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Von dem Spiel der Liebe und der nicht einholbaren Vergangenheit. Geschichten voll ungestümer Phantasie und großem sprachlichen Reichtum. "Mein Liebling, meine Liebste, meine inniggeliebte Frau ..." Sie schreiben aus Kreta, Porto, Paris, Venedig, der Provence, Barcelona oder Usbekistan. Mal haben sie eine Frau verlassen und fragen sich nun, warum. Mal spielen sie auf dem Papier das Wiedersehen nach langer Trennung durch oder reflektieren auf eine nie unternommene Reise nach Samarkand. Sie greifen zur Feder, um Ereignisse, die sie einst glücklich gemacht haben, zu beschwören. Und wissen doch: Es…mehr

Produktbeschreibung
Von dem Spiel der Liebe und der nicht einholbaren Vergangenheit. Geschichten voll ungestümer Phantasie und großem sprachlichen Reichtum.
"Mein Liebling, meine Liebste, meine inniggeliebte Frau ..." Sie schreiben aus Kreta, Porto, Paris, Venedig, der Provence, Barcelona oder Usbekistan. Mal haben sie eine Frau verlassen und fragen sich nun, warum. Mal spielen sie auf dem Papier das Wiedersehen nach langer Trennung durch oder reflektieren auf eine nie unternommene Reise nach Samarkand. Sie greifen zur Feder, um Ereignisse, die sie einst glücklich gemacht haben, zu beschwören. Und wissen doch: Es ist vorbei.

Die Liebe, die Briefeschreiber haben sie verkannt, verloren oder verspielt. Und so sind ihre Briefe oft Skizzen der Sehnsucht, der Leidenschaft, der Enttäuschung, der verpaßten Chancen.

