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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • 1996.
  • Seitenzahl: 742
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 1938g
  • ISBN-13: 9783421031143
  • ISBN-10: 3421031142
  • Artikelnr.: 06281008
Autorenporträt
Gert Kähler, geboren 1942 in Hamburg, Studium der Architektur in Berlin, Tätigkeit in verschiedenen Architekturbüros. Promotion 1981; Habilitation 1985. Gastprofessuren in Braunschweig und Berlin. Seit 1988 Tätigkeit als freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Baugeschichte des 20. Jahrhunderts und zur aktuellen Architektur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.1997

Eierkuchen nach Stoppuhr
Wie die Deutschen sich zwischen den Weltkriegen einrichteten - Auftakt einer Geschichte des Wohnens

"Jedes Glück hat einen kleinen Stich", untertreibt Kurt Tucholsky in jenem Gedicht, dessen büchmannreife Stelle den idealen Wohnort des zeitgenössischen Menschen beschreibt: zwischen Ostsee vorne und Friedrichstraße hinten. Tucholsky kannte eben noch nicht die Friedrichstraße in ihrem heutigen Zustand. Das Wohnglück der Deutschen zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg hatte nicht nur einen kleinen Stich. Es war geprägt von großen Erwartungen und ebensolchen Enttäuschungen. Die Weimarer Verfassung hatte die Wohnung für jedermann zum Staatsziel erklärt. Doch ungeachtet der Produktion von jährlich bis zu 320000 Wohnungen in der Weimarer Republik blieb Wohnungsnot ein jederzeit aktuelles Thema. Immer kosteten die Wohnungen mehr, als diejenigen, die sie am meisten benötigten, zahlen konnten. Auch das Dritte Reich versprach allen Volksgenossen eine gesunde Wohnung. Aber es sorgte dafür, daß sie am Ende fast keiner mehr hatte: Dreizehn Millionen Menschen waren am Kriegsende in Deutschland obdachlos.

Eine ausführliche, historische Darstellung des Wohnens hat es bisher nicht gegeben. Die von der Wüstenrot-Stiftung gesponserte, auf fünf Bände angelegte Enzyklopädie bewegt sich also auf Neuland. Einen kleinen Etikettenschwindel leistet sich das Unternehmen freilich gleich zu Anfang. Zumindest der vierte Band, dem Wohnen zwischen den Weltkriegen gewidmet und als erster erschienen, liefert keine Geschichte des Wohnens schlechthin, sondern eine Geschichte des Wohnens in Deutschland, mit Seitenblicken über die Grenzen. So hat auch dieses Glück einen kleinen Stich.

Neuzeitliches Wohnen ist, alles in allem, eine Geschichte der Entsagungen. Behaust werden mußte eine ständig wachsende Zahl von Menschen. Eine Baupolitik, die - wie in der Weimarer Republik - sich mit dem Problem der großen Zahl auseinandersetzte, hatte sich auf Verzichte einzulassen. Geopfert wurden die unwirtschaftliche Raumkubatur, die komplizierte Organisation des Hauses, das von der Geschichte überlieferte Repertoire an Formen und Erfahrungen, das jahrhundertealte Sachwissen, der Handwerkerstolz. "Wiederholen wir uns unablässig", mahnte Adolf Loos seine Zeitgenossen genau in dem Jahr, als der Erste Weltkrieg ausbrach.

Die Avantgarde hat aus der Notwendigkeit des Opfers die Tugend der Entsagung gewinnen wollen. Aus den Zwängen hat sie eine Ästhetik zu machen versucht. Die schlanke, kühle, technikbewußte Form war nicht nur Ergebnis, sondern auch Symbol veränderter Produktionsbedingungen und Marktbedürfnisse. Die Absage an Eigensinn und Individualismus galt als unvermeidbares Zugeständnis an die Massengesellschaft, die erzwungene Askese als Chance zur Selbstbefreiung. Abweichungen von der Norm waren Störfaktoren in der Organisation des modernen Lebens.

