Produktdetails
  • ISBN-13: 9783421057662
  • ISBN-10: 3421057664
  • Artikelnr.: 22484021
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003

Ungewöhnlich gut
Die Haftbedingungen der RAF-Angehörigen in Stammheim aus der Sicht eines Vollzugsbeamten

Kurt Oesterle: Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2003. 184 Seiten, 18,90 [Euro].

Die Haftanstalt im Stuttgarter Vorort Stammheim wurde während der siebziger Jahre, als in deren siebtem Stock vier Angehörige der RAF in U-Haft einsaßen, von Anwälten, Angehörigen und Sympathisanten als ein Ort der Isolationsfolter und des Elends hingestellt. Auf der Grundlage ausführlicher Berichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck übernimmt Kurt Oesterle die verdienstvolle Aufgabe, diesen Mythos zu widerlegen. Die realen Haftbedingungen für diese Angeklagten waren in Wirklichkeit ganz ungewöhnlich gut. So verfügten sie zum Beispiel über drei Zellen, konnten Fernsehgeräte in ihren Zellen aufstellen ebenso wie Plattenspieler und Radios, wurden während acht Stunden in den Gängen vor ihren Zellen zusammengeführt, bezogen mehrere Zeitungen und Zeitschriften sowie - nach ihrem Hungerstreik - zusätzliche Nahrungsmittel und so weiter.

Im Umgang mit den Vollzugsbeamten verhielten sie sich inhuman und rüpelhaft. Besonders Baader tat sich durch herabsetzende Schimpfworte und gelegentliche Drohungen gegenüber den Angehörigen der Beamten hervor. Bubeck beobachtete auch die etablierte Hackordnung, an deren Spitze Baader, der Boß, stand und an deren unterem Ende der "Laufbursche" Raspe. Die beiden Frauen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin standen in der Mitte. Allerdings deuten Beobachtungen Bubecks darauf hin, daß Ulrike Meinhof im Laufe der Zeit zunehmend in Isolierung geriet. Beklemmend wirkt eine Szene, deren Zeuge Bubeck Ende April 1976 wird. Von schallendem Gelächter der Häftlinge herbeigerufen, stellte er fest, daß sie sich über eine leuchtendrote Bluse von Frau Meinhof lustig machten. Ulrike Meinhof habe sich daraufhin in ihre Zelle zurückgezogen, die Bluse nie mehr getragen und sich etwa drei Wochen danach am 9. Mai 1976 umgebracht.

Entlarvend für den Gegensatz zwischen dem in Teilen der Öffentlichkeit für wahr gehaltenen Zustand in der Haftanstalt und den realen Verhältnissen war unter anderem der Bericht, den Jean-Paul Sartre an die Presse gelangen ließ. Sartre meinte, Baader habe den Eindruck eines Gefolterten gemacht, wohne in einer fensterlosen Zelle, in der während vierundzwanzig Stunden das elektrische Licht brenne, und höre von der Außenwelt nur die Schritte der Vollzugsbeamten. Der Zustand Baaders war aber die Folge seines Hungerstreiks, die fensterlose Zelle diente lediglich den Besuchern - wie Anwälten, Angehörigen und so weiter. Die eigentliche Wohn- und Schlafzelle von Andreas Baader sah ganz anders aus. Sie verfügte sowohl über ein Fenster als auch über eine größere Büchersammlung, Fernseh- und Radioapparate sowie ein großes Che-Guevera-Poster. Man hätte Sartre diese Zelle zeigen müssen, um den irreführenden Eindruck durch die Besuchszelle zu korrigieren, aber niemand hatte wohl an eine derart uninformierte Presseäußerung des großen Philosophen gedacht.

Dem Generalbundesanwalt Kurt Rebmann führte Andreas Baader ein ganz anderes Theater vor. Er benahm sich extrem höflich, redete ihn mit Titel und Sie an, bat um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen, und so weiter, so daß Rebmann ganz erstaunt war, einen derart umgänglichen Häftling in Baader vorzufinden. Horst Bubeck, der dabeisaß, zitterte vor Ärger, weil ihm klar war, daß ihm niemand mehr glauben würde, wenn er wahrheitsgemäß vom täglichen Umgang der RAF-Häftlinge mit Vollzugsbeamten berichten würde.