Mit einer feinen Sprachmelodie, durchdrungen von märchenhaften Träumen und nachhaltiger Empfindsamkeit fügen sich die siebzehn hier versammelten Geschichten zu einem Panorama mediterraner Melancholie, zu einer "kleinen tragbaren menschlichen Komödie".
Autorenporträt
Tabucchi, Antonio
Antonio Tabucchi, am 23. September 1943 in Vecchiano bei Pisa geboren, verstorben am 25. März 2012 in Lissabon, promovierte an der Universität Pisa in moderner Literatur. Er war Ordinarius für portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Genua sowie Leiter des italienischen Kulturinstituts in Lissabon. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Pisa und Siena. Er schrieb Romane und Kurzgeschichten, Essays und Bühnenstücke. Sein Werk wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Campiello, dem Premio P.E.N. Club, dem Prix Médicis Etranger und dem Österreichischen Staatspreis für Literatur. Tabucchi war Mitglied und Mitbegründer des International Parliament of Writers.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Letzte Leerung, bevor der Empfänger stirbt
Sehr lange im Wald geschlafen: In Antonio Tabucchis Roman „Es wird immer später” schreiben alte Männer den Abschiedsbrief
Im gerade erblühten 21. Jahrhundert führt das antike Etikett des Briefromans, das Antonio Tabucchi für sein jüngstes Werk gewählt hat, zwangsweise zum Nachdenken. Weshalb keine Mail? Weshalb keine SMS, wenn es denn schon spät geworden ist und man nicht mehr anrufen will?„Old men don’t e-mail”, wäre eine plausible Antwort. Eine andere: Der Erzähler möchte zahlreiche und vielfältige Stimmen gewinnen. Und da es in diesem Buch immer um Abschiede geht, von der Geliebten oder vom Leben oder gar von beidem, wird die Wahl der Papierform und des schriftlichen Monologs auch zeitgenössisch plausibler. Die „zwiespältige” Form des Briefes schließlich lässt die äußerste Konzentration auf die geliebte Figur zu und die großartigste Selbsttäuschung bezüglich deren Nähe zur eigenen Person, auch wenn das Schreiben mit dem Vermerk „Empfänger verstorben” zurückkommt. So begründet der Autor Tabucchi den Reiz seines Verfahrens, um es im letzten Kapitel des Romans dann gleichfalls anzuwenden, im neunzehnten Brief, mit dem er sich der korrespondierenden Figuren seines Buches wieder entledigt.
Dass Antonio Tabucchi etwas vom alternden Mann versteht, weiß man spätestens seit seinem international erfolgreichen, mit Marcello Mastroianni verfilmten Roman „Erklärt Pereira”, der humorvoll die Geschichte eines verwitweten und kränkelnden, unter der Salazar-Diktatur der dreißiger Jahre widerstrebend politisierten Kulturredakteurs erzählt. Die Verbindung von Relevanz des Themas und Eleganz der Konstruktion, die jenes Werk auszeichnet, ist auch in Tabucchis neuem Roman gegeben. Die letzten und entscheidenden Dinge des menschlichen Daseins werden hier einem siebzehnköpfigen Männerorchester überlassen; es sind – wer wollte es bestreiten – die Zeit, die Liebe und der Tod. Die Perspektive ist zumeist die des Scheiterns, des schon längst oder jetzt endgültig unternommenen Abschieds. Die Schauplätze, die auf griechischen oder italienischen Inseln liegen, in der Provence, in Rom, Paris oder Neape,fügen sich zu einem recht erlesenen Panorama mediterraner oder wenigstens romanischer Melancholie. Und es gibt viel Musik in diesem Buch, implizit als Sprach- und Motivrhythmik, explizit in zahlreichen Chanson-, Schlager- und Opern-Zitaten, so dass man es sich fast ersparen kann (es freilich aber nicht sollte), während der Lektüre die von Autor und Klappentext empfohlenen Fados zu hören oder einige Tangos von Astor Piazzolla.
Ein Mann sitzt im Haus der Familie auf dem Land. Er schreibt von den Kindern, vom Garten, von sich, davon, dass er nicht mehr lange leben wird und seinen Grabstein bestellt hat. Er wartet auf seine Frau, die schon gestorben ist, und er verspricht ihr, bald diesen einen und wahrhaft schwierigen Brief an sie zu schreiben, den man immer schreiben sollte und den man nie schreiben wird. Ein anderer, dicklich gewordener und etwas verzagter Mann macht sich mit einem klapprigen Gefährt auf den Weg zu einer ehemaligen Geliebten, die er scheinbar viele Jahre nicht mehr gesehen hat und nun durchaus mit irgendeinem Alfredo verheiratet wähnen muss. Unangekündigt erscheint er nach Mitternacht vor ihrer Tür. Sie empfängt ihn gelassen und freundlich, gemeinsam verbringen sie die Nacht und einen poetischen Morgen, denn es ist gerade sieben Tage her, dass sie zum letzten Mal beieinander waren.
Das sind die beiden letzten Männergeschichten des Buches, kurz und unprätentiös. Sie haben mir gefallen, weil sie in Reinform den abgeklärten, lebensklugen Humor präsentieren, der in den anderen Geschichten immer wieder durchschimmert, aber von stärkeren, nicht immer so vorteilhaften Effekten verdeckt wird. Die Sieben--Tage-Geschichte löst zudem ein kleines Rätsel, das sich beim Rekapitulieren der sujetgemäß häufigen erotischen Stellen ergibt, nämlich die Diskrepanz zwischen der subtilen Lebensphilosophie der alten Männer und der Verderbtheit ihrer Erinnerung, in der ihr Samen in den Lavendel spritzt, die Möse klafft und ein „Spalt” (der ist hier nicht mein Problem) „unsagbare Wonnen” bereitet: Sie haben nämlich zu lange im Wald geschlafen.
Im Reich der Refrains
