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Krankheit und Krankheitsängste gehörten zum frühneuzeitlichen Alltag. Die Menschen sahen ihre Gesundheit allenthalben bedroht, und ihre Hoffnungen auf die Heilkünste der Medizin erwiesen sich oft als trügerisch. Michael Stolberg rekonstruiert aus zeitgenössischen Biografien und Briefen, die Kranke und ihre Angehörigen an Ärzte richteten, wie die Menschen im Alltag mit Krankheit und Schmerzen umgingen, wie sie sich bemühten, dem Leiden aus dem Glauben oder der eigenen Lebensgeschichte heraus einen persönlichen Sinn zu verleihen und wie sie Hilfe bei den verschiedensten Heilern suchten. Der…mehr

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Produktbeschreibung
Krankheit und Krankheitsängste gehörten zum frühneuzeitlichen Alltag. Die Menschen sahen ihre Gesundheit allenthalben bedroht, und ihre Hoffnungen auf die Heilkünste der Medizin erwiesen sich oft als trügerisch. Michael Stolberg rekonstruiert aus zeitgenössischen Biografien und Briefen, die Kranke und ihre Angehörigen an Ärzte richteten, wie die Menschen im Alltag mit Krankheit und Schmerzen umgingen, wie sie sich bemühten, dem Leiden aus dem Glauben oder der eigenen Lebensgeschichte heraus einen persönlichen Sinn zu verleihen und wie sie Hilfe bei den verschiedensten Heilern suchten. Der Autor erläutert anschaulich die Vorstellungen der Menschen von den Ursachen und den körperlichen Abläufen, die sich mit Diagnosen wie Schwindsucht, Gicht oder Krebs verbanden. Ein uns fremd gewordenes Krankheits- und Körperverständnis tritt hier zu Tage, welches sich nicht nur auf die bloße Vorstellung eines Gleichgewichts der Säfte reduzieren lässt. Insbesondere die Vorstellungen von trüben Dünsten und Dämpfen im Körper prägten das Krankheitsverständnis, ja schon das Beschwerdebild.
Autorenporträt
Stolberg, Michael§1977-1984 Medizinstudium in München, 1985-87 ärztliche Tätigkeit an Münchener Krankenhäusern, 1986 Promotion zum Dr. med. (summa-cum-laude-Dissertation zu Schulmedizin und Volksmedizin im Bayern des frühen 19. Jahrhunderts)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2004

