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"Wie Stifter gelingt es Kappacher, seine Leser in ein eigenes Zeitmaß zu versetzen, sie mit meditativer Langsamkeit zu beglücken." Gustav Seibt in Süddeutsche Zeitung
Stefan, Lehrer, nimmt das Angebot Heinrich Seifferts - den er im Jahr zuvor in Arezzo kennen gelernt hat - an, sein altes abgelegenes Bauernhaus in der Toskana zu bewohnen. Der Leser erlebt, wie Stefan sich das Haus und die Umgebung bewohnbar macht, wie er bekannt wird mit den Menschen im Dorf, wie er Heinrich besucht, der seine Nichte Selina aus Deutschland erwartet. Es sind die Jean-Paul'schen Themen Liebe, Tod und…mehr

Produktbeschreibung
"Wie Stifter gelingt es Kappacher, seine Leser in ein eigenes Zeitmaß zu versetzen, sie mit meditativer Langsamkeit zu beglücken." Gustav Seibt in Süddeutsche Zeitung

Stefan, Lehrer, nimmt das Angebot Heinrich Seifferts - den er im Jahr zuvor in Arezzo kennen gelernt hat - an, sein altes abgelegenes Bauernhaus in der Toskana zu bewohnen. Der Leser erlebt, wie Stefan sich das Haus und die Umgebung bewohnbar macht, wie er bekannt wird mit den Menschen im Dorf, wie er Heinrich besucht, der seine Nichte Selina aus Deutschland erwartet. Es sind die Jean-Paul'schen Themen Liebe, Tod und Unsterblichkeit, die sich langsam entwickeln.

"Hinreißend in seiner leisen Musikalität und stifterischen Aufmerksamkeit für das Kleine, das das Große spiegelt. " Tilman Krause in Die Welt Georg-Büchner-Preis 2009 für Walter Kappacher

Autorenporträt
Kappacher, Walter
Walter Kappacher, geboren 1938 in Salzburg. Seit 1978 freier Schriftsteller. Lebt in Obertrum bei Salzburg. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Hermann-Lenz-Preis 2004, Großer Kunstpreis des Landes Salzburg 2006; Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt erschienen: 'Selina oder das andere Leben' (2005) und 'Hellseher sind oft Schwarzseher' (2007) und 'Der Fliegenpalast' (2009). Walter Kappacher erhält 2009 den Georg-Büchner-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2009

In den Sommer mit Büchern von zu Hause

Sie wollen Buchtipps für die Ferien? Die Gegend, in der Sie leben, hält sie für Sie bereit. An Rhein und Main wohnen Schriftsteller, deren Bücher zum Urlaub passen, hier sind aber auch Literaturpreise zu haben, die Jahr für Jahr bedeutende Autoren nach Darmstadt oder Frankfurt locken. Sie alle haben uns in diesem Sommer das eine oder andere zu sagen.

Von Florian Balke

F. C. Delius:

Die Frau, für die ich den Computer erfand

In seinem neuen Roman, den Friedrich Christian Delius während seiner Zeit als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim beendet hat, geht es um hohe und gewichtige Dinge: um die Erfindung des Computers und eine große Liebe. Aber Delius wäre nicht er selbst, wenn das Hohe nicht ausgesprochen geerdet daherkäme. Eine ganze Nacht lang erzählt ein alter Mann, dessen Lebenslauf dem des deutschen Ingenieurs Konrad Zuse folgt, einem Journalisten von seiner Rolle bei der Erfindung des Computers. Und von seiner tiefen Zuneigung zu Lord Byrons Tochter Ada Lovelace, die sich schon im 19. Jahrhundert mit dem Bau einer Rechenmaschine herumschlug. Herausgekommen ist ein wundervoller Monolog, der den Leser voller Tempo durch Geschichte und Technik führt und dabei einige kluge Bemerkungen zur Logik, zum Erfinden und zur Kunst zu machen hat. Zu kaufen gibt es das Buch erst nach dem 17. Juli, aber Fans aus dem Rhein-Main-Gebiet haben Glück. Am Tag, an dem der Roman herauskommt, stellt Delius ihn in Frankfurt vor - am 17. Juli um 20 Uhr in der Berger Nikolauskapelle, Marktstraße 56.

