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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2002

Rechtsarbeit ist rechte Arbeit
Und Friedrich Müller war auch nicht faul: Ein neuer Jura-Klassiker

Daß die Lösung rechtlicher Fälle nicht in den Gesetzesparagraphen steht, hat sich unter den Gelehrten mittlerweile herumgesprochen. Viel weiter reicht deren Einigkeit indessen nicht. Kein Wunder, daß sich die Praktiker des Rechts kaum darum kümmern, was in der Theorie des Rechts verhandelt wird. Zumal ihre Rechtsprechung ja - alles in allem - leidlich funktioniert. Sie könnte indessen fraglos besser sein. Transparenter. Und ehrlicher. Dies freilich zu einem Preis, den zu entrichten den meisten bei weitem zu hoch ist: die Preisgabe ihrer alteuropäischen Ontologie. Die nämlich vielen die Lizenz verschafft, unbeirrt an ihrem Köhlerglauben festzuhalten, es gäbe trotz der genannten besseren Einsicht in die beschränkte Leistungskraft der Gesetze gleichwohl für jeden Rechtsfall nur eine einzige richtige Lösung.

Mit diesem, mit Verlaub: auch rechtstheoretischem Unsinn - und mehr - räumt Friedrich Müller gründlich auf. Nicht zuletzt in seiner "Juristischen Methodik", die, zusammen mit seinem früheren Schüler Ralph Christensen herausgegeben, nunmehr als "achte, neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage" vorliegt. Solche von anderen gelegentlich werbereißerisch verwendeten Zusätze, hier stimmen sie. Müller schreibt seine Bücher nicht einfach ab, sondern von Mal zu Mal auf weite Strecken wirklich neu. Diesmal erweitert um eine umfangreiche "Methodik des Europarechts". Ein Umstand, der eine schnelle und umfassende Rezeption seiner rechtstheoretischen Arbeiten bei den braven, regelmäßig noch immer auf ihr Land fixierten deutschen Juristen nicht unbedingt befördert. Zum Nachteil letztlich der Rechtsprechung, die das meiste gerade von Müller zu lernen hätte.

Zum einen, weil er mit durchdringender Gründlichkeit genau das analysiert, was sie tut oder zu tun vorgibt. Das gilt vor allem für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Die "Methodik des Verfassungsrechts" wird aber, wie es sich gehört, vom Autor zweimal thematisiert. Also nicht allein so, wie sie die Rechtsprechung selbst handhabt, vielmehr auch mit Blick auf deren Aufarbeitung und Darstellung in der wissenschaftlichen Literatur. Darüber hinaus hat Müller überzeugend entwickelt, woran es bis heute erkennbar mangelt. Und was zu leisten überhaupt nur gelingen kann, wenn und soweit endlich die Erkenntnis umgesetzt wird, daß es eben Rechtserkenntnis gar nicht gibt, auch keine Rechtsfindung und folglich keine Rechtsanwendung. Und dies ganz einfach deshalb, weil es an einem entsprechenden Objekt mangelt.

Anders gesagt: Recht existiert, bevor die Richter an die Arbeit gehen, sowenig wie präexistente Normen. Sie stellen beides erst her. Die "lex ante casum", das in Wahrheit nicht existente Gesetz vor dem Fall, wird ersetzt durch die Fallnorm. Müller spricht von Entscheidungsnorm. Die muß der Richter sich allemal von Fall zu Fall erarbeiten. Das heißt dann zu Recht Rechtsarbeit - so des Autors Leib- und Lieblingsvokabel für diese schöpferische richterliche Tätigkeit.

Müller hat ihr das Programm geschrieben. Ein höchst ausdifferenziertes Rechtsarbeitsprogramm. Bei dessen Realisierung Sprachelemente - die vermag das Gesetz noch beizusteuern - und Realdaten als gleichermaßen zum Entscheidungsprozeß gehörig endlich die ihnen gebührende Berücksichtigung erfahren. Womit es in eins gelingt, sich dem Würgegriff der obsoleten Dichotomie von Sein und Sollen ein für allemal zu entziehen.

Friedrich Müller also als rechtsstaatlicher Programmierer von Richterrecht. Er selbst will diesen Terminus allerdings allein für die Fälle vorbehalten wissen, in denen der Richter nicht lediglich die letztlich anzuwendende Entscheidungsnorm seinerseits bildet - das muß er notwendig immer -, sondern zuvor erst einen "Quasi-Normtext" formuliert, weil ein Gesetzestext weit und breit nicht in Sicht ist. Der jedoch - hierin sind sich der Autor und sein Rezensent mit zunehmend mehr "modernen" Theoretikern völlig einig - als einzige Rechtsquelle niemals taugt.

In diesem fortgeschrittenen Stadium einer modernen Rechtstheorie muß jetzt der fruchtbare Streit weitergehen. Mithin keineswegs mehr dort, wo die noch herrschende Lehre und Rechtspraxis bislang verharren. Ein mächtiges, ein in jeder Hinsicht entscheidendes Stück bereits vorangekommen zu sein, verdanken wir dem unermüdlichen Rechtsarbeiter Friedrich Müller. Von dessen umfassendem Werk hier lediglich eine Ahnung vermittelt werden konnte.

WALTER GRASNICK

Friedrich Müller, Ralph Christensen: "Juristische Methodik". Band I: Grundlagen, Öffentliches Recht. Achte, neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2002. 546 S., geb., 68,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, wird hier von Walter Grasnick als kleine Sensation gepriesen: dass der Verfasser dieses juristischen Standardwerkes, das nun in achter Auflage erscheint, seine Bücher nicht einfach abschreibt, sondern von Mal zu Mal in großen Teilen neu schreibe. Völlig neu sei in dieser Auflage die "Methodik des Europarechts" hinzugekommen. Darüber hinaus gebührt Friedrich Müller laut Grasnick die Ehre, mit solcherlei "rechtstheoretischem Unsinn" aufzuräumen, dass es so etwas wie gesicherte Rechtserkenntnis gebe, weshalb es folglich auch keine Rechtsfindung und Rechtsanwendung geben könne, wie Grasnick hinzusetzt. Das erstaunt den Laien zunächst, der vom Rezensenten darauf hingewiesen wird, es ginge darum, die Juristen von ihrem "Köhlerglauben" zu befreien, dass für jeden Rechtsfall nur eine einzige Lösung existiere. Soviel können Gesetze gar nicht leisten, behauptet Grasnick und sieht sich mit Müller konform, dass sich der Richter seine Entscheidungsnorm von Fall zu Fall neu erarbeiten müsse.

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