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Nach achtjähriger Haft wird Walter Kempowski im März 1956 aus dem Zuchthaus Bautzen entlassen. Es beginnt für ihn ein zähes Ringen um eine bürgerliche Existenz. In bisher unveröffentlichten Texten beschreibt Kempowski seinen Weg, vom Studium über seine Zeit als Landschulleher bis zum hart erkämpften Eintritt in die Literaturszene, und zeichnet zugleich ein Panorama der noch jungen Bundesrepublik.
Ausstattung: mit 60 s/w-Abbildungen

Produktbeschreibung
Nach achtjähriger Haft wird Walter Kempowski im März 1956 aus dem Zuchthaus Bautzen entlassen. Es beginnt für ihn ein zähes Ringen um eine bürgerliche Existenz. In bisher unveröffentlichten Texten beschreibt Kempowski seinen Weg, vom Studium über seine Zeit als Landschulleher bis zum hart erkämpften Eintritt in die Literaturszene, und zeichnet zugleich ein Panorama der noch jungen Bundesrepublik.

Ausstattung: mit 60 s/w-Abbildungen
Autorenporträt
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ. Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012

Der Chorleiter von Bautzen lebt

Zwischen Lakonie und Selbststilisierung: Walter Kempowskis Aufzeichnungen von 1956 bis 1970 zeigen seinen beschwerlichen Weg zum Schriftsteller.

Von Jan Wiele

Am 7. März 1956 telegrafierte er seiner Mutter drei Worte: "Ich bin frei." Acht Jahre Haft im Zuchthaus Bautzen lagen da hinter Walter Kempowski. Das Verrückte ist, dass man durch die Lektüre seiner nun veröffentlichten Aufzeichnungen aus den Jahren 1956 bis 1970 den begründeten Eindruck erhalten kann, dass er bereits während seiner Haft in Bautzen und sogar durch diese frei geworden ist.

So notiert er im Januar 1960 als Student in Göttingen: "Der freien Kontemplation und der Anerkennung der inneren Freiheit kam das Gefängnis insofern entgegen, als es für die leiblichen Bedürfnisse sorgte." Das ist recht nüchtern formuliert. Aber man wusste bereits aus späteren Äußerungen Kempowskis, dass er die Haft trotz aller Schrecknisse auch als "Segen" aufgefasst hat, weil sie so prägend für seine Persönlichkeit wie für sein Werk war. Nur wenige Monate nach seiner Entlassung spricht er im Brief an einen früheren Zuchthauskameraden gar von den "Jahren unserer Klosterzeit", an die er zumindest im Winter gern zurückdenke.

Kempowskis erste Schritte in der auch leiblichen Freiheit, wie er sie später in seinem Roman "Herzlich willkommen" beschrieben hat - die Ankunft in Hamburg, die Studienzeit in Göttingen -, begegnen uns hier nun in Form von Tagebucheinträgen und Briefen des Autors. Was dabei vor allem ins Auge fällt: Der lakonische Kempowski-Stil, die schlanke, unumwundene Analyse wie auch die manchmal seltsamen Grillen dieses Autors sind von Anfang an vorhanden. Nach einer Tanzparty im Mai 1956 in Hamburg beschreibt er zunächst das Glück einer kleinen Annäherung mit einer Tänzerin: "Es entwickelte sich auch mit ihr ein gewisser Kontakt." Dann aber heißt es übergangslos: "Wir schieden, ohne daß wir ein Wiedersehen verabredeten. Es lohnte nicht. - Lampions, Bowle. Ein Idiot war auch da, wie konnte es anders sein, ein Betriebswirt! Alles in allem ein erfreulicher Abend."

Sympathien und Antipathien werden immer klar ausgesprochen. Sehr belustigend wirkt der sachliche und mit Abkürzungen arbeitende Stil, wenn es um Intimitäten geht. So notiert Kempowski am 8. Juli 1958 unter dem Stichwort "Sexuelles": "Die erste bewußte E. stellte ich erst 1947 fest . . . und damit leider auch die M. Regungen anatomischer Art am P. beobachteten Ruth und ich gemeinsam, nach einer der so beliebten Balgereien, bei mir, damals war ich elf Jahre alt."

