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Zwischen Sandkasten und Carrerabahn
Eine tief berührende Chronik deutschen Familienalltags in der alten Bundesrepublik. Ein literarisches Fotoalbum, schöner als jede Zeitreise.
Klementine, Tritop, "Nichts geht über Bärenmarke". Karneval, Ostereiersuchen, Ferien bei den Großeltern. Augsburger Puppenkiste, 'Daktari', "Man ruft nur Flipper, Flipper ...": Ein Kind erzählt aus seinem Leben, vom Kindergarten bis zur Pubertät, von den ersten Liebesperlen im Hinterhof bis zum Wunschtraum, der neue Eddy Merckx, Mark Spitz oder Gerd Müller zu werden oder am besten alles auf einmal.
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Produktbeschreibung
Zwischen Sandkasten und Carrerabahn

Eine tief berührende Chronik deutschen Familienalltags in der alten Bundesrepublik. Ein literarisches Fotoalbum, schöner als jede Zeitreise.

Klementine, Tritop, "Nichts geht über Bärenmarke". Karneval, Ostereiersuchen, Ferien bei den Großeltern. Augsburger Puppenkiste, 'Daktari', "Man ruft nur Flipper, Flipper ...": Ein Kind erzählt aus seinem Leben, vom Kindergarten bis zur Pubertät, von den ersten Liebesperlen im Hinterhof bis zum Wunschtraum, der neue Eddy Merckx, Mark Spitz oder Gerd Müller zu werden oder am besten alles auf einmal.

Ein richtiger Rabauke ist er, der kleine Martin Schlosser, der da in den 60er und frühen 70er Jahren als zweitjüngster von vier Geschwistern in einer ganz normalen Mittelstandsfamilie heranwächst. Während in Bonn erst Erhardt und Kiesinger und danach Willy Brandt regieren, Benno Ohnesorg stirbt und die Kaufhäuser brennen, prügelt er sich auf dem Spielplatz, klebt Pril-Blumen an Küchenschränke, bekommt eine Sechs in Biologie oder ärgert sich über die von den Eltern zusammengeklebten Seiten des 'Stern', weil die Bilder von Vietnam zu grausam sind.

Zehn Jahre eines ganz normalen bundesrepublikanischen Kinderlebens: ein gewitztes Kindheits-Puzzle, das man mehr fühlt als liest. Schließlich war es doch erst gestern, dass wir 'Bonanza' im Vorabendprogramm gesehen haben.
Autorenporträt
Gerhard Henschel, geboren 1962, war unter anderem Redakteur der Titanic und lebt heute als freier Schriftsteller bei Berlin. Er veröffentlichte Romane und Sachbücher, darunter 'Der dreizehnte Beatle' (2005, dtv 13977), 'Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski' (2009) und 'Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes (2010). Vom Leben der Familie Schlosser hat Gerhard Henschel bereits im Briefroman 'Die Liebenden' (2002) und im 'Kindheitsroman' (2004, dtv 13444) erzählt. Die jüngste Fortsetzung der Serie ist der 'Liebesroman' (2010).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2004