Einige Geschichten des Buches halte ich dagegen für zu aufgeweckt, wenn man darunter die kalkulierte Anlage und das Ausgeknobelte einer Story fassen kann, zumal auch in diesem Fall die Bartlosigkeit nicht garantiert ist. So möchte man dem alternden Londoner Hamlet-Darsteller, der die seit zwanzig Jahren zu Beatles-Klängen im Minirock dahinsterbende Ophelia anbetet, eigentlich nicht noch einmal begegnen, und dass der von seiner Frau verlassene gutherzige Ärzte-ohne-Grenzen-Held triumphiert, als er in den Krankenakten eines ihm befreundeten Kollegen das unheilbare Prostata-Karzinom seines Widersachers entdeckt, ist ein Effekt, der doch eher zum moribunden Kunsthandwerk eines Roald Dahl gehört. Das bewundernswert Ehrgeizige an Tabucchis Schreibvorhaben, nämlich eine Vielfalt von Abschiedsstimmen zu entwickeln, birgt die Gefahr von Serialität und nachlassender Konzentration in sich. Neben einigen Dahl-Effekten, von denen man aber auch einen Tschechow nicht immer freisprechen kann, gibt es einen gewissen Lars-Gustafssonismus bezüglich der wahren Dinge des Lebens, als da sind das Universum, das Essen (Brigitte-Leserinnen blättern unverzüglich das komplette Rezept für Tagliatelle alla Positano auf), der Musik, der Sex, die Poesie und so fort. Das Schwere immer etwas zu leicht gemacht, wäre eine kritische Umschreibung für diese erzählerische Kategorie.
Allerdings wollte es sich der gewiefte Erzähler Tabucchi in diesem Buch leicht machen, dafür stehen schon die zahlreichen Schlager- und Chanson- Zitate. So wie ein gutes Chanson, ein Tango oder Fado mit kunstreicher Larmoyanz tatsächlich massive Treffer beim Zuhörer erzielen und damit die Gefühlshaubitzen so mancher Oper schlagen kann, so gibt es einige leicht gesetzte und doch nachhaltig wirkende Refrains auf dieser literarischen CD. Tabucchi wollte es sich andererseits auch schwer machen. Um hierfür erneut mit einem ungerechten, treffenden Vergleich aufzuwarten, darf man gewiss die mehrfach im Text vorkommenden Kollegen Pessoa und Borges anführen, deren Strenge und Konsequenz Tabucchi und dem am höheren Vergnügen interessierten Leser nicht immer zum Nachteil fehlen.
Tabucchi ist ganz bei sich zu Hause, wenn er Erzählungen wie „Der Fluss” oder „Forbidden Games” schreibt. Eine Figur erhofft aus Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten den Eintritt in eine Art Nietzscheanisches Endloskarussell, in dem er sein eigenes Leben beliebig oft wiederholen kann, eine andere verzweifelt daran, das ebendies von den Göttern verboten wurde. Vor einem an Magritte erinnernden Fenster steht eine Frau, die womöglich nur eine Fotografie ist oder ein illusionärer Durchgang zur Erinnerung eines anderen Mannes. Vor einem weiteren Fenster beschließt eine Figur den eigenen Tod, weil sie den Stacheldraht der grenzenlosen Freiheit nicht mehr ertragen kann. Gedankenspiele dieser Art sind reizvoll, aber ästhetisch zunächst einmal wertneutral. Mancher Geschichte dieses Buches schadet es und mancher nützt es, dass sie so ein akademisches, zitatenbeflissenes und enzyklopädisches Zuhause hat.
Natürlich weiß Antonio Tabucchi es selbst am besten: Er ist ein traditioneller, post-postmoderner Erzähler. So hat denn der doppelte Boden stets noch einen doppelten Boden, führt der Link zu einem weiteren Link. Wenn man im narrativen Hypertext an Nietzsche denkt, kommt Nietzsche im Text vor, fällt einem Magritte ein, erscheint Magritte. Hat man Gedanken zur Spiegelung von Meta-Ebene und Fiktion, zur Selbstreferenz und Selbstabbildung, erscheinen spätestens im Brief Nummer 19 die „disiecta membra der an Caravaggio erinnernden Bilder” eines dem Autor befreundeten Malers. Die Leitmotive und Topoi der Geschichten, wie Kreislauf und Blutkreislauf, Wiederkehr und Wiedergeburt, der Heraklitsche Zeitstrom, die dagegen angehende Erinnerung, der Zusammenhang dieser Erinnerung mit ihrer eigenen Fälschung, dieser Fälschung wieder mit der Imagination, dieser Imagination mit der Illusion werden benannt, assoziativ verlinkt und mit den Fußnoten durchschossen, die der Erzähler den noch nicht geschriebenen Aufsätzen künftiger Interpreten entwendet hat. Gute Ideen haben und darüber reden – das wäre das Verfahren, das hier ein mit allen Wassern der Wasser gewaschener Erzähler anwendet, ein hyperraffinierter Spieler, der sich selbst die Eigentore noch von der gegnerischen Mannschaft schießen lässt.
Die Naturliebhaber des Erzählens, die saubere narrative Madeln und die haarigen Waden des Realismus sehen wollen, werden bei solchen Tricks wohl aufschreien oder aufjodeln und Nadeln in ihre Robbe-Grillet-Puppe stechen. Aber auch den fortgeschritteneren Hypertextlern kann bisweilen das Rückkoppelungskreischen der Selbstreferentialität in den Ohren klingeln, insbesondere dort – und das ist leider nicht selten der Fall - wo der Sprung in die übergeordneten Diskursebenen einiges an Erzählinhalt und figürlicher Dynamik ersetzen soll, und gerade auch dort, wo die hereingeholte zukünftige Fußnote nicht originell ist, sondern bloß den Gemeinplatz oder enzyklopädischen Zierrat darstellt, der jedem Seminaristen einmal in den Sinn kommen muss.
Ich war am Ende des Briefromans, der die Gattungsbezeichnung nur motivisch verdient und deshalb wohl doch ein Erzählungsband bleibt, mit meinem Urteil unentschieden. Das innere Elfmeterschießen wurde mir aber durch die achtzehnte. Erzählung erspart, und deshalb empfehle ich das Buch, einzunehmen mit einer Flasche portugiesischen Rotweins an maximal zwei Winterabenden. Jene zu Recht den Titel der Sammlung vorgebende Erzählung „Es wird immer später” ist die beste und ausgewogenste in diesem Buch. Sie besteht hauptsächlich aus einem Brief, der von Ariadne stammt, der unsichtbaren Frau, an die im Grunde alle Briefe des Männerorchesters gerichtet sind. Darin schreibt sie ihrem Theseus folgenden Satz über die Liebe: „Ich habe Dich aus einem Labyrinth herausgeführt, und Du hast mich in eines hineingeführt, ohne dass es für mich einen Ausweg gäbe, nicht einmal den Tod.”
THOMAS LEHR
ANTONIO TABUCCHI: Es wird immer später. Roman in Briefform. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Carl Hanser Verlag, München 2002. Seiten,
19,90 Euro.
Old men don’t email. Sie sitzen stattdessen im Abendlicht und schauen in die untergehende Sonne
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Liebe und Pasta
Antonio Tabucchis wehmütiger Briefroman / Von Dirk Schümer