Gar nicht komisch sind dagegen die hier als erste Schreibversuche hervortretenden Schilderungen des Bautzener Gefängnisalltags. Diese zwischen den Tagebuchnotizen eingeschobenen Textblöcke werfen ein anderes Licht auf die besagte "Klosterzeit" und beschwören ihren ganzen Schrecken in nüchternen Bilanzen herauf: "60 Tote am Tag bei einer Belegschaft von 8000 Mann. 1500 TBC-Kranke, 450-Mann-Saal. œ Quadratmeter Raum für jeden". Dazu treten im Tagebuch die schon aus dem späteren Werk vertrauten Kernthemen: Kempowskis "Schuldkomplex", sein Gram angesichts von Unkenntnis und Unverständnis seiner Mitmenschen, was die Haft in Bautzen betraf, die Schikanen, denen sich der ehemalige Häftling in der neuen Heimat ausgesetzt sah. Frustriert schreibt er bereits im November 1956: "Was die Russen nicht geschafft haben, die Westdeutschen bringen's fertig."

Neben einer ausführlichen Dokumentation des pädagogischen Werdeganges bis zum Lehrerdasein in Breddorf und später Nartum sowie der Liebesgeschichte mit Hildegard Janssen, die 1960 seine Frau wurde, zeigen die Notizen und Briefwechsel mit Personen des Literaturbetriebs Kempowskis Weg zum Schriftsteller - hier gibt es Erstaunliches zu entdecken.

Die langjährige Korrespondenz mit dem damaligen Rowohlt-Lektor Fritz J. Raddatz erhellt, wie beschwerlich der Weg bis zur ersten Veröffentlichung war: Hier sieht man Ideen wachsen, so wie man sie auch gnadenlos verurteilt sieht, wenn Raddatz 1962 etwa ein vollkommen vernichtendes Verlagsgutachten mitsendet, das Kempowski einen "konventionell-dürftigen Ton" und "gepflegten Dilettantismus" bescheinigt. Kempowskis eigentümliche Reaktion auf solche Dämpfer zeigt sich in einem Wechsel aus dramatischen Selbstzweifeln und unerschütterlicher Durchhaltekraft, die schließlich mit dem Erscheinen des Haftberichts "Im Block" 1969 bei Rowohlt belohnt wird.

Sein allererstes Textangebot machte Walter Kempowski, wie man hier nun erfährt, allerdings schon 1958 dem Bärenreiter-Verlag: Es sollte von Bautzen erzählen, aber auf ganz andere Weise, als es "Im Block" dann später tat: nämlich von einem kirchenmusikalischen Erweckungserlebnis mit dem Gefängnischor, dessen Leitung Kempowski 1954 übernommen hatte. "Ich erlebte in sechs Jahren die Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik im kleinen", schwärmt er. Auch wenn aus diesem Buchprojekt nichts wurde, sollte der Autor 1993 im Vorwort zum ersten Band des kollektiven Tagebuchs "Das Echolot" seine Rolle als Chorleiter abermals hervorheben - nämlich als Dirigent der Vielstimmigkeit dieses dokumentarischen Jahrhundertprojekts. Im Lichte der jüngst erschienenen Arbeit des Göttinger Germanisten Kai Sina, "Sühnewerk und Opferleben - Kunstreligion bei Walter Kempowski", sieht man an solchen Indizien freilich auch Kempowskis Tendenz zur (nachträglichen) Selbststilisierung.

Damit ist man auch bei der Frage nach der Gestalt der vorliegenden "Aufzeichnungen": Es ist zu bedenken, dass sie, wie auch die zuvor veröffentlichten Tagebücher Kempowskis, eine Auswahl und Bearbeitung darstellen, die dieser im Jahr 2005, zwei Jahre vor seinem Tod, unter der Bezeichnung "Sockeltagebuch" noch selbst auf den Weg gebracht hat und die sein langjähriger Mitarbeiter und Biograph Dirk Hempel nun im Sinne des Autors herausgegeben hat. Wie Hempel im Nachwort selbst betont, handelt es sich also um einen "literarisierten Text", der leserfreundlich ist, nicht um eine historisch-kritische Edition. Aber selbst das Bewusstsein, hier eine von Chorleiter Kempowski mit dem großen Konzertprogramm seines Werks nachträglich etwas harmonisierte Motette zu hören, kann das Klangerlebnis kaum schmälern.

Walter Kempowski: "Wenn das man gut geht!"

Aufzeichnungen 1956-1970.

