer der entlassenen Arbeiter aus der Schreinerei, die Angelrute aus. Zwei Hunde balgen sich um ein Stück Aas. Ahmed beobachtet sie und erkennt eine menschliche Hand im Hundemaul. Angewidert will er nur weglaufen. Aber dann fallen ihm auch zwei Haufen auf, halb im Wasser liegend und mit einer Schlammkruste bedeckt, Umrisse von Menschen. Ein dritter Haufen lässt einen Tierkadaver erahnen. Eine andere Lösung hat Esteban nicht gefunden, weder für sich noch für seinen Vater noch für seinen Hund.   
Angesichts der langweiligen,
traurigen Jahre hat die Armut
beinahe etwas Modisches
Der kunstvolle Fabulierer
Chirbes ist hier als distanzierter,
kühler Beobachter zu erleben
Verhandelt auch im neuen Buch seine großen Themen: Rafael Chirbes.
Foto: Imago
„Von der Terrasse aus sehe ich die unbewegten Kräne über dem halb fertigen Wohnblock“: Aufgegebenes Bauprojekt bei Valencia.
Foto: Angel Navarrete/Bloomberg
      
    
  
  
  
Rafael Chirbes: Am Ufer, Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2014. 432 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Viele Leute reden viel und durcheinander in diesem Roman, der die spanische Immobilienblase mit Sumpfbildern aus der Natur engführt und als Endpunkt eines für Spanien strapaziösen Jahrhunderts setzt, schreibt Rezensent Jörg Magenau. Er hat zum Teil seine liebe Not, sich in dem hier aufgeschichteten Stimmenwirrwarr zurecht zu finden und räumt ein, sich bei der Lektüre eher wenig vergnügt zu haben. Dass Chirbes zu den großen Gesellschaftskritikern der spanischen Literatur zählt, rechnet er ihm zwar hoch an; auch deutet er "Am Ufer" als eine Art komplementäres Gegenstück zu Chirbes' Roman "Krematorium", der zu Zeiten des spanischen Immobilienbooms spielte. Doch die "Verfallsversessenheit" von Chirbes nagt sehr an der Konstitution des Rezensenten, der darüber klagt, sich durch "Geröllhalden von Nichtigkeiten" arbeiten zu müssen. Womöglich mag dies der künstlerischen Intention geschuldet sein, räumt der Rezensent ein - doch beschwerlich war seine Lektüre eben doch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2014

Jede Wirtschaft schafft sich ihre Abfallgrube

Rafael Chirbes schwingt in seinem grandiosen Roman über Spaniens Ruin die große Abrissbirne. Aber auch von unseren Wohlstandsmärchen lässt er nicht viel übrig.

Es ist ziemlich klar, was mit diesem Buch von Rafael Chirbes geschehen wird: Man wird "Am Ufer", gut vierhundert dichtgepackte Seiten über ein darniederliegendes Dorf am Mittelmeer, als den Roman zur spanischen Krise lesen. Der Baukrise, Schuldenkrise, Wirtschaftskrise. Der Familienkrise. Der Institutionenkrise. Der Sinnkrise allgemein. Und es wäre noch nicht einmal falsch. Nur eben, dass Schriftsteller nicht in Talkshow-Begriffen denken. So wenig, wie Chirbes seinen hochgelobten Vorgängerroman "Krematorium", der 2008 auf Deutsch erschien, als Beitrag zum entfesselten spanischen Immobilienboom verstanden wissen wollte, so wenig empfindet er "Am Ufer" als Buch über "die Krise". Sein Roman handele vielmehr "von der menschlichen Seele am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts", und das dürfen wir getrost verallgemeinern und auf die westlichen Industriegesellschaften beziehen. Wenn man sich von ernsthaften Romanen die Demontage kollektiver Täuschungen erwartet, dann schwingt Rafael Chirbes, Jahrgang 1949, hier die große Abrissbirne und lässt von unseren Wohlstands- und Modernisierungsmärchen nicht viel übrig.