Einen "Roman in Briefform" hätte Antonio Tabucchi sein neuestes Werk nicht unbedingt nennen müssen, denn es handelt sich um keinen Roman. Die Briefe, die hier versammelt sind, richten unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Geschichten an die verschiedensten Adressaten, und es sind einige wundervolle Briefe über die Liebe, die Sehnsucht und die Unmöglichkeit des Glücks dabei. Dennoch stellt die Rede vom Du, an den diese meist intimen Bekenntnisse gerichtet sind, keinen Zusammenhang her, weil es kein zuzuordnendes Ich gibt, dem das alles zugestoßen wäre. Tabbucchi hätte also ehrlicher von "Briefen" oder "Erzählungen" schreiben sollen, aber "Roman" klingt wohl irgendwie bedeutender, schwerergewichtig, endgültig.

Dabei zeichnet die besten der langen Briefe des Bandes gerade das Gegenteil aus, nämlich mit leichtem, melancholischem Ton fast beiläufig von den Katastrophen eines Lebens zu erzählen, die meist darin bestehen, daß der, der sie erlebt, sie kaum mitbekommt. Solche wie hingetuschten Biographien als Tragödien aufscheinen zu lassen - in dieser Kunst des wehen Prosagedichts ist Tabbucchi ein Meister. So handelt die vielleicht schönste Erzählung von einem jüdischen Harfenisten, der irgendwie der Vernichtung entkommen ist, der nach 1945 aus Italien weggeht, um zwischen Saloniki und Alexandria eine Existenz als anonymer Gelegenheits- und Barmusiker zu führen. Aber Tabucchi erzählt das natürlich viel lakonischer, wehmütig bis in die resignierten Bemerkungen am Rande, von Trauer erfüllt, gerade weil nicht von den Morden und Katastrophen im Großen die Rede ist, sondern von der Abendsonne über einer fremden Stadt und von Melodien, die nie mehr erklingen werden.

"Und darüber vergingen die Jahre": Solche und ähnliche Allerweltsüberleitungen wie aus Hebels oder Kleists Novellen machen geradezu den Kern von Tabucchis Ästhetik aus. Die Leben, die er von sich erzählen läßt, sind sich des Scheiterns und der Sinnlosigkeit bewußt. Die Augenblicke, in denen Nähe und Innigkeit möglich waren, sind verstrichen; der geliebte Mensch ist tot oder fort. Aus dieser Lage einen Brief zu schreiben ist eigentlich absurd, aber genau da beginnt die Literatur.