Hrsg. von Dirk Hempel. Knaus Verlag, München 2012. 624 S., Abb., geb., 29,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Allzu viel Neues hat Rezensent Willi Winkler in Walter Kempowskis nun unter dem Titel "Wenn das man gut geht!" erschienenen Tagebüchern aus den Jahren 1956 - 1970 nicht erfahren. Während der Herausgeber Dirk Hempel das Wesentliche dieser Tagebücher bereits für seine kurze "bürgerliche Biografie" Kempowskis ausgewertet hatte, liest der Kritiker in diesen Aufzeichnungen neben Termineinträgen, Verzeichnungen von regelmäßigen und ungewöhnlichen Ereignissen und Haushaltsfragen insbesondere Notizen von ebenso "hohen wie niederen" Gedanken, die die ersten Schreibversuche des Autors dokumentieren. Während der Rezensent zwar das Fehlen der Deutung von einschneidenden Erlebnissen wie etwa der schweren Krankheit von Kempowskis Frau beklagt und in den Aufzeichnungen nur wenige literarische Glanzleistungen entdecken kann, schätzt er das Werk doch als "Epos einer Schriftstellerwerdung", in dem der Autor immer wieder seine Erfolge und Misserfolge dokumentiert. Und so möchte der Kritiker dieses Werk besonders jungen Autoren ans Herz legen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2013