Nur nicht die Nerven verlieren!
Michael Stolberg lauscht den Patienten der Frühen Neuzeit
„In der That trieb ich es zu weit, und habe mir endlich durch Unmäßigkeit im Studium seit drei Jahren eine Nervenschwäche zugezogen, die mich zu aller gelehrten Beschäftigung schlechterdings unfähig macht”, schrieb im März 1774 der jüdische Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786) an den Bibliothekar Johann Jacob Spieß (1730-1814). Die Diagnose „Nervenschwäche” würde heute kein Schulmediziner mehr stellen, wenn es auch weiterhin Medikamente gegen dieses Symptom gibt, die fast alle dem Bereich der Naturmedizin entstammen.
Im 18. Jahrhundert war es dagegen bei Ärzten wie Laien üblich, eine Vielzahl von Krankheitserscheinungen auf die Nerven zurückzuführen. Wie der Münchner Medizinhistoriker Michael Stolberg in einer faszinierenden Studie zur Geschichte der Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit nachweist, handelt es sich bei der damaligen „Modekrankheit” um ein eindrucksvolles Beispiel für den starken Einfluss der Kultur auf die Ausbildung und Prägung bestimmter Krankheitsphänomene.
Dass gerade im 18. Jahrhundert die „Nerven” zum erkenntnisleitenden Modell in der Medizin wurden, hat zum Teil wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Erinnert sei etwa an die bahnbrechenden Versuche, die der Göttinger Arzt Albrecht von Haller (1708-1777) durchführte. Als er nach jahrelangen Experimenten 1753 die Reizbarkeit und Sensibilität von Muskel- und Nervenfasern entdeckte, war er davon überzeugt, die Grundkräfte des Lebendigen gefunden zu haben. Hallers Irritabilitätslehre bildete die Grundlage für ein vitalistisches Verständnis der Vorgänge im menschlichen Körper. „Dank ihrer besonderen vitalen Vermögen”, so Stolberg, „gewannen gerade die Nervenfasern paradigmatischen Wert für eine neue ärztliche Sichtweise des Körpers insgesamt, die gegen mechanistische Deutungen die spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten des lebenden Organismus hervorhebt.”
Doch das neue Konzept der Nervenleiden setzte sich nicht überall durch. Während die Oberschicht und insbesondere die Gebildeten dieses Erklärungsmuster sofort auf ihre Krankheits- und Körpererfahrung übertrugen, hielten sich in der Landbevölkerung traditionelle Vorstellungen von aufsteigenden Dämpfen („vapeurs”) und Krankheitsdämonen. Krankheit wurde somit weiterhin als etwas Fremdes, das dem Körper von Außen zustößt, gesehen, während das neue Konzept der Nervenleiden die Krankheit in der Körpersubstanz verortete, in diesem Fall in den empfindlichsten Teilen des menschlichen Körpers.
Die Langeweile der Frauen
Stolberg beschreibt nicht nur historische Phänomene, die für eine Geschichte des Patienten von zentraler Bedeutung sind, er versucht sie auch zu erklären. So deutet er den „Aufstieg der Nerven” im 18. Jahrhundert als Resultat eines in der Gesellschaft weit verbreiteten Gefühls der Langeweile („ennui”), von dem insbesondere die Frauen (die zu jener Zeit die Mehrzahl der „Nervenkranken” stellten) betroffen gewesen seien. Doch greift dieser Erklärungsansatz ein wenig zu kurz, zumal auch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Männern gegen Ende des Ancien Regimes an „Nervenschwäche” litt. Man wird daher wohl eher von einem „Leiden an der Gesellschaft” sprechen können, wie es der Soziologe Hans Peter Dreitzel in einer Studie zur Pathologie des Rollenverhaltens in der Gegenwartsgesellschaft nennt.
Stolbergs Buch unterscheidet sich von anderen Versuchen der Körpergeschichte nicht nur durch seinen vermittelnden Ansatz, der zwar von einer kulturellen und historischen Kontextgebundenheit von Krankheitserfahrungen ausgeht, die ausschließliche Konzentration auf das konstruktive Element in der Erfahrung und Deutung des Körpers aber ablehnt. Es besticht vor allem durch seine dichte Information aus „erster Hand”, und das sind nun einmal Patientenbriefe. Stolberg hat nicht nur gedruckte Korrespondenzen aus drei Jahrhunderten auf Beschreibungen von Krankheits- und Körpererfahrung hin durchgesehen, sondern auch Tausende von Patientenbriefen aus den unterschiedlichsten Archiven in Europa erstmals ausgewertet.
Stolberg interessiert sich nicht nur für die Inhalte dieser Quellen (Formen der Krankheitsbewältigung, Deutungsschemata usw.), sondern auch für die narrativen Strategien solcher Krankengeschichten. Dazu gehört z. B. das Erzählmodell, Krankheit als traumatische Erfahrung im Lebensverlauf zu schildern und dadurch erklärbar zu machen. An einer Fülle von Beispielen wird darüber hinaus gezeigt, wie ähnlich sich bis ins 18. Jahrhundert medizinische Vorstellungen von Laien und Ärzten waren: Das Spektrum reicht von Erklärungsmustern wie „Temperament” über „Schärfen”, die im Körper Schaden anrichten, bis hin zu „Miasmen”, die man für den Ausbruch von Seuchen verantwortlich machte.
Stolbergs Buch ist ein Meilenstein in der deutschsprachigen Medizingeschichtsschreibung, die nun endlich den „Patienten” entdeckt zu haben scheint. Im Unterschied zu Heinrich Schipperges’ Buch, das 1985 unter demselben Obertitel erschien, ist hier vom realen „homo patiens” die Rede – wenn das kein Fortschritt ist!
ROBERT JÜTTE
MICHAEL STOLBERG: Homo Patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2003. 303 Seiten, 24,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Historiker Michael Stolberg betreibt Medizingeschichte von unten, erklärt der rox. zeichnende Rezensent. Ausgewertet hat Stolberg nämlich Dokumente - Briefe und Biografien - aus den Jahren 1550 bis 1850, in denen Leidende über ihr Leiden sprechen. Was sich dabei zeigt: Sie tun es keinesfalls unbeeinflusst von den kursierenden medizinischen Theorien ihrer Zeit. Die Blutfülle, eine Diagnose, die heute keiner mehr stellt, haben lange Zeit viele am eigenen Leib zu erfahren geglaubt. Daraus folgt: Auch das eigene Erleben kann nicht unabhängig bleiben vom "kulturellen Kontext". Dem hat der Rezensent nichts hinzuzufügen.

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