Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 6,50 €
  • Broschiertes Buch

Eine Zeitreise durch die literarische und politische Schweiz
Einst waren heroische Legenden wie die eines Wilhelm Tell ein »realpolitischer Faktor von existenzieller Bedeutung« für die politische Befindlichkeit der Schweiz, dem auch die kritische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nicht beikommen konnte. Noch in den 1930er Jahren stärkte der Rückgriff auf Heldenfabeln den Widerstand gegen das faschistische Europa, bis sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Lächerlichkeit preisgegeben wurden.
Keiner der Schweizer Dichter ist unpolitisch: Jeremias Gotthelf steht für die
…mehr

Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktbeschreibung
Eine Zeitreise durch die literarische und politische Schweiz

Einst waren heroische Legenden wie die eines Wilhelm Tell ein »realpolitischer Faktor von existenzieller Bedeutung« für die politische Befindlichkeit der Schweiz, dem auch die kritische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nicht beikommen konnte. Noch in den 1930er Jahren stärkte der Rückgriff auf Heldenfabeln den Widerstand gegen das faschistische Europa, bis sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Lächerlichkeit preisgegeben wurden.

Keiner der Schweizer Dichter ist unpolitisch: Jeremias Gotthelf steht für die 1830er Revolution, Gottfried Keller trommelte für die von 1848 in Versen, C. F. Meyer wurde 1870/71 mit einer Hymne auf Bismarck berühmt. Auf bekannt elegante Weise schlägt der Autor den Bogen von Wilhelm Tell zu Fritz Zorn, von Lavater zu Peter Bichsel, und führt vor Augen, wie eng Literatur und Geschichte der Schweiz verbunden sind, untereinander, aber auch in Austausch und Verflechtung mit der europäischen Geschichte und der deutschsprachigen Literatur insgesamt.

Autorenporträt
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Hohle Gassen, breite Wege
Peter von Matts patriotische Kritik / Von Hermann Kurzke

Warum gibt es kein Grab von Max Frisch? Weil einige Monate nach seinem Tod eine Freundesschar in Berzona des Verstorbenen gedachte, feierte, zechte, ein Feuer entzündete und es sich planlos ergab, daß einer die Urne brachte, in den Krug faßte, eine Aschenfahne in die Flammen warf, andere ebenfalls hineingriffen, "und Wurf um Wurf, langsam, feierlich und fröhlich, wehte die Asche des Dichters erneut in das prasselnde Element und tanzte in den Flammen und schoß mit ihnen hinauf zum lautlosen, schwarzen Himmel". Der die Erstarrung des Lebens im Bildnis immer bekämpft hatte, wurde wunschgemäß im Tode unfaßbar, körperlos, grenzenlos und flüchtig-wandelbar wie lebendige Luft.

Mythen sind notwendig: Das ist einer der Grund-Sätze des Zürcher Germanisten und Essayisten Peter von Matt, der diese Geschichte erzählt in einer Sammlung geschliffener Aufsätze über die literarische und politische Schweiz. Mythen sind fatal: So lautet der zweite Grundsatz. Wie geht beides zusammen? Einerseits betreibt von Matt das traditionelle Literatengeschäft mythenentlarvender Schweizbeunruhigung, andererseits tut ihm weh, was er "das kalte Ausräumen aller mythischen Substanz aus der Überlieferung und Selbstreflexion des Landes" nennt. Er ist ein Dialektiker par excellence. Weil das eine das andere ermöglicht und umgekehrt, kann er von nichts handeln, ohne zugleich das Gegenteil zu bedenken - kann Aufklärung nicht ohne Mythen erörtern, Helden nicht ohne Opfer, Gewalt nicht ohne Liebe, das Fest nicht ohne den Tod, die Ordnung nicht ohne die Wildnis, das Eingeschlossene nicht ohne das Ausgeschlossene. Einerseits kritisiert er die Verklärung vergangener Blutbäder zu gegenwärtigen Festen, andererseits tadelt er eine Zerknirschungsliteratur, die jedwede Festivität moralisch verregnet. Beides ist je für sich allein unzureichend, die mythisch warme Lüge so sehr wie die nackte kalte Wahrheit.

Den "kritischen Patrioten" und Schweizmoralisten, die nicht müde werden, die Lebenslügen des Landes zu geißeln, die Tell-Legenden von Freiheit, Demokratie und Antifaschismus, ihnen wirft er vor, daß sie die Mythen nur zu destruieren wüßten, aber kein Äquivalent für ihre Leistungen anzubieten hätten. Mythen sind nicht nur blauer Dunst, den man wegzublasen hat, und alles ist gut. Der Mythos ist "Wahrheit in Lügengestalt" - also auch Wahrheit! Peter von Matt sieht das Doppeldeutige der mythischen Stiftung: sieht die legendenstarrende Festung der Feindseligkeit nach außen, mit ihrer Verdrängung alles Unliebsamen aus der Burg der Erinnerung, ihrer Eigenbestätigung auf Kosten alles Fremden, aber er sieht auch das dadurch Erzielte: die Wärme innen, das Einigkeitsgefühl, die Erhebung über die Selbstsucht, das Ethos der Gemeinschaft und des Helfens. Und er meint, wohl mit Recht, das eine sei ohne das andere nicht zu haben. Ohne das Ferment des Bösen kein Fest.