Friedrich Christian Delius, "Die Frau, für die ich den Computer erfand", Rowohlt Berlin, Hamburg 2009, 288 S., geb., 19,90 Euro.

Eva Demski:

Gartengeschichten

Als Sommerlektüre braucht dieses Buch über Freud und Leid des Gärtnerns keine besondere Fürsprache mehr. Leser, die die Geschichten, die neben der Kultivierung von Pflanzen auch von der Hege und Pflege des Lebens handeln, noch nicht gekauft, weiterempfohlen oder verschenkt haben, dürfen sich freuen, weil man sie auf den Erfolgstitel der Frankfurter Schriftstellerin noch hinweisen kann. Ein Buch aus kleinen Leseportionen, das die meisten in einem Rutsch lesen.

Eva Demski, "Gartengeschichten", Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009, 234 S., geb., 19,80 Euro.

Claudio Magris:

Ein Nilpferd in Lund

Ja, es wirkt alles ein wenig abgestanden, was der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels in diesem Band an Reisebeobachtungen versammelt. Viele der Texte stammen aus den späten achtziger und frühen neunziger Jahren, als Europa den Kalten Krieg abschüttelte und Claudio Magris ihm seine habsburgische Mitte und das wieder in den Blick des Westens rückende Osteuropa erklärte. Dafür, dass seitdem andere Weltgegenden wichtiger geworden sind, kann allerdings Osteuropa nichts, und viel von dem, was Magris dort gesehen und gedacht hat, ist noch immer gültig. So wie die Formulierung, zwischen den mechanischen Musikinstrumenten des Grafen Gerersdorfer in Zagreb begreife man, wie unsinnig es sei, "in der Technik das Ende der Poesie zu sehen". Daran sollten Sie am Strand denken, wenn das Radio aus der Sandburg nebenan zu Ihnen herüberplärrt. Und von einer Iran-Reise des Jahres 2004 bringt Magris ein Zitat mit, das die Lage vor und nach der gefälschten Präsidentenwahl dieses Jahres bündig zusammenfasst: "Du kannst tun, was du willst, aber sie können mit dir machen, was sie wollen." Insofern kann man sich mit der Tatsache, dass Magris im Oktober in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis erhält, fast schon wieder aussöhnen.

Claudio Magris, "Ein Nilpferd in Lund - Reisebilder", Carl Hanser Verlag, München 2009, 224 S., geb., 17,80 Euro.

Walter Kappacher:

Selina oder das andere Leben

Hand aufs Herz: Als die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt mitteilte, den diesjährigen Büchner-Preis erhalte Walter Kappacher, was haben Sie da getan? Einen Sekt aufgemacht, weil er ihn endlich bekommen hat, oder Ihrer Umgebung verschwiegen, dass Sie nicht wussten, wer Kappacher war? Eben. So wie Ihnen ging es vielen, aber bis Herbst ist genügend Zeit, Ihre Unwissenheit zu korrigieren. Zum Beispiel mit der Lektüre von "Selina oder das andere Leben". Nach diesem Roman werden Sie mit dem Büchner-Preisträger dieses Herbstes völlig einverstanden sein. Obwohl er seine Leser an der Nase herumführt: "Selina" tut so, als sei das andere Leben des Titels nur das gute Leben, das Stefan, ein österreichischer Lehrer, zwei Sommer lang in der Renovierung eines verfallenen Bauernhauses in der Toskana erhaschen will. Dabei geht es, während der Leser noch in dieser Illusion befangen ist, schon lange um viel mehr - um den Tod und die Vergänglichkeit, das aber so ruhevoll, gelassen und klar, dass der Roman trotz dieser Wendung in vielerlei Hinsicht der perfekte Ferienroman ist.

Walter Kappacher, "Selina oder das andere Leben", Deuticke, München 2005, 254 S., geb., 19,90 Euro.