In puncto Selbstgerechtigkeit unterschieden sich die Eliten der Nachkriegsjahre nicht von denen der Vorkriegszeit. Sie wußten stets, was den anderen frommte. Der Herausgeber des vorliegenden Bandes, Gert Kähler, verweist auf das erstaunliche Faktum, daß die eingreifenden Änderungen im Wohnungsbau der zwanziger Jahre ohne Erhebungen und Umfragen zu den tatsächlichen Wohnbedürfnissen der Leute auskamen. Die Planer ließen sich ihre Präferenzen durch die möglicherweise anderslautenden Vorstellungen der Verplanten nicht stören. In der Frage Wohnküche oder gute Stube, bei der Alternative Hoch- oder Flachbau, bei der Wahl zwischen der kleinen, aber hochtechnisierten oder der größeren, aber einfach ausgestatteten Wohnung wären die Betroffenen möglicherweise zu anderen Urteilen gekommen.

Der neue Band ist das Produkt von acht Autoren, die sich das umfangreiche Thema je nach eigener Zuständigkeit geteilt haben. Angesichts der Stoffmenge leuchtet der Pluralismus der Darstellung zunächst ein. Aber bei der Lektüre des siebenhundert Seiten starken (durch kein Sachregister erschlossenen) Opus erweist sich doch der vermeintliche Vorzug als Nachteil. Es kommt zu oftmals verdrießlichen Überschneidungen. Lesezeit ist, wie Lebenszeit, begrenzte Zeit. Warum muß man dem Leser Gleiches und Ähnliches dreimal sagen?

So wird die Haushalts- und Küchenreform an vielen Stellen geschildert, wo sie doch in Kristiana Hartmanns Kapitel über Alltagskultur bündig beschrieben ist. Hinreichend wird deutlich, wie doppeldeutig das emanzipatorische Moment der Reformküche war. Das Kochlabor nahm der Hausfrau Arbeit ab und verlieh ihr das männliche Privileg, über einen Maschinenpark zu gebieten. Andererseits wurde die Herrin dieser durchrationalisierten Arbeitsstätte auch ein Opfer ihres taylorisierten Arbeitsplatzes, der ökonomisch berechneten Ganglinien, der genau terminierten Arbeitsvorgänge. Die Produktionszeit eines Eierkuchens war festgelegt wie die Montage eines Ventils auf Henry Fords Fließbändern. Knapp berechnet, wie die Reformküche war, trennte sie die Frau von der Familie. Sie ließ keinen weiteren Partner auf den wenigen Quadratmetern zu und war zudem in den Abmessungen der Einrichtung auf die Körpermaße von Frauen, nicht von Männern angelegt.

Die prägnantesten Schilderungen des Buches liefert der Herausgeber, Gert Kähler. Schließlich hat er sich auch das (neben dem Kapitel über die Rechtsgrundlagen der Boden- und Wohnungspolitik) prägnanteste Sujet vorbehalten, die Architektur und Planung des Wohnens. Sein buchstarkes Kapitel nutzt der Autor nicht zuletzt, um verbreitete Vorurteile aufzulösen. Radikal typologisches Denken war nicht nur bei den konsequent Modernen vertreten, deren Anteil am Wohnungsbau der zwanziger Jahre Kähler auf allenfalls fünf bis zehn Prozent veranschlagt, sondern auch auf der gutbürgerlichen Seite. Regional waren die Modernen nicht auf den Norden, die Konservativen nicht auf den Süden beschränkt. Es gab Tendenzen, Neigungen, Dispositionen, nicht mehr. Durchwachsene Situationen allenthalben.

Die Lesbarkeit des Buches ist unterschiedlich geraten. Einige Autoren beherrschen eine geradezu journalistische Schlagfertigkeit. Andere arbeiten mit einem Wissenschaftsjargon, der wie die Parodie seiner selbst wirkt. Täte es nicht auch der "Bierabend" statt der "alkoholgestützten Geselligkeitsform" oder der "Spaß am Auto" statt der "dem Automobil eingebundenen Begeisterungspotentiale"? Eine Wohltat jedenfalls ist es, ein Buch über das Wohnen ohne das allfällige Heidegger-Zitat in Händen zu halten.

