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Der "Historikerstreit" der Jahre 1986-1988 gilt als wegweisende Debatte um das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik. Wieso eigentlich? In seinem Buch geht Gerrit Dworok dieser Frage nach und ordnet den Konflikt in die bundesdeutsche Geschichte ein. Dabei verfolgt er ausgehend von den entscheidenden Streitbeiträgen die westdeutsche Suche nach kollektiver Identität, den Prozess der Verortung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen sowie die Konkurrenz linksliberaler und liberalkonservativer Kräfte um die macht- und kulturpolitische Deutungshoheit in Westdeutschland bis…mehr

Produktbeschreibung
Der "Historikerstreit" der Jahre 1986-1988 gilt als wegweisende Debatte um das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik. Wieso eigentlich? In seinem Buch geht Gerrit Dworok dieser Frage nach und ordnet den Konflikt in die bundesdeutsche Geschichte ein. Dabei verfolgt er ausgehend von den entscheidenden Streitbeiträgen die westdeutsche Suche nach kollektiver Identität, den Prozess der Verortung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen sowie die Konkurrenz linksliberaler und liberalkonservativer Kräfte um die macht- und kulturpolitische Deutungshoheit in Westdeutschland bis in die Entstehungszeit der Bundesrepublik zurück, um die vielfältigen Ursprünge des Konflikts offenzulegen. Es gelingt ihm so, den "Historikerstreit" als Schlüsselmoment bundesdeutscher Nationswerdung neu zu deuten.
Autorenporträt
Gerrit Dworok ist Lehrkraft für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2016

Studierte Ekel Alfred in Köln Geschichte?
Politische Grabenkämpfe: Gerrit Dworok beleuchtet den Historikerstreit von 1986

Streiten gehört für Historiker zum Geschäft. Nicht immer und in allen Lebenslagen - aber wenn es etwa darum geht, Geschichtsklitterungen aufzudecken oder das Vetorecht der Quellen geltend zu machen, dann ist auch die Kontroverse erlaubt. Mit ein wenig Glück bringt sie die erhoffte Klärung und, nachdem der Pulverdampf der Polemik verraucht ist, vielleicht auch neue Erkenntnis. Was auf die eine oder andere Auseinandersetzung zutreffen mag, gilt für den bis heute vielzitierten Historikerstreit nicht. Zu Recht gilt dieser Streit, der von 1986 bis 1988 in den deutschen Feuilletons tobte, als eine der bedeutendsten Debatten der Nachkriegszeit. Sein wissenschaftlicher Ertrag blieb indes recht überschaubar. Gewiss: Vordergründig ging es beim Historikerstreit um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Doch war bereits den Beteiligten bewusst, dass die Debatte nicht um Detailprobleme kreiste, sondern um das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik.

Der Frage, worin die besondere Bedeutung dieses Streits lag, an dem sich keineswegs nur Historiker beteiligten, geht Gerrit Dworok nach. Eine erste Antwort legt bereits der Titel der Arbeit nahe, der unmissverständlich auf den Prozess der "Nationswerdung" verweist. Damit öffnet Dworok ein Fass, das in der Bundesrepublik bis in die Ära Kohl hinein unter Verschluss gehalten wurde. Wer von einer deutschen Nation sprach und noch dazu an der Idee einer Wiedervereinigung festhielt, galt schnell als Ewiggestriger. Heinrich August Winkler etwa betrachtete die deutsche Teilung als logische Konsequenz des deutschen Großmachtstrebens; Jürgen Habermas pries die Bundesrepublik als Musterbeispiel einer postnationalen Demokratie.

Wer hingegen von einer "geistig-moralischen Wende" sprach und sich für die beiden großen Prestigeprojekte Helmut Kohls, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sowie das Deutsche Historische Museum in Berlin, einsetzte, geriet alsbald in den Ruf, die Bundesrepublik mit Hilfe einer revisionistischen Geschichtspolitik neu begründen zu wollen. Und war es nicht tatsächlich Michael Stürmer, ein Historiker aus dem Umfeld des Kanzlers, der die Formel prägte, in einem "geschichtslosen Land" werde derjenige die Zukunft gewinnen, "der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet"? Jürgen Habermas, ein erklärter Verfechter des herrschaftsfreien Diskurses, hantierte in dieser unübersichtlichen Situation herrschaftlich mit der Heuristik des Verdachts. Eine Clique "neokonservativer" Historiker, zu der er neben Michael Stürmer auch Ernst Nolte, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand rechnete, so Habermas am 11. Juli 1986 in der "Zeit", plane gewissermaßen die intellektuelle Konterrevolution. Die Anatomie der Debatte, die daraufhin - nicht frei von persönlichen Gehässigkeiten - begann, ist hinlänglich bekannt. Umso bedenkenswerter ist Dworoks Ansatz, sie in übergreifende Themenbereiche einzuordnen.

Zum einen, so Dworok, lässt sich der Historikerstreit als Versuch verstehen, den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte abschließend zu bestimmen. Ernst Noltes umstrittene These von einem kausalen Nexus zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus erwies sich - nicht wissenschaftlich, wohl aber geschichtspolitisch - als eine Steilvorlage für alle, die mit Hans Mommsen davor warnten, "das Menetekel der nationalsozialistischen Verbrechen" leichtfertig in den Wind zu schlagen. Wen kümmerte es, dass das Verdikt mit Hillgruber und Hildebrand zwei überaus verdiente Historiker traf, die zu den besten Kennern der NS-Herrschaft überhaupt gehörten? Erst mit dem Historikerstreit, so Dworok, avancierte die kritische Erinnerung an die Schoa zur ersten Bürgerpflicht.

