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»Eine Satire auf die versnobte Künstlerwelt.« Roman Bucheli in der 'NZZ'
In diesem Buch kreuzen sich Geschichten und Erinnerungen wie Menschen in einem Treppenhaus. Sie alle verbindet die Sehnsucht nach den verdeckten Träumen des Alltags, in einer Welt, die diese unerfüllbar und lächerlich macht. Und so rücken die Figuren mit ihren Ängsten und Niederlagen immer dichter zusammen, ohne zu ahnen, dass eine von ihnen zur Mörderin wird.

Produktbeschreibung
»Eine Satire auf die versnobte Künstlerwelt.« Roman Bucheli in der 'NZZ'

In diesem Buch kreuzen sich Geschichten und Erinnerungen wie Menschen in einem Treppenhaus. Sie alle verbindet die Sehnsucht nach den verdeckten Träumen des Alltags, in einer Welt, die diese unerfüllbar und lächerlich macht. Und so rücken die Figuren mit ihren Ängsten und Niederlagen immer dichter zusammen, ohne zu ahnen, dass eine von ihnen zur Mörderin wird.
Autorenporträt
Brigitte Kronauer wurde am 29. Dezember 1940 in Essen geboren. Sie studierte Germanistik und Pädagogik und war bis 1971 als Lehrerin tätig. Bereits ihr erster Roman, 'Frau Mühlenbeck im Gehäus', der 1980 erschien, erregte große Aufmerksamkeit. Seither hat sie mehrere Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen, 2011 erhielt sie den Jean-Paul-Preis, 2017 den Thomas-Mann-Preis. Brigitte Kronauer ist am 22. Juli 2019 in Hamburg gestorben.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Als Genuss, wenngleich keinen ungetrübten, beschreibt der hier rezensierende Schriftsteller Jochen Schimmang seine Lektüreerfahrung mit dem neuem Roman der Kollegin, hat doch manches aus dem hier erzählten Leben einer fiktiven Schriftstellerin für ihn hohen Wiedererkennungswert. Doch mitunter macht ihn die "scheinbar grenzenlose Fantasie" dieser Brigitte Kronauer auch ein wenig sprachlos, hat er zuweilen den Eindruck eines ausufernden, aber irgendwie auch beliebigen Sprachgebildes. Trotzdem handelt es sich seiner Ansicht nach doch um eine "recht klare Geschichte", habe man es insgesamt mit einem schnitzlerisch verzahnten Figurenreigen zu tun, in dem es Schimmang zufolge allerdings nicht nur um Erotik geht. Es werden, wie man liest, auch "unterschiedlich gefärbte Glücksvorstellungen", Hartz IV oder abgelebte Konsumparadiese. Auch höhere Theorieregionen konnte Schimmang in diesem Buch ausmachen, das ihm am Ende das Fazit entlockt, das niemand uns das Leben und die Wünschen der Menschen "so fein, so detailliert, so betrüblich und auch so erheiternd" wie diese Autorin mit dem ebenso bösen wie menschenfreundlichen Blick vorzuführen vermöge.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2009

Ein Wogen der Anblicke begann

In der Befehlszentrale der Einbildungskraft: Brigitte Kronauer begibt sich in ihrem neuen Roman "Zwei schwarze Jäger" auf den steilen Bergpfad zur Neuen Mythologie der Romantiker.

Von Ingeborg Harms

Schon auf der ersten Seite von Brigitte Kronauers neuem Roman wird der Leser zwischen leutseligem Entgegenkommen und bodenloser Fremdheit hin und her gerissen. Denn während uns die Schriftstellerin Rita Palka in die Einzelheiten eines missglückten Leseabends einweiht, schaut sie sich dabei zu, wie sie sich selbst beobachtet. Und für einen schwindelerregenden Moment befinden wir uns im Kopf der Autorin, der wir eben noch aus sicherer Distanz zu folgen meinten. "In Zuständen der Überreizung passiert das gelegentlich. Kaum gelingt es dann einer Situation, Ritas nachhetzenden Sätzen zu entkommen." Ehe wir uns versehen, stehen wir in einem Kraftfeld, aus dem wir dreihundert Seiten lang nicht mehr entkommen. Denn die Sprache, der Brigitte Kronauer uns aussetzt, ist so sprungbereit und elastisch wie ein lauerndes Raubtier. Von der ersten Seite an hetzt der Leser um Verständnis ringend ihren Volten nach und möchte sich zugleich betäubt in Sicherheit vor ihnen bringen.