So sind Tabucchis beste Liebesbriefe vom Gefühl der Saudade, dem spezifisch portugiesischen Genuß an der Vergeblichkeit und der Unwiederbringlichkeit, durchzogen - eine Stimmung, die Tabucchi als herausragender Kenner der portugiesischen Literatur, Fernando Pessoas zumal, und des sehnlich-existentialistischen Fadogesangs nur zu gut zu evozieren und in die eigentlich luzideren Gefilde des italienischen Pessimismus zu transponieren weiß. So bekommen wir den lebensweisen Abschiedsbrief des Greises zu lesen, der über Jahrzehnte eine viel jüngere Frau begehrt hat, sie kurzzeitig als Geliebte erringen konnte und der weiß, daß sie nie mehr zu ihm zurückkommen kann. Aber er ist glücklich im einzigen Paradies, aus dem er nicht vertrieben werden kann: in der Erinnerung. Es ist die Erinnerung, das Selbstgespräch mit dem verblassenden Gedächtnis, das ihn seinen sinnlosen und gerade deshalb poetischen Abschiedsbrief schreiben läßt. Tabucchi kann auch böse sein, etwa wenn er einen verlassenen Ehemann, einen Arzt, einen Brief an seine Exfrau schreiben läßt, in dem er ganz maliziös zur Schau trägt, daß er vom Prostatakrebs des neuen Gefährten seiner Stetsgeliebten erfahren hat. Er malt sich und ihr das Leid seines Nachfolgers aus und bietet seinen Vorrat an Morphium an. Man kann froh sein, daß ein solcher Brief Fiktion ist. Aber in die eisige Tiefe eines verwundeten Herzens läßt er sehr wohl blicken.

So hätte man diesen Briefroman, der im Sinne von Choderlos de Laclos oder Werther keiner ist, wohl einen philosophischen Roman genannt, als es das Genre noch gab. Denn Tabucchis Prosa ist reich an zivilisationskritischen Detailbeobachtungen, etwa wenn er die Obszönität der Fernsehnachrichten in einigen angeekelten Sätzen über Unfalltote, sexy zurechtgemachte Ansagerinnen und verhungernde Kinder fokussiert. Neben tiefgreifenden Aussagen über den Rand des Universums, von wo eine Mutter Klopfrhythmen ihres verstorbenen Kindes zu empfangen glaubt, oder den Schmerz eines Manns nach dem Suizid der Frau treffen wir - anders wäre die Ballung schwer erträglich - immer auch auf trockene Bemerkungen über ein Rezept für Tagliatelle oder über familiäre Neurosen.

Der Autor, der mit dem "Indischen Nachtstück" und "Erklärt Pereira" zwei wundervolle Schicksalsromane vorgelegt hat und ja auch diesmal unbedingt einen Roman schreiben wollte, läßt sich jedoch zuweilen einfach gehen und extemporiert beispielsweise hemmungslos über Bellinis "Norma", läßt dabei seinen Assoziationen von italienischen Schlagern bis zu Sexualphantasien freien Lauf, bis der Leser den Eindruck von verwaschener, beliebiger Faselei bekommt, als würde die Welt bloß durch Milchglas beobachtet und solle dadurch besonders geheimnisvoll wirken. Das wird nicht besser durch das eitle Abschlußurteil, ein genialer Komponist wie Bellini sei nichts als ein braver Handwerker gewesen. Hier läßt sich Tabucchi, ohne an dieser Stelle Nennenswertes zu leisten, vom Hochmut der Moderne gegenüber würdigerer Ästhetik verleiten und fabuliert, verliebt in die Brillanz seines Stils und in seine Belesenheit, einfach drauflos.

In einem poetologischen Nachwort gibt Tabucchi freimütig an, manche Texte seien ihm "einfach nur so zugeflogen", und er muß selber wissen, daß das für einen Roman an Stilwillen zuwenig ist. "Ein Brief ist eine zwiespältige Botschaft", weiß der Autor selbst genau, weil er vorspielt, die Distanz zwischen Absender und Adressat zu überbrücken, obwohl natürlich alle wissen, daß diese Distanz selbst zwischen Liebenden einen Abgrund aufreißt. Hätten wir nur genauer erfahren, wer welche Briefe warum an wen schreibt, hätte es der Wehmut keinen Abbruch getan, aber eine gewisse Langeweile unterbunden.

Was dieses uneinheitliche Buch dann doch zusammenhält, ist die wiederkehrende Reflexion über die Liebe, die immer auch ein Trauern über die Zeit bedeutet. Tabucchi macht seinen Lesern klar, "daß die Zeit nicht wartet, daß die Zeit aus Tropfen besteht und ein Tropfen zuviel genügt, damit die Flüssigkeit sich auf den Boden ergießt und sich wie ein Fleck ausbreitet und versickert". Und doch hält dieses pathetische und resignierte Weltbild einen Raum für das Glück bereit. Irgendwann einmal haben die Helden dieser verqueren Flaschenpost geahnt, woraus ihr Glück hätte bestehen können: "Denn die Menschen können glücklich sein in ihrem Inzwischen." Dieses Inzwischen ist der Raum der Literatur.

Antonio Tabucchi: "Es wird immer später". Roman in Briefform. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl. Carl Hanser Verlag, München 2002. 288 S., geb., 19,90 [Euro].

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