Kein Geld!
„Ich wäre schon froh, wenn ich ein paar Menschen gut unterhielte“: Walter Kempowskis Aufzeichnungen aus den
Jahren 1956 - 1970 sind das Epos einer Schriftstellerwerdung. Dieser Entwicklungsroman eines Außenseiters wird bleiben
VON WILLI WINKLER
Es kann gut sein, dass die Nachwelt nicht mehr ganz so begeistert auf Walter Kempowski reagiert, wie es jene eifrigen Rühmer taten, die sich in seinen letzten Jahren endlich einfanden. Kurz vor seinem Tod 2007 huldigten leibhaftige Bundespräsidenten dem langjährigen Dorfschullehrer, die Kollegen Journalisten buhlten um die letzten Worte des Todkranken und wetteiferten um die gewaltigsten Superlative, um seinem umfangreichen Werk gerecht zu werden. Aber war zum Beispiel das „Echolot“, war diese vielbändige Stimmensammlung wirklich „eine der größten Leistungen der Literatur“ des 20. Jahrhunderts, wie ein besonders gut aufgelegter Lobredner meinte? Hat das vieltausendseitige „kollektive Tagebuch“ überhaupt jemand gelesen?
  Kempowski wurde mit neunzehn in Rostock von der russischen Besatzung wegen mutmaßlicher Spionage verhaftet und 1948 zu einem Vierteljahrhundert Zuchthaus verurteilt. 1956 kam er aus dem Gefängnis in Bautzen frei und durfte in den Westen ausreisen, wo niemand auf ihn gewartet hatte. Er fühlt sich schuldig, weil er mit seinen Aussagen Mutter und Bruder ins Gefängnis gebracht habe. Der Spätaussiedler hofft auf die Anerkennung als politischer Flüchtling, die nie kommt. Er muss einen Lebenserwerb finden und dafür erst noch studieren; für den Aufbruch der Nachkriegsmoderne kommt er zu spät. Der jahrgangsgleiche Peter Rühmkorf soll ihn einmal gefragt haben, was er die ganze Zeit eigentlich gemacht habe.
  Kempowski wird Lehrer und möchte doch Schriftsteller sein. Kaum im Westen angekommen, kehrt er nach Rostock und Bautzen zurück und beginnt, die verlorene Welt zu rekonstruieren, und zwar nicht nur in den Büchern, die er in den folgenden Jahrzehnten schreibt. Sein Haus in Nartum in der Nähe von Bremen bezeichnete Kempowski gern als vereinfachten Nachbau des Bautzener Zuchthauses. Die Vergangenheit sollte ihn nicht verlassen.
  Den Vorsatz formuliert er früh für die Nachwelt: „Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wiederaufzubauen.“ Papier spielt eine wichtige Rolle beim Schreiben. Sein Förderer Fritz J. Raddatz hält ihn nicht bloß zum Schreiben an, sondern schickt ihm dafür öfter frische Packen Papier. Auf einem Foto zeigt sich der Schreibanfänger mit einem ungeheuren Stapel Papier auf den Knien: die Masse muss das machen, was der Inhalt noch lange nicht hergibt. Aber er arbeitet.
  „Das Ganze muß am Ende so stramm sein“, berichtet er einem Freund, „daß man sich wie von einem Maschinengewehr beschossen fühlt“. Er schreibt an verschiedenen Texten gleichzeitig, ist leicht durch andere Autoren zu beeinflussen, leiht sich den Ton von allen zwischen Kafka und John Galsworthy, bis der trockene, oft erfreulich sarkastische Kempowski-Ton entsteht, von dem im „Echolot“ leider gar nichts mehr geblieben ist: „Hildegard DIE EHEFRAUan der See, ich in Pornoshop.“
  Größeren Aufschluss über biografische Verheimlichungen wird man von diesem Tagebuch nicht erwarten dürfen, zumal der Herausgeber Dirk Hempel die Tagebücher bereits für seine kurzgefasste „bürgerliche Biografie“ Kempowskis (2004) ausgewertet hat. Die Krise, die Mitte der Sechziger ausbricht, als Kempowskis Frau schwer erkrankt und der Autor nicht nur unterrichten, sondern sich auch um die beiden kleinen Kinder kümmern muss, wird in diesem Tagebuch kaum angedeutet.
  Den Ton bestimmt ein dauerhaftes Grämeln. „Natur ist Natur“ – so legt er streng Schiller aus. „Dieses Anstaunen der Landschaft ist mir widerlich. Es gibt keine schöne oder weniger schöne Natur.“ Stolz verzeichnet er, es geht um Dostojewskijs „Idiot“, dass er den Antiquar um eine Mark heruntergehandelt hat. „Nun kann’s meinetwegen morgen regnen, ich hab genug mit mir zu tun.“ Naturgemäß handelt dieses Tagebuch von fast nichts anderem und ist genau deshalb von Bedeutung. „Wenn ich jetzt Zeit und Ruhe hätte, ich schriebe ohne Unterlaß“, stöhnt er. Immerhin, der Lehrerberuf gewährt dem Ich viel Freizeit, da kann er sich dem Schreiben widmen, das er mit der Leistungsbereitschaft eines Schwerarbeiters betreibt.
  Zu Beginn kann es der Tagebuchautor noch längst nicht. Er tastet sich vor, probiert herum, gibt aber nie auf. So ist das Tagebuch doch keins, sondern eine Art Schreibunterlage, auf der hohe und niedere Gedanken und Erinnerungen aufgezeichnet werden. Steif gehaltene Briefe wechseln mit zufälligen Beobachtungen. In Hamburg sieht er Max Schmeling und dessen Frau Anni Ondra im Café, liest Balzac und hält sein Leid fest: „Kein Geld!“