Rita Palka selbst ist Komplimenten auf den Leim gegangen, als sie gegen ihren Instinkt eine etwas zu überschwängliche Einladung in eine deutsche Kleinstadt annahm. Im grünen Kabinett des dortigen Schlosses findet sie sich vor einer Handvoll zwangsverpflichteter Zuhörer wieder, die ihre Lesung im Halbschlaf über sich ergehen lassen. Zusehends erboster über diese Zumutung, beschließt sie, ihre der Grotte des Tiberius in Sperlonga gewidmete Erzählung an der Vorlage vorbei zu improvisieren.

Frische Luft für blinde Triebe.

Der Schwindel, der uns auf der ersten Seite ergriff, wird nun zum Höhentaumel. Wir sehen der dichterischen Phantasie dabei zu, wie sie aktuelle Beobachtungen und Erinnerungen einspinnt, literarische, mythologische und metaphorische Assoziationen anschlägt. Dabei verwandelt sich das grüne Kabinett des trügerisch verschlafenen, aber in Wahrheit verwunschenen Schlosses in metaphysisches Kino, in ein Metapanorama, in ein interaktives Museum der Kulturgeschichte, in die Kommandozentrale der Einbildungskraft und das unkartographierte Gedankenlabyrinth einer Ränke schmiedenden Autorin, deren "lautloses Spottgelächter" von den Wänden widerhallt.

"Ein Wogen der Anblicke begann, ein Strömen, das mich mitriss, dann wieder anhielt", beschreibt Rita Palkas Heldin einen phantasmagorischen Moment in der Sperlonga-Grotte, "Wellen, die sich wie diejenigen draußen aufgipfelten zu festen Formen, zu blitzschnell gemeißelten Arien, und zurücksanken." Die Erde allerdings "musste ihren Rücken nur einmal zucken lassen und alles wäre vorbei. Doch wie soll man anders existieren als in anekdotischen Hoffnungen? Selbst die Religion, bei strengstem Formverhalten, verfährt nicht anders."

Das strengste Formverhalten mutet sich auch Brigitte Kronauer zu, ihre Arien sind anekdotisch wohlverpackt und literarisch haltbar gemacht. Erst die Diamantnadel der Lektüre bringt sie in Schwingungen, die von der platonischen Philosophenhöhle in die Johannesgrotte auf Patmos führen, denn die Visionen, mit denen Kronauers Roman uns heimsucht, sind veritable Offenbarungen über den Endzustand einer Menschheit, die mit dem vulkanischen Erdrücken, auf dem sie nur zu Gast ist, auch die Transzendenz vergessen hat. "Überall klafften die riesigen Lücken, wo einmal die Tiere geherrscht und geatmet hatten", grübelt der greise Herr Schöffel beim Versuch, seinen überschwemmten Keller mit einem Spielzeugeimer trockenzulegen. Erschöpft bleibt er auf halber Treppe sitzen wie Dantes Belacqua auf dem Läuterungsberg: "Er hat Angst vor den nachquellenden Straßenpflasterern. Die gesamte, sich ohne Gewissen und Verstand um ihrer selbst willen vermehrende Menschheit will asphaltieren über jeden Horizont hinaus."

Zunächst hatte Rita Palka "Zwei schwarze Jäger" vorgelesen, eine Erzählung, die sich um eine in der Villa Borghese ausgestellte Skulpturengruppe gleichen Namens dreht: Zwei schwarze Raubtierführer, die ihrerseits durch Fußketten gefesselt sind. Das allegorische Potential dieser Plastik, die Ambivalenz von Herr und Knecht und jene Latenz, die den Jäger jederzeit zum Gejagten werden lassen kann, schöpft Kronauer in den scheinbar willkürlich aufeinanderfolgenden Erzählungen ihres neuen Buches aus. Dabei treibt sie weniger das stets drohende wechselseitige Zerfleischen um als die Frage, wohin "Jäger und Löwe gemeinsam" streben.