Wir werden sehen, was wir davon haben
Unsere Welt im Maßstab 1:1, so größenwahnsinnig, so bescheiden: Gerhard Henschels „Kindheitsroman”
Die Satire ist etwas Solides. Als Satiriker kann man sich im Kreise anderer Jungs auf der sicheren, nämlich coolen Seite fühlen. Die zarte Literatur ist Mädchenkram. Gerhard Henschel kannte man bisher als Satiriker. Die Sammelbände seiner Werke trugen Titel wie „Moselfahrten der Seele” oder „Wo ist die Urne von Roy Black?”. Das waren Bücher, für die man auf dem Schulhof nicht ausgelacht werden würde. Als Koautor arbeitete Henschel mit einem Wüterich wie Wiglaf Droste, mit Stilisten wie Brigitte Kronauer und Eckhart Henscheid.
Im vergangenen Jahr erschien „Die Liebenden”, ein 750-Seiten-Wälzer, mit dem es Henschel auf interessante Weise gelungen ist, literarisch hervorzutreten, ohne sichtbar zu werden. Der Autor dokumentiert die Korrespondenz einer deutschen Familie zwischen 1940 und 1993, vermutlich seiner eigenen, vermutlich kaum redigiert. Der glorreiche Wiederaufbau der Bundesrepublik erscheint hier als Geschichte einer Überforderung. Der an Kempowski geschulte Roman ist die Schreckenschronik einer jungen Liebe, die in und an der deutschen Nachkriegsordnung bitter und verbiestert, aber anhaltend leistungsbereit verreckt. Er wurde dem Publikum als unkommentierte Materialiensammlung zur Interpretation übergeben.
Mit dem „Kindheitsroman” legt Henschel jetzt einen weiteren Band seiner Chronik der Familie Schlosser vor, einer protestantischen Beamtenfamilie in der bundesrepublikanischen Provinz, wieder im Ziegelsteinformat. Der Autor wird sichtbarer. Er versetzt sich in den Kopf des Kindes Martin Schlosser und erzählt in einem fiktiven Tagebuch zehn Jahre eines Kinderlebens, von 1964 bis 1975. Er selbst ist dieses Kind. Familienfotos des Autors schmücken die Vorsatzseiten. Der Erlebte wird nicht dramatisiert, es wird angehäuft und dem Publikum wiederum als unkommentierte Materialiensammlung zur Interpretation übergeben.
Das Leben des Eichhörnchens
Der Roman ist ein Erlebnisprotokoll in kleinen, anekdotenhaften Miniaturen, die kindliche Wahrnehmung nachahmen und mit ihren Grenzen spielen. Oft werden die kurzen Erzählungen mit einem Sinn- oder Werbespruch abgeschlossen, einem Slogan, der die Welterfahrung zusammenfasst: „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.” Weiter denkt man in der Welt der Erwachsenen nicht. Die Welt muss trotzdem erkundet werden. Bei ihrer Eroberung gilt es, empfindliche Rückschläge zu verkraften. Die Mitschüler aus der Hochhaussiedlung sind fies. Die Eltern strafen nach absurden Regeln. Die Polizei ahndet leider Ladendiebstähle. Die Rückschläge werden mit erstaunlicher Energie verarbeitet. In der sechsköpfigen Familie findet das Kind seine Nischen. Am Ende wächst der fanatische Traum von einer Starfußballerkarriere.
Huckleberry Finn liefert das Modell für die Walderkundungen in der näheren Umgebung. Höhlen werden gebaut, verloren, zurückerobert und stürzen zusammen. Die besten Freunde erweisen sich plötzlich als ganz doof. Die Lieblings-Winnetou-Figur verschwindet im Klo. Und an die Mädchen müsste man sich mal rantrauen!
Nichts verkitschen wir so gerne wie die Kindheit, das verlorene Reich. Mit mythischer Inbrunst reden wir sie uns entweder schön oder erklären sie zum Urgrund unserer Schwäche. Henschels Roman, der die Kindheit programmatisch im Titel führt, bietet keinen Anlass dazu. Die Kraft des Kindes entfaltet sich in den typischen clownesken Ausflügen und komischen Beobachtungen, und sie tut es in einer erstaunlich freudlosen Umgebung. Dies ist ein Bericht aus einer Zeit, als Kinder das selbstverständliche Abfallprodukt einer Ehe waren, unberechenbare Störenfriede, die den Eltern keine Schande machen sollten. Sie stören den Ehrgeiz des ungeduldigen und jähzornigen, pedantischen Vaters und überfordern die Mutter, die sich in einem ständigen Kleinkrieg mit ihrem Mann zu befinden scheint. Die Eltern stellen höchste Ansprüche an sich selbst und glauben sich von Feinden umgeben. Ständiges, wütendes Schaffen wird von einem tiefen Gefühl der Vergeblichkeit untergraben. Das Haus, das der Vater der Familie unbedingt bauen will, wird noch vor seiner Fertigstellung wieder verkauft.