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten

Wenn Sie diesen Genazino mit in den ersehnten Urlaub nehmen, wissen Sie, dass das Buch auf Ihrer Seite ist: "Ausgepumpte, fast reglos in ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön", heißt es gleich in den ersten Zeilen. Geben Sie sich dieser Schönheit hin - in den Strandkörben an der Ostsee oder den Liegestühlen von Sossenheim. Sie tun auf diese Weise etwas für Ihren Smalltalk nach der Rückkehr aus den Ferien. Schließlich kann es gut sein, dass Ihnen das Buch im August auf der Longlist oder im September auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises wiederbegegnet. Wenn der Preis zum Auftakt der Buchmesse im Frankfurter Römer vergeben wird, wissen Sie, wovon die Rede ist. Außerdem bilden Sie durch die Lektüre dieses Romans Ihr Herz. Die Geschichte von Gerhard, den die Lebensforderungen seiner Freundin Traudel aus der Bahn werfen, zeigt Ihnen nichts weniger als den Menschen, lächerlich und groß zugleich. Zum Schluss des ganzen Unglücks stolpern Sie über Gerhards Gedanken, "Fremdkompliziertheit" habe ihn dorthin gebracht, wo er sich jetzt befindet. Dann wissen Sie: Der Roman hat kein Happy End, macht aber trotzdem glücklich.

Wilhelm Genazino, "Das Glück in glücksfernen Zeiten", Carl Hanser Verlag, München 2009, 160 S., geb., 17,90 Euro.

Ulrich Peltzer:

Vom Verschwinden der Illusionen - und den wiedergefundenen Dingen

Ende August löst Ulrich Peltzer seinen Vorgänger F. C. Delius als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim ab. Im Festzelt auf dem Berger Marktplatz werden er und sein Laudator Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" Reden halten, auf die man gespannt sein darf. Wenn Sie sich bis dahin auf Peltzer einstimmen wollen, lesen Sie die Rede, die er im vergangenen Jahr vor Abiturienten der saarländischen Stadt Merzig hielt - eine Reihe mit Tradition, auch Wilhelm Genazino hat dort schon gesprochen. Peltzers Rede enthält viel Biographisches und viel von dem, was ihn beim Verfassen seiner Romane interessiert. Ein Zitat: "Wer seine Neugierde verliert, der steht schon vor der Zeit mit einem Fuß im Grab, und das ist nicht der Sinn der Sache - sollte sie denn einen haben."

Ulrich Peltzer, "Vom Verschwinden der Illusionen - und den wiedergefundenen Dingen: Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2008", herausgegeben von Ralph Schock, Gollenstein Verlag, Merzig 2008, 55 Seiten, brosch., 9 Euro.

Ursula Krechel:

Shanghai fern von wo

Für dieses Buch hat Ursula Krechel in den vergangenen Monaten gleich drei Preise bekommen - erst den Rheingau-Literatur-Preis, dann den mit 50 000 Euro dotierten Joseph-Breitbach-Preis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und zum Schluss den Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz. Die etwas entmutigende Panzerung mit Auszeichnungen sollte die Leser allerdings eher dazu bringen, auch weiterhin zu diesem Roman zu greifen, der die Geschichte der deutschen Juden schildert, denen kurz vor dem Krieg die Flucht nach Shanghai gelang. Und was der Apfelstrudel mit der Frühlingsrolle zu tun hat, erfährt man auch.

Ursula Krechel, "Shanghai fern von wo", Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2008, 500 S., geb., 29,90 Euro.

Reinhard Jirgl:

Die Stille

Zum Schluss ein weiteres Buch, das sein Verfasser während seiner Stadtschreiberzeit in Bergen-Enkheim beendet hat. Jirgls "Stille" ist unter den hier empfohlenen Titeln das Buch mit den meisten Seiten, dem größten Anteil an deutscher Geschichte und der auf den ersten Blick am schwierigsten zu lesenden Sprache - lauter dem Autor liebe Eigenheiten in der Schreibung der Wörter sehen aus, als seien sie absichtlich aufgestellte Verständnisfallen. Das sind sie nicht, alles macht Sinn - verwiesen sei nur auf die wunderbar erfundenen "wirrtuellen Welten". Nebenbei ist "Die Stille", ein Roman über zwei Familien zwischen Kaiserreich und Nachwendezeit, auch ein großer Roman über Deutschland im 20. Jahrhundert.