"Zwei schwarze Jäger" ist als wechselnde Versuchsanordnung für Momente konzipiert, in denen dieses Streben, von Kopf und Trieb, von Mann und Frau, Wille und Vorstellung plötzlich über die Selbstzerfleischung siegt. Dass der Schriftsteller nicht über diesem Drama steht, sondern seinerseits an die Einbildungskraft gekettet ist, verrät die Erzählung von einer Ratte, die sich bei einem Arbeitsurlaub in Rita Palkas Schlafgemach verirrt hat. Als die Nervosität von Mensch und Tier zur Hysterie geworden ist, öffnet Rita beherzt die Tür, und die Ratte entwischt. Auf die eine oder andere Weise geht es in allen Geschichten um diesen Griff zur Klinke, der das projizierende Gehirn mit frischer Luft versorgt und den blinden Trieb auf neue Wege bringt.

Bei der an einen Rollstuhl gefesselten Helene Pilz quartiert sich ein junger Exliebhaber ein, für den sie einmal Mann und Sohn verlassen hat. Als sie erkennt, dass mit einer Wiederaufnahme der alten Beziehung nicht zu rechnen ist, findet ihre Leidenschaft ein neues Objekt. Als moderne Version von Laclos' Madame de Merteuil verlegt sie sich aufs Zuschauen und stiftet den Exliebhaber zur Verführung ihrer biederen Nachbarinnen an: "Lass sie brennen und frieren", befiehlt sie ihm, "lass sie in Geistesabwesenheit und Raserei verfallen", denn nur so, wie sie aus Erfahrung weiß, verlieren sie ihr Herz aus Stein: "Man zehrt sein restliches Leben davon."

Die reiche Wally Mülleis hat es nie so weit gebracht, sie ist an eine kindliche Schwärmerei für "Oom Henk" gekettet. Dass ihr Wuchs auch im späteren Leben zwergenhaft bleibt, hat offenbar mit dem belauschten Bekenntnis des Onkels zu tun, er messe alle erwachsenen Frauen an seiner ersten Liebe, die er als Vierzehnjährige aus den Augen verlor. Als Wally mit höheren Jahren heimliche Mordanschläge auf Doppelgänger von Onkel und weiblichem Onkeltraum verübt, wird die sonst nur als altes Mädchen Belächelte mit einem Schlag erotisch erwachsen und kann sich der Avancen wildfremder Männer kaum erwehren.

Inzwischen verspürt der Lektor Heiner Krapp, von Berufs wegen dem Schönen zugetan, in seiner Liebe zum Kellner Rolf eine "schreckliche Leere". Krapp verlängert einen beruflichen Schweiz-Besuch durch eine Reise zum Mont Blanc, von dem er sich idealistische Rekonvaleszenz verspricht. Doch als auch von dieser zunächst erhabenen Erscheinung nichts als "Granit und zertrampelter Schnee voller Urinspuren" übrig bleiben, da stellt er sich die Frage, ob "die unausbleibliche Enttäuschung und Bitternis angesichts der Dinge", selbst der überwältigenden, nicht "das wichtigste, anspornendste Gefühl sei, und, pourquoi pas, beabsichtigt höheren Orts?"

Nicht zufällig steckt der Roman voller Vanitas-Bilder. "In allem ist der Wurm", denkt sich Wally, und Steuerberaterin Jeckchen kommt im Bahnhofsgewühl zu dem Ergebnis, dass "die Leute ihr Leben als stets zerbrechliches Bauwerk tragen" - eine typische, en passant gemeißelte Kronauer-Allegorie: Nicht die biologische Existenz ist das Leben, sondern das, was man auf ihr errichtet. Immer wieder ist der Roman von Absurdem aus den vermischten Meldungen durchsprengt, die einst einen Heinrich von Kleist und sonst nur Krimiautoren interessieren. Einmal geht es im Radio um eine Schneckenplage; Rita Palka, die sich "im Schneckentempo" über die Autobahn bewegt, lauscht den "bestialischen" Ratschlägen zu ihrer Bekämpfung. Leser mit Garten werden wissen, dass in letzter Zeit tatsächlich eine Nacktschneckenplage ihr Unwesen trieb und dass es sich dabei um Wesen ohne Häuser handelt. Auch Schöffels asphaltierte Welt wird von Autofahrern bevölkert, die in mehr als einem Sinne obdachlos dahinvegetieren.