Der Komplex Stammheim erscheint im Bericht von Horst Bubeck als ein widerspruchsvolles Gebilde: von außen durch eine Hundertschaft Polizei gesichert, mit Mehrfachschlössern und Überwachungskameras versehen - im Inneren aber - in Beantwortung zahlreicher Proteste und Reklamationen der Anwälte und nachgiebiger Behörden - ein mit immer neuen Privilegien ausgestattetes "Heim", das zuletzt Baader so gut gefiel, daß er wütend auf die Ankündigung reagierte, nach dem Urteil werde er die U-Haftanstalt verlassen müssen.

Die von Baader intendierte Strategie zielte einmal auf Konzentration weiterer RAF-Häftling in Stammheim, um den Aufenthalt zu verlängern, zugleich aber auch auf Vorbereitung der Abreise nach Freipressung, über deren Modalitäten er zuletzt mit einem Ministerialdirigenten aus dem Kanzleramt diskutierte. Bubeck nimmt an, daß Baader den ursprünglich als Gesprächspartner geforderten Staatssekretär mit Hilfe der bereits in seine Zelle geschmuggelten Waffe als Geisel genommen hätte, um auf diese Weise freizukommen. Ein Ministerialdirigent wäre wohl nicht wichtig genug gewesen, um diesen Zweck zu erreichen. Für diese Vermutung sprach - nach Bubecks Eindruck - die Tatsache, daß Baader, nachdem er erfahren hatte, daß der Staatssekretär nicht selbst gekommen war, noch einmal in die Zelle zurückgekehrt war, angeblich, um die Toilette zu benützen, in Wahrheit aber, um die nicht benötigte Pistole zu verstecken. Auch über bislang unbekannte Maßnahmen zur Inszenierung des kollektiven Suizids als angeblicher Mord kann Bubeck berichten.

Das Buch von Kurt Oesterle stellt einen wertvollen Beitrag zur Entmythologisierung der RAF dar. Die vier Hauptangeklagten der ersten Generation erscheinen in seinem gelassen gezeichneten Bild als menschenverachtende, an ihrem verlogenen Image als revolutionäre Helden interessierte skrupellose Menschen, die auf den redlich um rechtsstaatliche Korrektheit bemühten Vollzugsbeamten hochmütig herabblickten. In Wahrheit waren aber Horst Bubeck und seine Mitarbeiter im siebten Stock der Vollzugsanstalt Stammheim die eigentlichen Helden des Dramas, das sich dort abgespielt hat.

IRING FETSCHER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen "wertvollen Beitrag zur Entmythologisierung der RAF" erblickt Rezensent Iring Fetscher in Kurt Oesterles Buch über Haftbedingungen der RAF-Angehörigen in Stammheim aus der Sicht des Vollzugsbeamten Horst Bubeck. Auf der Grundlage ausführlicher Berichte Bubecks widerlege Oesterle den von Anwälten, Angehörigen und Sympathisanten genährten Mythos von unmenschlichen Haftbedingungen, Isolationshaft und -folter in Stammheim. In Wirklichkeit waren die Haftbedingungen "ganz ungewöhnlich gut", stellt Fetscher klar: So konnten Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe in ihren Zellen Fernsehgeräte, Plattenspieler und Radios aufstellen, wurden während acht Stunden in den Gängen vor ihren Zellen zusammengeführt, bezogen mehrere Zeitungen und Zeitschriften sowie - nach ihrem Hungerstreik - zusätzliche Nahrungsmittel. Er berichtet ferner vom "rüpelhaften" Umgang der Häftlinge mit den Vollzugsbeamten, ihrer internen Hackordnung und dem Theater, das Baader beim Besuch Jean-Paul Sartres und des Generalbundesanwalts Kurt Rebmann aufführte. Nicht Baader und Co., sondern Bubeck und seine Mitarbeiter in Stammheim erscheinen Fetscher nach der Lektüre als die "eigentlichen Helden des Dramas, das sich dort abgespielt hat".

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