Reinhard Jirgl, "Die Stille", Carl Hanser Verlag, München 2009, 533 S., geb., 24,90 Euro.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.01.2006

Das Buch von der Sterblichkeit
Die Dinge, die Einsamkeit und der Tod: Walter Kappachers taktvoll zurückhaltender Toskana-Roman „Selina”
Walter Kappacher hat für seinen wundervollen Roman „Selina” zwei Schutzengel angerufen, die mit je einem Motto wie Wächter vor dem Buch stehen und dem Leser seinen Weg in den Text weisen: Jean Paul und Adalbert Stifter. Wir schreiten aber erst einmal an den beiden Kustoden vorüber, grüßen nur stumm und berichten, worum es geht.
Es ist eine Geschichte aus dem österreichisch-italienischen Alltag der achtziger Jahre - die historische Umwelt ist fein, aber unmissverständlich markiert: Es gibt die Lira noch, und die Welt redet über die Waldheim-Affäre. Ein noch junger Lehrer aus dem Salzburger Land nimmt sich eine Auszeit und verbringt ein Vierteljahr auf einem verfallenden Bauernhof im toskanischen Pratomagno-Gebirge, historisch die Grenzscheide zwischen den Stadtrepubliken Florenz, Arezzo und San Sepolcro, geographisch die Wasserscheide zwischen Arno und Tiber, kulturgeschichtlich das Land Petrarcas und Piero della Francescas.
All das spielt hinein, aber was wir zunächst sehen, ist der Alltag dieses Mannes mit Namen Stefan, der die kaputte alte Kate, die ihm ihr deutscher Besitzer zur Benutzung überlassen hat, renoviert, wieder bewohnbar macht und die darumherum wuchernde Wildnis zurückschneidet. Bei diesem bodenständigen Tun kommt er in allerlei Kontakt mit den Bewohnern des nahen Dorfes - wer die Ortsnamen auf einer Landkarte sucht, findet alles -, er kommt herum im Land bis nach Arezzo, und so entsteht ein vollkommen nüchternes, vollkommen heutiges Bild italienischer Zivilisationsumwelt: Diese ist ja vielfach gar nicht „schön” in einem harmonischen Sinn, sondern zerrissen zwischen hässlichen Industrie- oder Gewerbegebieten in den städtischen Peripherien und tiefer, archaischer Verlassenheit schon wenige Kilometer weiter, wegab hinter irgendeinem Hügel.
Der Deutsche, Heinrich mit Namen, ist todkrank, er lebt in Erwartung seines Endes vor allem mit Büchern, antiker Lebensphilosophie, humanistischer Dichtung, Jean Paul. Stefan hat nur sporadischen Kontakt mit ihm, doch am Ende, als Heinrich stirbt, lässt er sich von dessen Tochter Selina so beeindrucken, dass die Möglichkeit einer großen Liebe aufscheint - während Stefans bisherige Beziehungen, eine Partnerschaft daheim und ein kurzes, hitziges Abenteuer mit einer Dorfnachbarin, verblassen. Aber die Attraktion durch Selina bleibt wohl ebenso unerfüllt wie die vielen weltliterarischen Bücher ungelesen bleiben, in die Stefan immer wieder hineinblättert: als schöne Möglichkeiten. Dass Stefan unter seinen praktischen Beschäftigungen nicht dazu kommt, die Arbeit an einem Drehbuch voranzutreiben, die er sich für seinen Landaufenthalt vorgenommen hat, ist nur folgerichtig in einer Erzählung, die das Gegenständliche überaus deutlich zeigt, Gefühle und Gedanken aber wie zarte Schleier darumlegt.
Kappacher entwickelt seine undramatische Geschichte ganz aus dieser Gegenständlichkeit, und hier kommt der erste seiner beiden Schutzengel ins Spiel, Adalbert Stifter. Wenn der Erzähler eine Hausbank beschreibt, „die aus nichts bestand als einem dicken Brett an der Hausmauer, gehalten von zwei großen Felsbrocken. Das glattgesessene Brett sah aus, als seien darauf bereits vor hundert Jahren die Vorfahren der Marinis gesessen”, dann mag man sogar an einen direkten Bezug denken: an jenen abgewetzten Stein aus Stifters Novelle „Granit”, der dort zum Ausgangspunkt erinnernden Erzählens wird.