So leicht gewebt ist Kronauers Poesie, dass sie uns die Querverbindungen überlässt. Allerdings wird in Palkas Radioprogramm ein ominöser Anrufer eingeschaltet, in dem wir Oom Henk erkennen. Er macht eine holländische Mythengestalt namens "Onze Lieve Vrouw" für die Schneckeninvasion verantwortlich und rät kapriziös, in der Jagd nach ihr nie nachzulassen, auch wenn man sie nie fangen wird. Der kleinen Wally hatte er mit eben dieser Legende eine Heidenangst vor der Natur eingejagt und sie damit eifersüchtig auch gegen ihr eigenes Triebleben imprägniert. Doch "Onze Lieve Vrouw" ist schön, und der Weg führt durch das Feuer.

Der Glanz endloser Spiegelungen.

Die einzige in Ich-Form berichtete Romanepisode handelt vom langsamen Tod einer Katze. Die Erzählerin glaubt mit ihr einem Zaunkönig zu lauschen: "wir vergingen langsam", sagt die Empathie und fügt, ganz Auge und Ohr für das Tier im Gras, hinzu: "Vielleicht begriff sie nun, begierdelos, zum erstenmal die Vogellaute als stürmische Musik?" Dieser selige Zustand, der sich erst nach der Jagd einstellt, wird bei Kronauer häufig durch Lichtereignisse evoziert, die an das Schauen der Engel erinnern.

In ihrer Prosa entsteht der Glanz durch ein endloses Spiegelungsgeschehen, das sich unter den zunächst unscheinbaren, aber durch wechselseitige Reibungskraft polierten und geschliffenen Erzählfragmenten aus der Alltagswelt einstellt. Das romantische Projekt der Neuen Mythologie feiert bei Brigitte Kronauer seine Auferstehung, eine Mythologie, die auf antike Vorgaben nicht mehr angewiesen ist, sondern in der banalen Gegenwart einen Stoff von grenzenloser Symbolkraft entdeckt. Ihre poetische Gestalt erhalten die Dinge bei ihr nach dem Prinzip der Tropfsteinhöhle. Wie sich um den ersten Tropfen im Lauf der Zeit die Stalaktiten bilden, werden ihre Motive im Lauf des Erzählens von Analogien und Anspielungen aller Art inkrustiert und überformt. Vertraut und sinnreich wie das Leben werden sie erst durch Variationen und Konstellationen.

"Die Erlebnisse stauen sich in der Erinnerung wie im Gemälde. Die Dinge wollen Glanz und Volumen von Legenden erhalten. Die Gegenwart genügt nie", ruft ein Maler seinen Besuchern zu. Was ihm das Gemälde ist, ist Kronauer die literarische Allegorie. Auf ihrem Schlosszimmer entdeckt Rita Palka eine Replik der "Schwarzen Jäger", die in selbiger Nacht von der eifersüchtigen Gattin ihres Gastgebers zertrümmert wird. Darauf beruhigt sich diese und sammelt im Verein mit Rita die Scherben auf. Auch die Figurengruppen der Sperlonga-Grotte waren von Feinden der Antike kurz und klein geschlagen worden, bis die Nachwelt sie geduldig rekonstruierte. Eine von ihnen stellt die Blendung des Polyphem dar, jenes einäugigen Riesen, der Odysseus samt Gefährten in seiner Höhle gefangen hielt. Wenn die Katze als "wandernde Pupille im weit geöffneten Gartenauge" eingeführt wird, dann blitzt es auf im Auge des Polyphem und auch zwei Scherben des Kronauer-Romans passen plötzlich zusammen: In der Katze überlebt Polyphem, die einst übermächtige und nun verendende Natur. Vom heroischen Geschlecht, das sie mit List besiegte, sind gleichfalls nur noch Scherben übrig, doch Kronauers poetische Gerechtigkeit legt sie so zurecht, dass im grotesken Personal ihres Romans der ursprüngliche Entwurf wieder sichtbar und lebendig wird. "Denn wie könnte man lieben, was nicht einen Moment lang ewig steht?"