Als Haupterzähler des Romans tritt der siebzigjährige Tischler Esteban auf, der sich bei einem windigen Immobilienprojekt seines Freundes Pedrós verzockt hat, die Familienschreinerei dichtmachen und fünf Angestellte entlassen muss. Die Zwangsvollstreckung steht bevor. Der Großteil von Chirbes' Roman spielt an einem einzigen Wintertag. Estebans Reflexionen und die Einwürfe anderer Figuren enthüllen die Miniatursoziologie in Olba und Misent (fiktive Namen, die an Orte wie Beniarbeig und Dénia in der Provinz Alicante erinnern, wo der Autor seit rund zehn Jahren wohnt) und zeichnen ein Panorama der mediterranen Trostlosigkeit. Die Baumaschinen ruhen, Investitionsruinen sprenkeln die geplünderte Landschaft, osteuropäische Nutten suchen selbst in den Sümpfen nach Freiern. Profiteure wie Pedrós haben sich derweil aus dem Staub gemacht und die Ärmeren ihrem Elend überlassen.

Allerdings, schon lange vor der Pfändung des Betriebs ist Esteban innerlich gestorben. Viele Jahre zuvor hat ihn seine große Liebe Leonor fallengelassen, um seinen erfolgreichen Freund Francisco zu heiraten, dem Muff der Provinz zu entfliehen und in der Gastro-Schickeria von Madrid zu triumphieren; nun ruht sie, vom Krebs besiegt, auf dem Friedhof von Olba, und die beiden ehemaligen amourösen Konkurrenten entrichten der Toten auf je eigene Weise Tribut. Um die Tristesse vollständig zu machen, muss Esteban auch noch seinen hochbetagten dementen Vater pflegen. Wer Philip Roths grandiose Generationengeschichte "Mein Leben als Sohn" vor Augen hat, könnte sich hier auch Momente der Nähe und Szenen schriller Komik vorstellen. Rafael Chirbes gewährt solche Erleichterung durch Lachen nicht. Hart und schonungslos beschreibt er den welken, sich verfärbenden Körper des mehr als Neunzigjährigen, der sein Leben als verbitterter Franco-Gegner vertat, schildert die Dusch- und Reinigungsprozedur, die der längst ins Rentenalter eingetretene Sohn an seinem Vater vollzieht, als makaberes Schauspiel unserer geriatrischen Zukunft. Vielleicht meinte der spanische Dichter Luis García Montero solche Szenen, als er in einer Würdigung des Romans in der Zeitung "El País" leicht besorgt von Chirbes' "totalitärem Nihilismus" sprach. Aber man kann es auch anders empfinden. Chirbes' unbarmherziger Blick und völliger Mangel an Rührung führen zu einer furiosen Beschreibungsgenauigkeit, die ihresgleichen sucht: kalte Arien über den Verfall, die eine eigene Form von Anteilnahme darstellen und von Dagmar Ploetz mit beeindruckendem Repertoire ins Deutsche übersetzt wurden.

Chirbes-Romane haben im eigentlichen Sinn keine Handlung, sondern sind vielstimmiges Seelentheater von hoher Rhetorik, angefeuert von manischem Redezwang. Einen Geistesbruder des Autors darf man in dem Portugiesen António Lobo Antunes vermuten. Man sollte auch deutlich sagen, was dieser Roman nicht ist: keine locker geschlagene Prosa im mittelguten Bereich, kein nettes Buch, keine Häppchenliteratur. Stattdessen eine erbarmungslose Analyse, insgesamt wohl ein paar Seiten zu lang, aber immer wieder von atemnehmender Klarsicht und Brillanz. Die Hauptfigur spricht, und zwischendurch fluten weitere Stimmen herein, die das Erzählte ergänzen, berichtigen oder ironisieren. Hier und da: Naturschilderungen von einer Schönheit, wie man sie selten liest. Es ist, als erhöbe die Sprache selbst Einspruch gegen die Zerstörung, die sie beschreibt. Ein Mittel der klassischen Moderne, die Kursivschrift, die den inneren Monolog anzeigt, kommt auch wieder zu Ehren. Da ist Liliana, die kolumbianische Pflegerin, die nicht mehr bezahlt werden kann und deshalb geht; der Abschied entlarvt Estebans väterliche Patronsattitüde als erotische Anbiederung. Da sind Joaquín, Julio und Ahmed, der Marokkaner, alles ehemalige Arbeitskräfte, für die der pleitegegangene Staat nichts mehr tun wird.

