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Geschichten müssen nicht wahr sein, sie müssen stimmen, sich vom konkret Erfahrenen ausgehend zur Erkenntnis über die Zusammenhänge unseres Lebens vorarbeiten. Uwe Timms Geschichten jedenfalls stimmen, wie man an dieser vorläufigen Gesamtschau seines Werkes überprüfen kann. Ob er über den deutschen Kolonialismus im Südwesten Afrikas schreibt oder in der Figur eines Anlagebetrügers die Börse als kultivierte Form des Kannibalismus darstellt, spannende Unterhaltung verbindet sich in seinen Romanen mit penibel recherchierter Aufklärung über unsere wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Wie…mehr

Produktbeschreibung
Geschichten müssen nicht wahr sein, sie müssen stimmen, sich vom konkret Erfahrenen ausgehend zur Erkenntnis über die Zusammenhänge unseres Lebens vorarbeiten. Uwe Timms Geschichten jedenfalls stimmen, wie man an dieser vorläufigen Gesamtschau seines Werkes überprüfen kann. Ob er über den deutschen Kolonialismus im Südwesten Afrikas schreibt oder in der Figur eines Anlagebetrügers die Börse als kultivierte Form des Kannibalismus darstellt, spannende Unterhaltung verbindet sich in seinen Romanen mit penibel recherchierter Aufklärung über unsere wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Wie Menschen lieben und arbeiten, was sie essen, wie sie wohnen - all das ist in Timms Romanen mit unbändiger Lust am sinnlichen Detail beschrieben.

So schuf Uwe Timm im Lauf der Jahre eine realistische Erzählwelt mit einprägsam eigensinnigen Figuren: studentenbewegte Germanisten, die sich nach dem "Heißen Sommer" der Revolte ohne Perspektive durchs Leben schlagen; der Ingenieur, der im südamerikanischen Urwald den Glauben an die Rationalität verliert; ein tüftelnder Tierpräparator, der als Fahrradpionier unter die Räder des Fortschritts gerät; die in den falschen Mann verliebte Erfinderin der Currywurst; oder - in dem viele Motive des Werkes bündelnden Roman "Rot" - der Alt-Achtundsechziger, der im Berlin der Jahrtausendwende seinen Lebensunterhalt als Jazzkritiker und Beerdigungsredner verdient. Sie alle sind lebhaft sich einmischende Zeitgenossen, nur merken sie nicht immer, dass sie an fremden Fäden zappeln. Ihr literarischer Erfinder aber macht, mal humoristisch, mal ironisch, die Ursachen ihres Scheiterns sichtbar und erweitert mit poetischem Instinkt die Wirklichkeit um die Dimension der Möglichkeit. Dann entwirft er Legenden, in denen die Geschichte einen günstigeren Verlauf nimmt als in der schlechten Realität. Geschichten müssen nicht wahr sein, sie müssen stimmen.

Wie solide der gelernte Kürschner und studierte Volkswirt seine Geschichten konstruiert, das wird in diesem Lesebuch auf besondere Weise deutlich. Das Buch enthält nämlich auch später verworfene Texte: etwa mehrere, stetig verdichtete Versionen für den Anfang des Romans "Rot". Uwe Timm macht offenbar regen Gebrauch von der Löschtaste seines Schreibcomputers. Über die eitle Lust an der eigenen Formulierung siegt bei ihm allemal die Gewissenhaftigkeit des Handwerkers. Kein Wunder, dass man beim Blättern in diesem Musterkatalog unweigerlich Lust auf die Originalwerkstücke bekommt.

Autorenporträt
Hielscher, Martin
Martin Hielscher, geboren 1957, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, arbeitete als Autor, Redakteur, Übersetzer und Dozent, war Lektor in verschiedenen Verlagen und ist heute Programmleiter für Literatur beim Verlag C.H.Beck in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2005

Seine Alphabetisierung
Ein Autor unter Beobachtung: Weggefährten gratulieren Uwe Timm

Herzlichen Glückwunsch: Uwe Timm, der engagierte und elegante Erzähler, gekleidet meist in Schwarz, ist in diesem Frühjahr fünfundsechzig Jahre alt geworden. Im Deutschen Taschenbuch Verlag ist aus diesem Anlaß ein "Uwe Timm Lesebuch" und bei Kiepenheuer & Witsch ein Sammelband mit Texten zu Leben und Werk des Autors erschienen.

Die versammelten Freunde und Kollegen überreichen Briefe und Gelegenheitsgedichte. "Steife Brisen / treue Leser / Italienisch über Nacht", toastet Dagmar Leupold: "Stoff, Stoff, Stoff / und noch mal / dreißig Jahre / Schreibwut". Der Band mit Texten zum Autor liefert aber auch nüchterne und sachkundige Untersuchungen zum Romanwerk. Paul Michael Lützeler beschäftigt sich mit Symbolen der Diktatur in Uwe Timms Roman "Der Schlangenbaum". Olaf Petersen sucht nach Mustern des Schelmenromans im späteren Werk "Kopfjäger". Für Gäste wie Mathias Greffrath bietet der Geburtstag Gelegenheit, die eigene Kapitalismuskritik und Globalisierungsgegnerschaft auszuführen. Die ökonomischen Verwerfungen unserer Zeit kommen ihm gemeinsam mit Uwe Timms bekannter Novelle von der "Entdeckung der Currywurst" in den Sinn. Andere Beiträger stellen sich mit frei vorgetragenen Texten in die Reihe der Gratulanten. So überrascht Joachim Kalka mit Ausführungen zu gastronomischen Inszenierungen in der Literatur. Allein die Tatsache, daß der Appetit, die Zubereitung von Speisen und detaillierte Rezepte auch andernorts im Band vorkommen - "Crostini toscani: Brotscheiben mit Leberaufstrich" -, liefert einen Hinweis auf den Zusammenhang mit dem Jubilar. Hier scheint jemand ein üppiges Festessen ebenso zu schätzen wie einen Sammelband.