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Alles soll freudlos sein, anständig im Schweiße des eigenen Angesichts erarbeitet – so befiehlt es die protestantische Ethik der Beamten-Kleinfamilie. Die Fernseherfahrungen der Kinder liegen wie eine zweite Schicht über diesen dunklen Aufträgen der Eltern, Öl auf Wasser, ohne sich zu vermischen. Das Bedürfnis der Kinder nach Spaß und Leichtigkeit erfüllt die Eltern mit Zorn und Neid: Sie werden schon sehen, was sie davon haben! Sie wissen nicht, wie die Eltern im Krieg gelitten haben.
Als Leser der „Liebenden” wissen wir, wie dieses Elternpaar noch leiden wird: Mutter Schlosser wird verzweifelt versuchen, sich von ihrem tyrannischen, eigenbrötlerischen Mann zu trennen und noch ein wenig Leben zu erhaschen, stirbt aber mitten im Versuch grausam an Krebs. Vater Schlosser wird seine Kinder verstoßen, sich weigern, seine Diabetes zu behandeln und als Alkoholiker einen unwürdigen Tod erleiden. An Düsternis wird in der Geschichte der Familie Schlosser nicht gespart. Aber es ist keine tragische Düsternis, und Martin Schlosser ist kein tragischer Held. Er ist kein Repräsentant der Opferkultur, die sich das Tätervolk für seine Untergruppen aufgebaut hat. Die Dinge sind einfach so.
Man muss das Schlosser-Projekt mit zwei Zeitphänomenen in Zusammenhang setzen, um den wahren Rang dieses epischen Versuchs einschätzen zu können. Gerhard Henschel rekonstruiert die Erfahrungen seiner Generation, mit allem dazugehörigen dokumentarischen Zierrat. Atmosphäre wird notwendig herbeizitiert, die einschlägigen Markennamen und Fernsehserien-Titel fallen.
Es hat in den vergangenen zehn Jahren eine Flut von Büchern zur Herstellung von Generationszusammenhängen gegeben. Sie dienten der raschen Bildung von Seilschaften zum gemeinsamen sozialen Aufstieg: Man hat sich nur deshalb demonstrativ in den Generationsgolf gesetzt, um sich rasch den Mercedes leisten zu können. Ein Erfolgsrezept!
Das Leid der Vergangenheit
Henschels Romanprojekt stellt dagegen eine Rehabilitation des Generationsbegriffs als Erkenntnisinstrument dar. Es präsentiert seine unvermeidliche Requisitensammlung, ohne sie zu funktionalisieren. Auf seiner Landkarte bleiben große weiße Flecken, die seine Leserschaft mit ihren eigenen Gefühlen besetzen kann. Trauer ist nicht das geringste dieser Gefühle.
Bei Henschel taucht das Leid der Vergangenheit sanft auf und verschwindet wieder, ganz als hätten wir es nie verdrängt. Der Umgang damit ist kein großes deutsches Ringen. Es hat nicht weniger Gewicht als die Entdeckungen eines Kindes in der Gegenwart, auch wenn es seine Schatten über dieses Kinderleben wirft. Es ist da, ohne dass es die dramatische Struktur eines Romans beherrschen muss, der sicherheitshalber aller Dramaturgie ganz ausweicht. Vielleicht hemmt das Leid der Vergangenheit uns, vielleicht bringt es uns auch um.
Es ist rührend, mit anzusehen, wie diszipliniert Gerhard Henschel sich in die Vergangenheit schaufelt, wie nüchtern und uneitel er uns zeigt, was er gefunden hat: ein Bild seiner Welt im Maßstab 1:1, größenwahnsinnig und bescheiden zugleich. Der „Kindheitsroman” ist keine Bewerbung um eine Reporterstelle beim Spiegel, kein grandioser Auftritt mit Tusch und Medienstrecksprung. Er ist ein Produkt deutscher Wertarbeit, Old Economy. Bei seiner Herstellung werden auch die Pedanterie und der Perfektionismus des Romanvaters Richard Schlosser ihre Rolle gespielt haben. Henschel versucht nicht weniger, als das Unsagbare abzubilden, jenen großen Nebel, der sich der Dramatisierung entzieht: den Alltag, das alles umrankende Schattengewächs, seine grauen Schrecken und sein graues Glück.
ROBIN DETJE
GERHARD HENSCHEL: Kindheitsroman. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2004. 496 Seiten, 22,90 Euro.
Eine Münchner Familie im Jahr 1973
Foto: SV Bilderdienst
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2004