Zum anderen ordnet die Studie den Historikerstreit überzeugend in die Grabenkämpfe zwischen Linksliberalen und Liberalkonservativen ein. Dass 1986 in den Auseinandersetzungen alte Konfliktlinien sichtbar wurden, vermag Dworok eindrucksvoll am Beispiel des Kölner Neuzeithistorikers Hillgruber zu zeigen. Aus den "Störungsakten" im Kölner Universitätsarchiv rekonstruiert der Autor penibel genau, mit welchem Elan marxistische Kampfgruppen Anfang der siebziger Jahre darangingen, Hillgrubers Vorlesungen zu sprengen. Man könne es, so die Botschaft eines Flugblatts, schlechterdings "nicht zulassen, dass es Hillgruber gelingt, den Hörern durch seine Verschleierungspraktik einen großkapitalistischen Standpunkt . . . einzuimpfen". Als sich der Geschmähte im März 1973 an den nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau wandte, um in Erfahrung zu bringen, ob es ihm zuzumuten sei, "unter diesem Psychoterror" seine Lehrtätigkeit auszuüben, stieß er auf taube Ohren. Stattdessen sah er sich dreizehn Jahre später - nun nicht mehr allein von studentischer Seite - massiven Anfeindungen ausgesetzt. Habermas, Ankläger und Richter zugleich, erhob den Vorwurf revisionistischer Tendenzen, und Micha Brumlik sprach vom "Niedergang deutscher Geschichtswissenschaft auf das Niveau von Landserheftchen".

Warum so viel Polemik, warum so viele Verletzungen? Wohl nicht zuletzt deshalb, weil es hüben wie drüben um Macht und Einfluss ging, wohl auch um Geld und Stellen. Es war ja auch keineswegs so, als habe erst Michael Stürmer die Bedeutung der Geschichte für die Stiftung kollektiver Identitäten entdeckt. Bereits im Februar 1982 war die Historische Kommission beim Bundesvorstand der SPD ins Leben gerufen worden, und es waren vor allem SPD-nahe Historiker, die wie selbstverständlich davon ausgingen, ein Monopol zu besitzen, um die Erinnerung zu füllen, die Begriffe zu prägen und die Vergangenheit zu deuten. Durch den Sieg Helmut Kohls bei der Bundestagswahl 1983 fühlten sie sich verraten und verkauft.

Geradezu entsetzt berichtete etwa der Kölner Historiker Gerhard Brunn am 23. Dezember 1984 Susanne Miller, der Vorsitzenden der Historischen Kommission beim SPD-Bundesvorstand, voraussichtlich werde sein Kollege Reiner Pommerin mit der Koordinierung für das geplante Haus der Geschichte betraut. Der Flurfunk in Köln funktionierte. Pommerin, so Brunn, sei "ein Schüler von Herrn Hillgruber", stehe "politisch weit rechts" und sei zudem ein "begeisterter Soldat - Staffelführer bei der Luftwaffe". Kurzum: Die "rechte Mafia besitzt in ihm einen Vertrauensmann, auf den sie sich . . . verlassen kann." Nicht zu erfahren ist bei Dworok, dass Brunns Ehefrau 1985 für dreizehn lange Jahre das Amt der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin übernahm und Brunn selbst 1990, im Alter von 51 Jahren, auf eine Jean-Monnet-Professur für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Siegen gelangte. Hier schweigt des Sängers Höflichkeit.

In einem Zeitungsinterview räumte Hans-Ulrich Wehler 2006 ein, die Angst vor einem neokonservativen Rollback sei während des Historikerstreits vielleicht doch übertrieben gewesen - um nonchalant hinzuzufügen, gleichwohl sei es wichtig gewesen, "Flagge zu zeigen". Hauptsache, die Gesinnung stimmt? Oder war der Historikerstreit gar nur eine böse Farce? Ins Personenregister dieses lesenswerten Buchs hat sich Alfred Tetzlaff hineingeschmuggelt, dem Fernsehpublikum seit 1973 als "Ekel Alfred" bekannt. "Ein Herz und eine Seele", so hieß die vom WDR produzierte Serie. Ein treffenderer Titel ließe sich auch für Habermas und seine Mitstreiter wohl kaum finden. Blickt man heute, im Abstand von dreißig Jahren auf die verschiedenen Szenen des Historikerstreits zurück, so meint man mitunter, auch dieses Drehbuch stamme von Wolfgang Menge.

CARSTEN KRETSCHMANN

Gerrit Dworok: "Historikerstreit" und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts. Böhlau Verlag, Köln 2015. 528 S., 50,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Stuttgarter Historiker Carsten Kretschmann ist laut Autorenbio im Perletnaucher erst 1974 geboren, aber seine Rezension dieser Studie zum Historikerstreit klingt so, als hätte Habermas ihn damals persönlich angedetscht. Gut und böse ist in dieser Rezensions jedenfalls klar verteilt: Habermas habe eine "Heuristik des Verdachts" betrieben, Netzwerke SPD-naher Historiker schossen konservative Positionen sturmreif, und die "kritische Erinnerung an die Schoa (avancierte) zur ersten Bürgerpflicht". Schlimme Zeiten müssen das gewesen sein! Das Buch jedenfalls preist Kretschmann als lesenwert. Besonders lobt er Dworoks Idee, den Streit in "übergreifende Themenbereiche" zu gliedern. Heraus kommt für Kretschmann, dass es weniger um wissenschaftliche Fragen als "um das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik" ging. Kretschmann erinnert in seiner Rezension nicht daran, dass die FAZ in dem Streit Partei auf jener Seite war, die er heute verteidigt.

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