Als eine allumfassende Grundtätigkeit des Menschen wird das Wohnen auch hier - und mit Recht - aufgefaßt. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Reusen so weit ausgelegt, daß ihnen sogar die Entwicklung des Füllfederhalters, die Institution des Reichskunstwarts oder die Funktion der bunten Abende im Freizeitangebot des Dritten Reiches ins Netz geht. Stellenweise fühlt man sich an jene drei magistralen Bände von Jonas Geist und Klaus Kürvers erinnert, die in ihrer überbordenden Fülle weit mehr sind, als ihr Titel verheißt, nämlich nicht nur Studien zum Berliner Miethaus, sondern eine Kulturgeschichte ihrer Zeit. Merkwürdigerweise sind gerade diese Fundgruben von keinem der acht Verfasser in ihre jeweiligen Verzeichnisse "weiterführender Literatur" aufgenommen worden.

Viel erfährt man über die sozial definierte Wohnung, das Wohnen des gehobenen Bürgertums, das mittelständische, das proletarische Wohnen, wenig dagegen über die Orte, die den altersspezifischen Bevölkerungsgruppen zugewiesen werden: Kindergärten, Schulen, Ledigenheime, Hospitäler, Altersheime. Segregation ist ein Vorgang, der die Epoche durchzieht und nicht mit ihr endet. Er hängt auch mit der zunehmenden Autonomie der Wohnung zusammen. So haben allein die Veränderungen in der Vorratshaltung (Eisschrank, Kühlschrank), der Speisezubereitung (Gas- und Elektroherd, Kochkiste), der Mobilität (Schienenverkehr, Autobus, Auto), der Fernkommunikation (Telefon, Radio und die Anfänge des Fernsehens) die Wohnung aus dem eng verwobenen Kontext der Nachbarschaft gelöst.

Unbeschadet der reichen Fracht verbaler Informationen, die in den verschiedenen Kapiteln transportiert werden, erweist sich das Bild als ebenso auskunftsfreudiger Informant wie das Wort. Pressefotos, Plakate, Flugblätter, Inserate, Buchillustrationen, Zeitungsausschnitte, Grundrisse, Standfotos aus Filmen, Wohnfibeln, Propaganda schließen sich in diesem Buch zu einem Film zusammen, der die Epoche transparent macht: ihr soziales Elend, ihre tapferen Reformversuche, ihre Besessenheit von Hygiene, pädagogischem Eifer und politischer Umerziehung, ihre Hinterhöfe, Sportplätze und Aufmarschfelder, ihre Wäscheleinen und Stacheldrahtzäune, und am Ende: die Ruinen. WOLFGANG PEHNT

Gert Kähler (Hrsg.): "Geschichte des Wohnens". Band 4. 1918 bis 1945. Reform, Reaktion, Zerstörung. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 742 S., 800 Abb., geb., bei Subskription aller fünf Bände je 98,- Mark, danach und als einzelner Band 128,- Mark.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ein über zehn Kilo schweres Werk im "Lexikonformat", das in seinem chronologischen Aufbau Geschichte und Geschichten, Illustrationen aller Art, selbst thematisch passende Gedichte, Fußnoten (an den Rand gestellt, d.h. gut lesbar) und schließlich lange Listen für weiterführende Literatur enthält, schreibt Manfred Sack. Er lobt besonders die Bände 4 (1996 als erster erschienen) und 5 als "mit gut geschriebenen Aufsätzen" bestückt, moniert aber vor allem Band 1, dessen Autoren allzu detailliert von der Frühgeschichte bis zur Antike noch über "die letzte Tonscherbe" Auskunft geben, das Wesentliche jedoch aus dem Auge verlieren. Überrascht haben den Rezensenten, dass jeder behandelte Zeitabschnitt wieder mit Überraschungen aufwarten kann, ob es um städtebauliche Details wie Lagerhäuser und Kanalisationssysteme geht oder um soziale Themen wie Gewerbefreiheit und Wohnungsnot. Sack meint, der hohe Anspruch und die Beharrlichkeit, mit denen die Wüstenrot Stiftung sich für das Projekt engagiert hat, habe eine "außerordentliche kollektive Leistung" hervorgebracht, die auch einige Wermutstropfen vertragen kann, so wie die Ungereimtheit, dass Band 1 in die Ferne bis zum Nil schweifen darf, während ab Band 2 nur das Wohnen "hierzulande" thematisiert ist.

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