Und da sind - Chirbes' Spezialität seit Romanen wie "Der lange Marsch" und "Alte Freunde" - Estebans Weggefährten, deren Lebensläufe auf Brüche oder Systemkonformität untersucht werden. In der Bar von Olba treffen sie sich zum Kartenspiel, darunter Francisco, Sohn aus gutem Hause mit blendender Karriere in Gourmet- und Lifestylekreisen, und Justino, der eine wohlwollend akzeptierte Form des Menschenhandels für die Bauindustrie betrieb, ferner der Direktor der örtlichen Sparkasse, denn solche Leute sind immer wichtig. Chirbes stellt seine Figuren nicht bloß, das lässt er sie selbst besorgen, indem er ihre Reden über Ennui und Konsum, Koks und gekauften Sex aufzeichnet, ungeschönte Selbstporträts an der Grenze zur Anklageschrift.

Nur: Wer wird hier angeklagt, die Menschen? Die Gemeinde? Der Staat? Bevor der Bankrott sich im Geschäftlichen vollzieht, hat er längst im Bewusstsein stattgefunden, und alle stecken mit drin. Spanische Familienwerte, heute zum Sozialkitt einer ins Prekariat absinkenden Gesellschaft verklärt, erscheinen dabei eher als unabdingbares Fundament des frühesten iberischen Kapitalismus, mit entsprechender Berechnung und versuchter Leichenfledderei, sobald es etwas zu erben gibt. Lateinamerika als Gemeinschaft von Brudervölkern? Auch hier regiert eher der Klassenkampf, und wer nichts zu melden hat, fliegt als Erster. Spanische Landschaft, die Strände, das Licht? Ein Gut, das clevere Maurer, die zu Unternehmern aufstiegen, meistbietend an Spekulanten verhökert haben. Das alles läuft also doch auf ein Sittenbild des modernen Spanien hinaus, eine imaginäre Fortschreibung der "Nationalen Episoden" von Benito Pérez Galdós (1843 bis 1920), einem Balzac der spanischen Literatur, den Chirbes zu seinen Lehrmeistern zählt.

Der Autor macht sich dabei nicht zur moralischen Instanz, er hat nur den Finger am Aufnahmegerät. "Ist euch nicht aufgefallen, dass seit der Krise selbst der Fuhrpark hier langsam mehr dem marokkanischen als dem schwedischen oder deutschen ähnelt?" So fragt Francisco, der seinerseits keine Zahlungsschwierigkeiten kennt, weil er und seine Familie immer auf Seiten der Sieger standen. Auch für die private Lebensführung hat er ein cleveres Motto zur Hand: "Damit eine Ehe hält, muss man sich nicht ewige Liebe schwören. Statt dem Prasseln der Leidenschaft ein gemessenes egoistisches Köcheln bei mittlerer Hitze."

Chirbes' Personal lässt sich nicht als Truppe von Knallchargen abtun. Seine Beschreibung gehorcht der Erkenntnis, dass es parallel zur offiziösen spanischen Erfolgslegende (Übergang zur Demokratie, Eintritt in die EU, Wohlstand für alle) eine Gegengeschichte gibt, die von Kriegs- und Krisengewinnlern geschrieben wurde. Und für diesen gesellschaftlichen Befund ist das große Sumpfgebiet El Marjal, das außerhalb des Ortes liegt, die schlagende Metapher. Waren Meer und Strand das Verkaufsargument für jegliche Immobilienspekulation, wie sie im früheren Roman "Krematorium" geschildert wird, bildet der Sumpf in unmittelbarer Küstennähe gewissermaßen den verschwiegenen Hinterhof, in dem sich die unsichtbaren Sedimente der spanischen Geschichte ablagern: Hier versinken die versprengten Gegner des Franco-Regimes ebenso spurlos wie der erste Industriemüll eines Landes, das sich das Recht auf ein bisschen Wohlstand genehmigt, hier landen die entsorgten Nutztiere der Landwirte ebenso wie die Liquidierten, die heißen Autos und nichtregistrierten Waffen der modernen Mafia.

Jede Wirtschaft schafft sich ihre Abfallgrube. Und hier, wo sonst, vollzieht Esteban den letzten Akt - er, der seinem Freund Francisco die Seele abspricht und dann sich selbst in das Verdikt einschließen muss. Nein, sagt er, auch er habe keine Seele, "wir können nicht das haben, was nicht existiert, es gibt, was es gibt, und es dauert, solange es dauert". Und Schluss.

PAUL INGENDAAY

Rafael Chirbes: "Am Ufer". Roman.

Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Antje Kunstmann Verlag, München 2014. 430 S., geb., 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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