Kinderlähmung ist bitter
Winnetou im Abflußrohr: Gerhard Henschel blickt erneut zurück

Vor zwei Jahren erschien Gerhard Henschels dokumentarischer Briefroman "Die Liebenden". Er erzählte die Geschichte einer in den Anfangsjahren der Bundesrepublik geschlossenen Ehe. Die Briefe, die Ingeborg und Richard Schlosser sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren hinweg schrieben, schilderten die wachsende Enttäuschung zweier Menschen, die mit ansehen mußten, wie ihre Lebensträume zwischen Doppelgarage, Einbauküche und Komposthaufen auf der Strecke blieben. Gerhard Henschel, der bisher als Satiriker bekannt war, wurde von der Kritik für seine erste "ernsthafte" Veröffentlichung sehr gelobt. Jetzt beschäftigt er sich ein weiteres Mal mit der Familie Schlosser und widmet sich Martin, dem dritten der vier Kinder. Der Roman endet 1974, als Martin zwölf Jahre alt ist, und auch wenn der ebenfalls 1962 geborene Gerhard Henschel bisher nicht bestätigt hat, daß sich hinter dem Ehepaar Schlosser seine eigenen Eltern verbergen, darf man in dem Erzähler wohl den Autor selbst vermuten.

Zunächst sind es nur einige verstreute Erinnerungen. Ein Blick aus dem Fenster in den fallenden Schnee, ein Kinderreim und eine Szene am Küchentisch. "Ein Löffel für Martin. Das war ich selbst. Martin Schlosser." Weiter kommt er erst einmal nicht: "Nicht träumen!" ermahnt ihn die Mutter bereits auf den ersten Zeilen des fast fünfhundert Seiten umfassenden Romans, und bald fällt auf, daß die Eltern, deren stilvolle Briefe man in "Die Liebenden" lesen konnte, hier fast ausschließlich formelhafte Ermahnungen und Binsenweisheiten von sich geben. Gerhard Henschel, der 1997 noch mit Eckhard Henscheid und Brigitte Kronauer in der "Kulturgeschichte der Mißverständnisse" mit beißendem Spott über die Gemeinplätze der Gegenwart hergefallen ist, widmet sich jetzt geradezu zärtlich den elterlichen Redensarten: "Bist du im Zirkus groß geworden?" kommentiert die Mutter eine von Martins "Schnapsideen" und schickt ihn "ab ins Bett, aber dalli".

Zunächst wirken diese Platitüden fast zeitlos. Doch wenn Martins Mutter an einem frostigen Wintertag "raus aus der sibirischen Kälte" will oder der Vater seinen Kinder den Linseneintopf mit der Bemerkung schmackhaft zu machen versucht, daß "sie im nächsten Krieg noch Baumrinde nagen würden", erzählen sie plötzlich vom Schicksal einer ganzen Generation. Martins Eltern haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt, und wie viele andere Paare suchen sie jetzt ihren Frieden in einer warenförmigen Familienwelt, in der sich glückliche Gesichter im blitzenden Kotflügel eines Volkswagens oder im metallischen Grün des neuen Fonduesets spiegeln. Akribisch führt Martin Buch über die vermeintlich schönen und nützlichen Dingen, die seine Eltern anschaffen: einen neuer Staubsauger, einen Römertopf oder das gläserne Milchkännchen mit Schraubverschluß, das die kleckernden "B&B"-Dosen vom Tisch verbannen soll. Das Scheitern der familiären Nachkriegsutopie, das Henschel in "Die Liebenden" beschrieben hat, tritt nun durch den unschuldigen Blick des kindlichen Erzählers noch schärfer hervor.

Doch eigentlich geht es im "Kindheitsroman" um die nächste Generation. Das Leben von Martin und seinen drei Geschwister wird nicht mehr von der großen Erzählung des Zweiten Weltkriegs geprägt, sondern von kleinen und banalen Geschichten. Eine Prügelei auf dem Spielplatz und eine "Sechs" in Biologie, ein Ladendiebstahl, eine unverdiente Ohrfeige und Fernsehverbot, davon berichten die kurzen, in sich geschlossenen Absätze. Während Martin die Grundschule in Vallendar am Rhein und die ersten Klassen des Gymnasiums in Koblenz besucht, regieren in Bonn erst Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger und dann Willy Brandt. Die Auschwitz-Prozesse werden geführt und die Ostverträge ratifiziert, Benno Ohnesorg stirbt, und Kaufhäuser brennen, aber für Martin zählen andere historische Einschnitte: die unverhoffte Erhöhung des Taschengeldes um zwanzig statt um zehn Pfennig oder ein vereinzeltes Tor von Jupp Heynckes in der 13. Minute in einem Spiel gegen den 1. FC Köln.