Die sinnliche Wahrnehmung der Welt ist ein zentrales Element in Uwe Timms Erzählen. Das Lesebuch "Die Stimme beim Schreiben" zeigt in einem Querschnitt aus den Jahren 1959 bis 2003, worauf es dem Autor ankommt: auf die genaue Beobachtung der Alltagswelt, die Momente, in denen sich menschliches Leben entfaltet und sträubt. Timm interessiert die wirklichkeitsgesättigte und technisch versierte Wiedergabe des gewöhnlichen Lebens mit seinen widerspenstigen Zügen. Der Autor hat sein Berufsleben als Kürschner begonnen, und er ist dem exakten Handwerk treu geblieben. Er vernäht nun Zeitebenen und Figurenreden, die Stücke fügen sich ineinander, ohne daß ein Haar hervorsteht. Dies zu zeigen, hat der Herausgeber Martin Hielscher Ausschnitte aus den wichtigsten Büchern des Autors gewählt: vom frühen Gedichtband Uwe Timms über die Romane und Kinderbücher bis hin zur jüngst erschienenen Familiengeschichte. Das Lesebuch umfaßt aber nicht nur bekannte und leicht zugängliche Texte. Sie werden mit am Rande stehenden Arbeiten gemischt: Reisebeschreibungen, Reden, Dichterporträts, Artikel über die Vorzüge Münchens und die Nachteile elektronischer Lesegeräte.

Eine Reise durch das Paraguay der achtziger Jahre führt den politischen Anspruch Uwe Timms vor Augen, der aus seinen Romanen bekannt ist. "Morenga" und "Der Schlangenbaum" bezeugen seine Skepsis gegenüber der deutschen Kolonialgeschichte, Diktaturen der "Dritten Welt" und dem westlichen Fortschrittsglauben. Diese Disposition mag ihre Wurzeln in der Prägung des Autors in den Jahren der Studentenbewegung haben. 1968 studierte Uwe Timm in München Philosophie und Germanistik und trat in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund ein. Die Auseinandersetzungen dieser Zeit sind in den Romanen "Heißer Sommer", "Kerbels Flucht" und "Rot" aufgehoben. Seitdem fragt Uwe Timm nach den Möglichkeiten, "eine schwer kontrollierbare Wut, eine umtriebige Ungeduld, eine zornige Angst" literarisch produktiv zu machen. Und er setzt seinen Anspruch, bewußtseinsverändernd zu wirken, von literarischen Konzepten der reinen Innenschau und des formalen Experiments ab.

Das Erzählen ist für Uwe Timm nicht auf eine einzelne Funktion zurückzuführen: auf die Aufklärung oder die Unterhaltung oder die Abbildung. Ihm scheint das ursprünglich mündliche Erzählen, das Ausspinnen von Gedanken und Assoziationen, das Entfalten eines üppigen Gewebes, ein anthropologisches Grundbedürfnis. Im Erzählen kommt der Mensch zu sich selbst. In dem kleinen Text "Meine Alphabetisierung" berichtet der Autor von seinen frühen Widerständen gegen das Schreibenlernen und die Orthographie als Zwangssystem. Sinnvoll erschien es ihm erst, als er es verstand, mit Hilfe des linearen Alphabets die fluktuierenden Bilderwelten des mündlichen Erzählens einzufangen.

So wird der Jubilar sich an seinem vom Verleger Helge Malchow herausgegebenen Geburtstagsband noch lange über den Anlaß hinaus erfreuen. Man kennt diese Veranstaltungen, auf denen alle durcheinanderreden. Einer erinnert sich an frühere Zeiten und beseufzt gemeinsame Erlebnisse. Der andere erzählt von sich und sich und sich. Und eine ruft mit einem Sektglas in der Hand: "Das Enzym / der Phantasie / ist / die Neugier."

SANDRA KERSCHBAUMER.

Helge Malchow (Hg.): "Der schöne Überfluß". Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 288 S., geb. 19,90 [Euro].

Martin Hielscher (Hg.): "Uwe Timm Lesebuch". Die Stimme beim Schreiben. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2005. 480 S., br., 10,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sandra Kerschbaumer hat zwei Bücher zu Leben und Werk von Uwe Timm gelesen, die aus Anlass seines 65. Geburtstages erschienen sind. Das "Uwe Timm Lesebuch" versammelt Texte und Textausschnitte des Autors, die zwischen 1959 und 2003 entstanden sind, und bietet so einen "Querschnitt" durch das bisherige Schaffen Timms, erklärt die Rezensentin. Sie hebt als positiv hervor, dass nicht nur aus bekannten Büchern des Autors Texte ausgewählt wurden, sondern auch schwerer zugängliche Texte geboten werden wie Reiseberichte oder Reden. Der Sammelband führt nach Ansicht Kerschbaumers anschaulich vor, dass es Timm in seinem Erzählen auf die "genaue Beobachtung der Alltagswelt" auch mit ihren technischen und politischen Details ankommt.

© Perlentaucher Medien GmbH