Wichtiger ist, dass Kappacher die feststellende, karge Manier des späten Stifter, dessen musivische Langsamkeit, die Einwickelung des Geschehens und des zeitlichen Fortgangs in statisches Benennen übernommen hat. Ganze Seiten bestehen aus Protokollsätzen: „Er trug den Klappstuhl die Treppe hinunter, suchte eine Stelle beim Tisch, wo er nicht wackelte. Der Platz vor dem Haus, der Schau-Platz. Vor ihm die gemähte Wiese mit dem Olivenhain; dahinter das abfallende Terrain; an einer Stelle führten unebene Stufen aus gewachsenem Fels hinunter zu einem weiten Feld, wo früher einmal Getreide angebaut worden war.”
Das ist nicht „poetisch”, doch Seite um Seite baut sich ein Bild von bukolischer Nüchternheit, von einem heutigen Italien auf, das zuweilen sogar einen vergilischen Zug bekommt, nämlich an den Vergil des Lehrgedichts zur Landwirtschaftskunst erinnert. Immer dichter wird die Landkarte des Buches, und seine Menschen - erst kaum mehr als Namen - bekommen immer mehr Konturen und Geschichten. Die soziale und psychologische Genauigkeit, mit der Kappacher sein Provinzitalien schildert, bedeutet, im Vorübergehen sei es gesagt, auch eine stille Revolution in der Geschichte der deutschen Italienliteratur. Und wie Stifter gelingt es Kappacher, seine Leser in ein eigenes Zeitmaß zu versetzen, sie mit meditativer Langsamkeit zu beglücken, mit einem Sprachrhythmus, der auf äußerliche Klangfülle verzichten kann, weil das Gesetz dieses Stils Durchsichtigkeit ist, ja etwas auch Moralisches: Reinheit.
Selina, die Tochter des gastfreien Heinrich, trägt den Namen einer Jean-Paul-Figur. Der unvollendete Konversationsroman „Selina” war das letzte Werk dieses Dichters, eine metaphysische Spekulation über Unsterblichkeit oder „Vernichtglauben”, dargestellt als Austausch von Briefen und Abhandlungen zwischen zarten Seelen, die in einer Landschaft von heroischer Schönheit leben. Auch über Kappachers toskanischer Landschaft, der - trotz schöner Fernblicke und vieler meteorologischer Wandlungen - die Jean-Paulsche wetterhafte Dramatik durchaus fehlt , wölbt sich ein metaphysischer Himmel.
Jean Pauls inständiges Bestehen auf der Unsterblichkeit der Seele ist nur die Rückseite eines leichengrauen Nihilismus, einer kosmischen Todespanik, die vielleicht seine eigentümlichste dichterische Farbe darstellt. Kappachers Kunstleistung besteht darin, wie er diese Angst hinter die idyllische Gegenständlichkeit seiner Erzählung gelegt hat, ganz unaufdringlich, ohne Tamtam, aber mit ruhigem Nachdruck. Sein Stefan ist meist allein, allein mit sich, den Dingen, Steinen, Pflanzen, Geschirr, allein noch unter seinen neuen Nachbarn und ihrer fremden Sprache, die er erst erlernt.
Und er ist allein unter einem unermesslichen sommerlichen Sternenhimmel, den er mit unvermitteltem Schrecken anstarrt: „ . . . und plötzlich die Vorstellung des Nicht-mehr-Seins, der absoluten Vernichtung seiner selbst, der winzigen Zeitspanne eines Lebens und dann ewig schwarze Nacht”. Stefan wird nach diesem Moment des Schreckens erlöst durch einen nahen Lichtpunkt, das Scheinwerferlicht eines unhörbaren Autos, „immer wieder unsichtbar, wenn ein Wäldchen oder eine Wegbiegung den Wagen verdeckte”. Nur in so etwas besteht das bisschen Heimat, das überhaupt möglich ist.