Schöffel überkommt mitten im Wald "Sehnsucht nach ,den Wäldern'". In seltenen Momenten hat er "diamantene Lichtungen" gesehen, denn er besitzt die Fähigkeit, "die Wildnisse und Teiche unter der stählernen Zivilisation zu erkennen, wie noch vorhanden, wie noch nicht überwältigt". Schöffels Vision scheint auf das aus Edelsteinen gebaute himmlische Jerusalem der Offenbarung anzuspielen, doch bei Kronauer wird nicht die Stadt, sondern die Natur derart transfiguriert. Denn alles von Menschen Erbaute, "alle großartigen Boulevards, Paläste, Kirchen", stellen, wie Heiner Krapp erkennt, nichts als "Täuschungsmanöver" dar, die im Moment, als er die raubtierhaften Augen seines Liebhabers schaut, "auf Nimmerwiedersehen zerstäubt" sind.

Oom Henk scheint zuzustimmen: "Ach Gott, diese Städte und Länder, von denen ich immer gelesen hatte! Es genügt, unter uns, die Bilder davon im Kopf zu haben." Dass sie das Beste sind, glaubt auch Rita Palka, die "prächtige Reiche der Vorstellung" zu ihren Geschichten führten. Auch sie hat - wie der alte Schöffel - ein zweites Gesicht und kann sich aus den "blitzenden Spiegelstückchen" des grünen Kabinetts das "grüngoldene, zuckende Abendlicht in der schönen Wildnis draußen" zusammensetzen. Man glaubt an dieser Stelle Fontanes "Effi komm!" zu hören. Zeile für Zeile schwingt die Literaturgeschichte mit. In Schöffel verbirgt sich Shakespeares King Lear, in dem Gespann von schwarzen Jägern und Löwen der mit Besuchern fechtende Bär aus Kleists "Marionettentheater", und in der angenagten Schwelle, über die die Ratte huscht, die des Studierzimmers des Doktor Faust.

Wie in einen romantischen Salon lädt Brigitte Kronauer uns in ihr Buch voller skurriler Gestalten, auf diesen späten Maskenball der Poesie. Bei der Erkenntnis der Verkleideten verlangt sie uns viel von jener Leidenschaft und dem Jagdinstinkt ab, der noch in jedem Schnäppchenjäger und Kreuzworträtsellöser schlummert. Und durch die Splitter eines dunklen Spiegels beginnen wir zu sehen, was Heiner Krapp mit dem irischen Geistlichen Sheridan Le Fanu den "Traum eines Schattens von Rauch" nennt: den hinter seinen Palästen und Autobahnen versteckten, schneckenhaft substanzlosen, von seiner höheren Natur verlassenen Menschen, einer Natur, in der sich Bisse auf Küsse reimen. Denn mit all der Großartigkeit, sagt uns der Lektor, war "stets in Wirklichkeit die Liebe gemeint".

Brigitte Kronauer: "Zwei schwarze Jäger". Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 286 S., geb., 21,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2009