Gerhard Henschel ist ein detailversessener Autor. Er weiß, daß ein "Duplo" Mitte der sechziger Jahre zwanzig und ein "Mars" fünfunddreißig Pfennig gekostet hat, er rezitiert das alte Greuelmärchen von den Kindern, die an einem verschluckten Kaugummi erstickt sind, und ruft sich Schlagertexte, Werbesprüche und Plakatparolen in Erinnerung: "Schluckimpfung ist süß", und "Neckermann macht's möglich". Nichts, aber auch rein gar nichts scheint ihm zu entgehen. Sogar eine Tonbandaufnahme, die an Heiligabend 1972 während der Bescherung im Wohnzimmer der "Schlossers" entstanden ist, hat Gerhard Henschel in seinem Archiv aufgespürt und abgeschrieben, und in einem zerlesenen Comic hat er das Motto für seinen Roman gefunden. Zwei Bilder aus einem alten Lustigen Taschenbuch zeigen, wie Mickymaus - "bip! bip!" - mit Hilfe von geheimnisvollen "Gedächtnisstrahlen" auf eine Reise in die eigene Kindheit geschickt wird.

Es ist ein ironischer Kommentar. Gerhard Henschel weiß, daß die Literatur nur ein unvollkommener Ersatz für diese Gedächtnisstrahlen ist. Anstatt die Vergangenheit zurückzuholen, erzählt sie doch nur von den Dingen, die auf ewig dahin sind. Vielleicht verliert Martin darum in diesem Roman ständig etwas. Bei einer Fahrt in einem Sessellift fällt ihm eine seiner neuen "Romika"-Sandalen vom Fuß, und seine geliebte Winnetou-Figur verschwindet für immer im Abflußrohr, er verbummelt die Uhr, die er Weihnachten bekommen hat, und der Schal, den seine Mutter ihm am Morgen um den Hals bindet, ist am Abend bereits verschwunden. Leider findet er das Buch mit den "schweinischen Zeichnungen", das er mit einem Freund sorgsam im Wald versteckt hat, zuletzt selbst nicht wieder, und dann verliert er auch noch den Freund an andere Spielkameraden.

Der einzige Verlust jedoch, über den man nie hinwegkommt, ist der Verlust der Kindheit. Genau davon erzählt dieser schrecklich schöne Roman. Ganz zum Schluß, als am Silvesterabend 1974 gerade das neue Fondueset eingeweiht wird, bemerkt Martin, daß es nur noch ein Vierteljahrhundert bis zum Jahr 2000 sind. "Ich wäre dann 37 Jahre alt", teilt er den anderen begeistert mit. "Hör bloß auf", sagt seine Mutter.

KOLJA MENSING

Gerhard Henschel: "Kindheitsroman". Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 493 S., geb., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr bewegend findet Robin Detje dieses Erlebnisprotokoll einer bundesdeutschen Jugend, und dies nicht nur, weil diese recht freudlos, wenn nicht düster ausgefallen ist. Auch die Disziplin, mit der sich Gerhard Henschel in die Vergangenheit schaufelt, ringen Detje Respekt ab: "nüchtern und uneitel", "größenwahnsinnig und bescheiden zugleich". Wie gewohnt "im Ziegelsteinformat" schreibt Henschel diesmal aus der Sicht des Kindes die Geschichte der Familie Schlosser fort, deren verzweifeltes und vergebliches Arbeiten am Glück und Vorwärtskommen in der jungen Bundesrepublik er in den Briefroman "Die Liebenden" gefasst hatte. Dabei sind es zwei Dinge, die für Detje den "wahren Rang" dieses Werkes erkennen lassen. Zum einen rehabilitiere Henschel den Generationenbegriff als Erkenntniszusammenhang, nachdem er lange Zeit nur funktionalisiert worden ist ("Man hat sich nur deshalb demonstrativ in den Generationsgolf gesetzt, um sich rasch den Mercedes leisten zu können"). Zum anderen scheint Detje bewegt davon zu sein, wie sanft Henschel das "Leid der Vergangenheit" behandelt, ohne es zu einem deutschen Ringen ausarten zu lassen. In kleinen "anekdotenhaften Miniaturen" schildere Henschel dabei einen Alltag, der sich jeder Dramatisierung entziehe: Stattdessen "graue Schrecken und graues Glück".

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»berückend schön« Morgenpost Sachsen, 01.09.2019