Aus Alleinsein und Dingnähe, Fremdheit und Eingewöhnung entwickelt Kappacher sein Thema - ganz minimalistisch: Während wir von Holztischen, Wasserkanistern und Olivenbäumen lesen, schleicht sich das Gefühl ein für die Unwahrscheinlichkeit, dass überhaupt etwas existiert. Die Spannung des Textes bleibt erhalten, weil er seine metaphysischen Motive mit bewundernswertem Takt meist unter der Oberfläche hält.
Es geht ihnen dabei wie dem Autor Walter Kappacher. In ein paar Jahren wird er, der verborgen im Umland von Salzburg lebt, siebzig Jahre alt. Seit fast vierzig Jahren erscheint immer wieder ein Buch von ihm, und immer wieder erweckt er damit Bewunderung und Anerkennung - er wurde mit Preisen geehrt, Peter Handke hat ihn mit Nachdruck gerühmt, die Deutsche Akademie in Darmstadt hat ihn zu ihrem Mitglied gemacht. Aber an Walter Kappachers bislang nur hintergründiger Präsenz hat das wenig geändert. Er ist, so scheint es, zu taktvoll, um uns mit dem Ruhm zu behelligen, der ihm zusteht. GUSTAV SEIBT
WALTER KAPPACHER: Selina oder Das andere Leben. Roman. Deuticke Verlag, Wien 2005. 255 Seiten, 19,90 Euro.
Über jeder Landschaft wölbt sich ein metaphysischer Himmel: San Quirico, Toskana.
Foto: Arco/ K. Irlmeier
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Geradezu ins Schwärmen gerät Rezensent Gustav Seibt über Walter Kappachers Toskana-Roman "Selina oder Das andere Leben". Die im österreichisch-italienischen Alltag der achtziger Jahre angesiedelte Geschichte über einen jungen Lehrer aus dem Salzburger Land, der sich eine Auszeit nimmt und einen verfallenden Bauernhof im toskanischen Pratomagno-Gebirge renoviert, hält Seibt zwar für ganz "undramatisch". Dennoch findet er den Roman überaus faszinierend. Er vergleicht Kappachers Stil mit dem des späten Adalbert Stifter. Von diesem habe Kappacher die "feststellende, karge Manier", die "musivische Langsamkeit", die "Einwickelung des Geschehens und des zeitlichen Fortgangs in statisches Benennen" übernommen. Wie Stifter gelinge es Kappacher, "seine Leser in ein eigenes Zeitmaß zu versetzen, sie mit meditativer Langsamkeit zu beglücken, mit einem Sprachrhythmus, der auf äußerliche Klangfülle verzichten kann, weil das Gesetz dieses Stils Durchsichtigkeit ist, ja etwas auch Moralisches: Reinheit." Noch eine zweite literarische Größe kommt Seibt bei der Lektüre in den Sinn: An Jean Paul erinnert ihn das sich bei der Lektüre einschleichende Gefühl für die Unwahrscheinlichkeit, dass überhaupt etwas existiert. Als bewundernswert lobt er dabei den Takt, mit dem Kappacher seine metaphysischen Motive unter der Oberfläche hält. Sein Fazit: ein "wundervoller Roman".

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Walter Kappachers Roman 'Selina oder das andere Leben' ist ein auf schöne Art ehrliches Buch, weil es mit dem silbernen Blinken der Sterne nicht astronomisch wuchert. Mit 'Selina' ist ihm das Kunststück gelungen, das einfach erscheinende Leben als großes kosmisches Kippbild zu zeichnen."
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 18.10.2005

"Die Stärke von Kappachers Büchern liegt in der Sparsamkeit der erzählerischen Mittel. Die Zustände und Befindlichkeiten werden nicht reflexiv aufgefächert, sie werden in den knapp beschriebenen Szenen sichtbar."
Evelyne Polt-Heinzl, Die Presse, 1.10.2005

"...ein zutiefst menschenfreundliches Buch und zugleich ein metaphysisches Lehrstück... ein kluges Buch, das an keiner Stelle mit seiner Klugheit prunkt."
Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 04.11.2005