Aber im Lichte blüht hoch der silberne Schnee
Verteidigung des Außergewöhnlichen: Brigitte Kronauers neuer Roman „Zwei schwarze Jäger”
In den Grotten lauert das Groteske. Aber auch das Grottenschlechte und das Grottenlangweilige. So will es die Sprache, und gegen die Netze, die sie auslegt, gegen die Falltüren, die sie öffnet, hilft in den Romanen und Erzählungen der Schriftstellerin Brigitte Kronauer seit je gar nichts, auch kein spöttisches „So, so!”, „Ach, ja?” oder „Meinen Sie wirklich?” In der ersten Geschichte ihres neuen, aus vielerlei Geschichten zu einer windungsreichen Girlande verknüpften Romans „Zwei schwarze Jäger” entfährt das Groteske wie ein Geist, der in seiner Flasche auf diesen Moment gelauert hat, einer weit geöffneten Mundhöhle.
Denn kaum hat die Schriftstellerin Rita Palka im zweiten Teil ihrer Lesung im grünen Kabinett des Schlosses in W., einem Städtchen in einer deutschen Mittelgebirgslandschaft, mit einiger Anstrengung den Titel „Die Grotte” beschwörend in das ermattende Publikum gerufen, öffnet im Gesicht der vor ihr sitzenden Gattin des Veranstalters ein Gähnen so unwiderstehlich deren in seiner Dehnungsfähigkeit unbegrenzt erscheinenden Mund, dass er höhnisch, wie ein stummes Echo, den Titel nachäfft und selber zur Grotte wird, in dem die angekündigte Erzählung verschwindet.
Denn die Schriftstellerin, ebensosehr herausgefordert wie konsterniert, improvisiert nun eine geradezu hemmungslos fabulierende Grottengeschichte, in der die Höhle des Riesen Polyphem aus der Odyssee, der Kaiser Tiberius in Sperlonga bei Neapel, ein klassischer Archäologe und eine Kindheitserinnerung der Autorin in halsbrecherischer Verknüpfung dem Dämon der Langeweile entgegenarbeiten, den Rita Palka immer dann vor Augen hat, wenn ihr Blick „in die gleichmütig gähnende Mundhöhle der Schloßfrau” fällt.
Ein sehr leichthändiges Cappriccio ist dieser Beginn, in dem das Beschwerdehafte und Mahnende, das die satirische Schilderung einer missglückten Dichterlesung leicht annehmen kann, sogleich verfliegt. Der Roman, der aus dieser launigen Grottengeschichte hervorgeht, ist ein gelungenes Plädoyer für den Überschwang und Überfluss, das Ornament und den Witz in der Kunst, und für ein durchtriebenes, doppelbödiges Erzählen, das sich seiner Lust am Artifiziellen nicht schämt.
Aber der scherzhaft-quecksilbrige Ton umhüllt in diesem Buch durchaus nicht scherzhafte Stoffe: das Älterwerden einer ehemaligen Schönheit, die von einer Krankheit in den Rollstuhl gezwungen wird; die balladenhafte Geschichte einer von innerem Zang getriebenen Mörderin, die zur Selbstmörderin wird; das Ausrangiertwerden einer Maitresse (in einem mit dunkel leuchtenden Farben gemalten und scharfen Strichen gezeichneten Porträt einer der Geliebten Augusts des Starken, Aurora Gräfin von Königsmarck); das hoffnungsfrohe Sich-Verkaufen einer Supermarkt-Kassiererin; den Ausstieg eines Polizisten aus seinem Amt, der die Indifferenz seiner Kollegen gegenüber dem Verbrennungstod eines Asylbewerbers in der Untersuchungshaft nicht ertragen kann; die Unruhe und Nervosität im Innern der an ihre Kinderwägen geklammerten Mütter einer glücklichen „stillen Straße”.
Es gibt kunstnahe Figuren im Personal, das in diesem Buch dem unruhigen Kopf der Schriftstellerin Rita Palka entspringt, etwa sie selbst, einen Verlagslektor und einen erfolgreichen Maler, der in Schüttelreimen brilliert und die losgelassene Sprachlust in die Regionen des Kalauers treibt: „Hörst Du die Sommerbäume rauschen? / Man fühlt, wie sich die Räume bauschen. // Drum wehe – wenn man diese fällt, / sich unsre Welt ins Fiese dellt!” Aber um den Maler rivalisieren eine Steuerberaterin und eine Zahnärztin, und die bürgerliche Welt, in der sie sich bewegen, ist überaus prosaisch – wären da nicht, wie gesagt, die Höhlen und Grotten, aus denen Sprache und Einbildungskraft nicht nur dann, wenn jemand in der Nacht wachliegt und voller Dunkelangst eine Ratte im Raum zu hören meint, alte Ungeheuer und immer junge Wünsche und Leidenschaften hervorgehen lassen.