Muß diese Erkenntnis den kritischen Intellektuellen nicht mitten ins Herz treffen? Muß sie nicht alle Mythenkritik lähmen? Rechtfertigt sie nicht das Lügen? Lehrt sie nicht, das Böse kampflos in Kauf zu nehmen? An dieser Stelle sind Unterscheidungen angebracht. Mythos ist nicht gleich Mythos. Formal gesehen mögen alle Mythen Lügen sein, aber auch unter den Lügen gibt es humane und inhumane, nützliche und schädliche. So darf der Literat durchaus Mythen erzählen wie den von Max Frischs Asche, die als Rauch aufsteigt in die Unendlichkeit. Aber er muß wissen, was er tut. Er soll ein Heger sein im Mythenforst, hilfreiche Geschichten düngen, schädliche ausjäten.

Daß von Matt der Selbstbeweihräucherung der Schweiz nicht bezichtigt werden kann, zeigt der Tenor fast aller Reden und Rezensionen dieses Bandes, mögen sie nun von Gottfried Keller oder von Robert Walser, von Conrad Ferdinand Meyer oder von Johannes von Müller, von Friedrich Dürrenmatt oder von Max Frisch handeln. Zweifelsfrei gehört er selbst zu jenem kritischen Patriotismus, dessen Ungenügendes er moniert. Durchaus trifft auch auf ihn zu, daß er nach großflächiger Mythenzersetzung nur wenig Äquivalente liefert. Er zeigt maliziös lächelnd die Mechanik der Mythen sowie die Verwendung von Geschichte und Geschichten als Rauschmittel, verharrt aber im Vergangenen und hat der Gegenwart wenig anzubieten. Wilhelm Tell in Ehren, aber als emphatische Figur ist der Bogenschütze im Kommunikationsdesign der Industriegesellschaft nicht mehr recht brauchbar.

Und dennoch: Von Deutschland aus gesehen möchte man die Schweiz um solche Diskurse beneiden. Das Land ohne Identität staunt über die merkwürdig selbstbewußte kollektive Gegebenheit namens "Schweiz" (wobei am Rande zu bemerken bleibt, daß in diesem Buch fast nur von den deutschsprachigen Kantonen die Rede ist). Wilhelm Tell scheint dort zu leben, im Schulunterricht jedenfalls und wenigstens im Spott der Dichter. Wer aber in dem Land, dessen Nationalmythen und Identitätssymbole im Inferno der Hitlerzeit zerplatzten, ernsthaft oder satirisch von Hermann dem Cherusker oder von Kaiser Rotbart im Kyffhäuser reden wollte, machte sich lächerlich. Siegfried ist so tot wie der kraftstrotzende Aufmarschgesang "Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte" von Ernst Moritz Arndt. Auch die deutschen "Helden" galten in ihrer Zeit als Freiheitskämpfer, nicht als duckmäuserische Untertanen. Sie sind tot, weil sie in den Sog der NS-Zeit gerieten, nicht weil sie so viel schlechter gewesen wären als Wilhelm Tell.

Heute sehen Deutschlands Nachbarn die Gefahr, daß die Deutschen sich ihrer Identitätslosigkeit brüsten und als übernationale Moralapostel Europas eine neue Art von Überheblichkeit ausbilden könnten. Was ist dagegen zu tun? Wenn die Schweiz ihr symbolisches Büebli braucht, arm, sauber und keck, einen kleinen David mit der Schleuder, sollten die Deutschen dann ihren Michel wieder ausgraben? Oder gilt es nicht doch für alle, Abschied zu nehmen vom mythischen Gerümpel des neunzehnten Jahrhunderts, auch wenn dieses noch ein wenig Restwärme ausstrahlt, und sich auf ein kühles und klares Europa einzustellen? Vom Mythen-Altbestand nur das Europataugliche zu pflegen? Die Schweiz als Inbegriff Europas: auch das ist ein Schweizer Mythos, besser als Tells Alpenfestung.

Peter von Matt: "Die tintenblauen Eidgenossen". Über die literarische und politische Schweiz. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2001. 319 S., geb., 49,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Tatsächlich schon fast eine Literaturgeschichte der Schweiz." Rémy Charbon, Tages-Anzeiger, 29.08.01

"Geistvolle (und geistreich formulierte) Aufsätze über die Großen der Schweizer Literatur." Martin Ebel, Basler Zeitung, 29.08.01

"...eine Lesekunst des zartesten 'close reading', gepaart mit klaren, kräftigen, weitreichenden Deutungsideen; eine Gabe des Formulierens und wissenschaftlichen Erzählens, die in der heutigen Germanistik ihresgleichen nicht hat." Andreas Isenschmid, Die Zeit, Juni 02