  Literarische Funken fliegen nicht in Überzahl, oft sind es bloß Termineinträge, schlichte Verzeichnungen regelmäßiger oder ungewöhnlicher Ereignisse, Buchtitel, Haushaltsfragen. Buchhalterisch auch der Hang zu Listen: Was brauch ich, was hab ich, was wird. Ob es den Plan, ein Total-Epos zu formen und es aus Erinnerungen, Aufzeichnungen, aus Hunderten, Tausenden von Mikro-Ereignissen, aus Sätzen und übers Gefängnis bewahrten Sprichwörtern zu montieren, von Anfang an gab, lässt sich nicht sagen, aber schon am 11. Juni 1956 trägt er „Einflüsse und Eindrücke“ für eine, seine Biografie zusammen. Er sammelt Fotos, lässt Bekannte, Freunde, Geschwister auf Band sprechen.
  Eine Jahresbilanz, im September 1962 abgefasst, verzeichnet den frisch angelegten Sandkasten, die neuen Beete, das erste Auto und mittendrin den Nachweis seiner Schreiberexistenz: „einen unverkäuflichen Roman geschrieben“. Kempowski schreibt aber weiter, er weiß nur nicht, was. Ende 1963, nach der erfolgreichen Lehrprobe, beginnt das Schreiben aufs Neue: „Ich habe mich sogleich auf den Bautzen-Stoff geworfen. Vielleicht ist dies der richtige Weg!“
  Diese sechshundert Seiten könnten als Lehrbuch für junge Autoren dienen, denn sie machen unendlich demütig. Es ist das Epos einer Schriftstellerwerdung, der insgesamt dreizehn Jahre währende Prozess, in dem aus dem entlassenen Sträfling, den die Gerichte und Behörden einfach nicht als politisches Opfer anerkennen wollen, ein Schriftsteller wird, dessen erstes Buch im Spiegel ebenso wie in der Frankfurter Rundschau gerühmt wird. Bis dahin träumt er sich als Autor, träumt, dass ihm der Verleger sein Honorar „in italienischem Geld“ ausbezahlt, 63,45 Mark.
  In der Wirklichkeit ist es der ehemalige Gefängnispfarrer, der ihn seinem Adoptivsohn (und, wie dieser in seinen Büchern gern ausgebreitet hat: Liebhaber) empfiehlt: Fritz J. Raddatz. Der hat die DDR verlassen können, ohne Jahre im Gefängnis zu sitzen. Stolz meldet Kempowski seinen Schwiegereltern den Besuch des Mannes, der „im Rowohlt-Verlag als Lektor oder so was beschäftigt“ ist. Raddatz ist interessiert, lässt sich zeigen, was der prospektive Autor bisher geschrieben hat, aber veröffentlichen will er es nicht. Obwohl die Gutachter, die Raddatz beizieht, im ersten Manuskript Qualitäten erkennen und dem Autor auch ein Buch zutrauen, wird es lange keines.
  Ohne nähere Angaben sind diese Tagebücher immer wieder gekürzt, es fällt aber dennoch ein bisher nicht gekanntes Seitenlicht auf den Literaturbetrieb. Während Kempowski weiter Blatt um Blatt füllt, macht Raddatz seine eigene Karriere, steigt als faktischer Verlagsleiter zum wichtigsten politischen Verleger auf, bringt Bahman Nirumand, Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit heraus, verkehrt mit Ulrike Meinhof und fordert in einer Rede bei einer Demonstration die Enteignung Axel Springers. Auch Kempowski wird von der Politisierung angesteckt. Beim Attentat auf Dutschke merkt er, „wie einseitig berichtet wird“. Sogar er, der Konservative, wünscht statt des Attentäters die Hetzer auf die Anklagebank. Ausgerechnet am Tag, an dem in Bonn die Notstandsgesetze verabschiedet werden, besucht Kempowski seinen Verlag, findet Raddatz aufgeregt am Telefon, „unsere Leute haben sie alle verhaftet“. Anschließend macht er das Manuskript „zur Sau“ und reicht den Autor an einen Lektor weiter. Das Buch wird angenommen, aber dann kommen dem Verlag doch wieder Zweifel. „Im Block“, wie der Bericht aus einem realsozialistischen Gefängnis schließlich heißt, kann bei den Aufgeregtheiten Ende der sechziger Jahre nicht auf viel Interesse rechnen.
  „Daß ich keinen Geniestreich geliefert habe, ist mir klar“, schreibt Kempowski in kokettem Stolz. „Ich wäre schon froh, wenn ich ein paar Menschen gut unterhielte.“ Aber der Verleger sagt ihm beim nächsten Manuskript ab, von dem er nicht einmal den Titel richtig kennt.
  Noch mal: Es könnte gut sein, dass Kempowskis Ruhm bereits zu verblassen beginnt, dass die „Echolot“-Kassette im Regal vollends einstaubt, aber dieses Tagebuch wird bleiben, als Entwicklungsroman eines Außenseiters, der sich mit seinen Büchern wieder in die Gesellschaft hineinschrieb.
  Der Stoßseufzer im Titel, so viel kann verraten werden, erweist sich am Ende doch als rhetorisch: Ja, es ging schließlich gut. Zwar verkaufte Rowohlt nur wenige hundert Exemplare des Gefängnisbuches, aber zwei Jahre später erscheint bei Hanser „Tadellöser & Wolff“, und damit begann Kempowskis unwahrscheinliche Karriere als Chronist eines nicht mehr existenten Bürgertums.
Er wird Lehrer und möchte doch
Schriftsteller sein
Diese Seiten machen
unendlich demütig
Walter Kempowski in Nartum, vor dem Eingang zum Friedhof, 1980.
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/ DPA
  
  
  
Walter Kempowski:
Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956-1970. Herausgegeben von Dirk Hempel. München: Knaus 2012. 624 Seiten, 29,99 Euro.
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"Ehrlich, komisch, anrührend." Kölner Stadtanzeiger Magazin, Orhan Pamuk