Ganz zu Beginn, noch vor der improvisierten Grottengeschichte, hat Rita Palka im Schloss zu W., das in Interieur und Chiffrierung an Feengeschichten aus dem Rokoko erinnert, ihre publizierte Erzählung „Zwei schwarze Jäger” zum besten gegeben. Wie es sich für ein an der romantischen Erzählkunst inspirierte Autorin gehört, trifft sie im Schloss, in dem sie liest, auf Kopien der originalen zwei schwarzen Jäger aus der Villa Borghese in Rom, dieser halbnackten Figuren mit goldenen Riemen quer über der Brust, die nicht etwa nur zwei Löwen an Ketten führen, sondern ihrerseits an die Löwen gekettet sind.
Aber nicht die Spiegelung von Original und Kopie ist hier das Entscheidende, sondern die Deutung des einzig wahren, einzig treuherzigen und aufmerksamen Zuhörers der Lesung, des Gatten der Dame mit der Grotte der Langeweile im Gesicht. Er zieht nach der Lesung ein Foto von sich und seiner Frau in jungen Jahren der Verliebtheit hervor und kommentiert: „Wir sprechen von der Utopie, von den Lebensvisionen, die uns voranziehen , an die wir, wie Sie so unvergeßlich schreiben, angeschmiedet sind wie die Jäger an die Löwen. Hier, auf diesem Bild, trotz aller enttäuschenden Gegenwart, sehen Sie, was ich meine. Bitte, sehen Sie doch nur!”
Dieser Herr Schüssel mit seinem Foto, den nur ein Umlaut vom Schussel trennt, ist unzweifelhaft Teil der Groteske. Aber seiner Treuherzigkeit wird in dem Roman, zu dessen Portalfiguren er gehört, nicht der Prozess gemacht. Ganz im Gegenteil. Er ist, wie alle Figuren, durch seine Träume und Sehnsüchte sowie durch sein Talent zum Unglück gerechtfertigt, und wenn einmal jemand sagt, vielleicht sei die Sehnsucht nach der Kindheit nichts anderes als der Wunsch, noch einmal die Wucht und Einmaligkeit aller Dinge zu erleben, so plaudert er eines der offenbaren Geheimnisse in diesem durch und durch romantischen Buch aus.
Romantisch ist es nicht nur, weil sein Grundgesetz die Verteidigung des Außergewöhnlichen ist. Romantisch ist es auch deshalb, weil es vom Argwohn durchsetzt ist, es verberge sich womöglich nur ein Klischee oder Zitat in jeder Erfahrung, die mit großer Geste ihre Außergewöhnlichkeit behauptet. Natürlich ist der Verlagslektor, der von Berufs wegen viel liest, einem solchen Argwohn in besonderer Weise ausgesetzt. Aber gerade er ist, der in einer der sprachmächtigsten und schönsten Passagen des Romans, während einer Wanderung mit Blick auf das Mont Blanc-Massiv und sein Eismeer, erfährt, dass alle Postkarten, aller Massentourismus und alle Banalisierung dem Fels- und Gletscherwall seine Erhabenheit und sein Gleißen nicht haben nehmen können.
Der Lektor, Operngänger und Bergwanderer, verkörpert das „Verlangen nach Musik und Gebirge”, das 2004 einem Roman von Brigitte Kronauer den Titel gegeben hatte. Der Titel war ein Nietzsche-Zitat und ernst gemeint. Nun zitiert der Lektor Hölderlin, und wieder ist es ernst gemeint: „ , . . . aber im Lichte / Blüht hoch der silberne Schnee‘, murmelte er vor sich hin. Hölderlin hatte das gut getroffen.”
Die Stimmung dieses Lektors während seiner Wanderung ist aus Geistesgegenwärtigkeit und Aufmerksamkeit für das Schöne gemischt. Zur Prosa dieses Romans passt diese Stimmung ebensogut wie zur Bergwanderung. Denn geistesgegenwärtig sollte der Leser sein, will er die Abzweigungen der einzelnen Episoden nicht verpassen und sich in der durcheinandergewürfelten Chronologie der Ereignisse nicht verlieren. Er wird dafür mit der Verwandlung der Gegenwart in eine Welt belohnt, in der die guten wie die bösen Feen noch nicht ausgestorben sind und aus alten Sagen ein rätselhafter Holländer beunruhigend herübergrüßt. LOTHAR MÜLLER
BRIGITTE KRONAUER: Zwei schwarze Jäger. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 286 Seiten, 21,90 Euro.
Hörst Du die Sommerbäume rauschen? Man fühlt, wie sich die Räume bauschen . . .
. . . Drum wehe – wenn man diese fällt, sich unsre Welt ins Fiese dellt!
Am Mont Blanc: „Was für ein Gleißen auf den Graten, an der Wallmauer des Massivs!” Foto: Picture Press, F. Tomasinelli
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