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Namhafte Philosophiehistoriker stellen die Entwicklung des abendländischen Denkens durch alle Epochen bis zur Gegenwart einführend und allgemeinverständlich dar.

Produktbeschreibung
Namhafte Philosophiehistoriker stellen die Entwicklung des abendländischen Denkens durch alle Epochen bis zur Gegenwart einführend und allgemeinverständlich dar.
Autorenporträt
Volker Gerhardt wurde 1944 geboren. Er promovierte 1974 und habilitierte 1984. 1985 war er Professor für Philosophie in Münster, 1986 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Zürich, von 1988 bis 1992 war er Leiter des Instituts für Philosophie an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Seit Oktober 1992 ist er Professur für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, leitet den DFG-Beirat zur Förderinitiative Bioethik und gehört dem Nationalen Ethikrat an. 1999 hat er mit der Selbstbestimmung eine lebenswissenschaftlich fundierte Begründung der Ethik vorgelegt, der 2001 mit der Individualität die Skizze eines neuen Systems der menschlichen Welterfahrung folgte.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Uwe Justus Wenzel ist entschieden unterwältigt von diesem "stark ins Kraut geschossenen" Versuch des Berliner Philosophieprofessors Volker Gerhardt, Öffentlichkeit als politisches Bewusstsein und "kosmopolitischen Fluchtpunkt" des menschlichen Bewusstseins zu denken. So wähnt Wenzel hier die Möglichkeit einer Binse im Argen oder aber der Gedanke wurde einfach nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit gewälzt: Bewusstsein als etwas, das für den Einzelnen für sich zu beanspruchen so immanent wichtig ist, ihm aber eben nur zum Teil gehört, da es in ein übergeordnetes Bewusstsein aufgehe, könne doch nur der für einen Skandal halten, der sich nicht vor Augen hält, dass auch die Sprache, derer sich der einzelne bedient, eben nie die seinige im Sinne einer Besitzanzeige ist, doziert Wenzel. Zwar biete das Buch im einzelnen Kapitel, die für sich genommen ohne weiteres bestehen, doch ächzt der Rezensent zuweilen auch unter den sich häufenden Wiederholungen im somit teilweise recht redundanten Buch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2013

Freischwimmen
vom Körper
Volker Gerhardt wagt eine große Theorie derKultur
Die westlichen Demokratien haben über Jahrhunderte hinweg die Garantie der Öffentlichkeit als Grundbedingung einer freiheitlichen Politik mühsam erringen müssen. Dieser historische Erfolg darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass praktizierte Meinungsfreiheit in einem großen Teil der politischen Welt bis heute keine Selbstverständlichkeit ist. Nun hat der Berliner Philosoph Volker Gerhardt einen umfassenden Versuch zu einer systematischen Erfassung der gesellschaftlichen Funktion der Öffentlichkeit vorgelegt. Seine weit ausgreifenden Beobachtungen und Reflexionen münden in die politische Forderung, eine „Grundsicherung“ der Öffentlichkeit zu gewährleisten und sie als Prinzip der Politik verbindlich zu machen.
  Wichtiger als der politische Befund ist das philosophische Problem, das sich dahinter zeigt. Volker Gerhardt nennt es das Problem der „Vergeistigung“. Mit diesem Bekenntnis schwimmt er sich von der auf der Woge des Zeitgeschmacks treibenden Gegenwartsphilosophie frei, die ihr Heil in der „Verkörperung“ sucht. Der Geist ist der Fluchtpunkt des monumentalen Gemäldes, dem der Autor den Titel der Öffentlichkeit verliehen hat. Unter den Händen des Philosophen erweitert sich das Problem der Öffentlichkeit zum Problem der menschlichen Zivilisation. Mehr noch, Gerhardt steuert auf eine umfassende Theorie der Evolution und Logik der menschlichen Kultur zu. Als Ausgangspunkt für dieses große Unternehmen dient die Einsicht, „dass der Mensch sich als Mensch schon deshalb als ein öffentliches Wesen begreifen muss, weil bereits die Funktion seines Bewusstseins öffentlich ist“.
  Volker Gerhardt – unter anderem Kant-Forscher und selbst gerne Mitstreiter in öffentlichen Debatten – gehört zu jenen Philosophen, die mit einem erfrischenden Selbstbewusstsein hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Vernunft zu Werke gehen. Systematischer Zweifel gehört nicht zu seinem Programm. Sein Vorgehen beschreibt er als einen „epistemischen Individualismus“, der sich der Methode der Selbstbeobachtung bediene. Dank diesem Verfahren können rasch die entscheidenden Schneisen in das philosophische Dickicht geschlagen werden. So scheint klar, dass man über das Verhältnis von Geist und Natur heute „nicht viel Worte zu verlieren“ brauche.
  Die klare Positionierung ermöglicht eine eindeutige Standortbestimmung in den aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Jürgen Habermas sei das „besondere Verdienst“ zuzuerkennen, mit seiner Studie zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ „die am besten widerlegte Habilitationsschrift der deutschen Wissenschaftsgeschichte“ verfasst zu haben. Dessen späteres Konzept einer „deliberativen Öffentlichkeit“ trifft eine in der Sache empfindlichere Kritik. Wer die öffentliche Verständigung auf die Beachtung vorab formulierter diskursiver Grundregeln verpflichten wolle, so Volker Gerhardt, der würge die notwendige „Offenheit des Anfangs“ im Interesse einer fiktiven Emanzipation ab. Im Gegensatz zu Jürgen Habermas’ Position, bei dem „man praktisch-politisch einen Fall von verdeckter Parteilichkeit“ vorliegen habe, entstehe Öffentlichkeit ganz von selbst und trete wie eine „Naturtatsache“ auf.
  Das Grundmotiv von Gerhardts kultureller Systematik erschließt sich in der „These von der konstitutiven Extroversion des Bewußtseins“. Damit soll gesagt sein, dass das individuelle Bewusstsein nicht in die Kammer der Subjektivität eingeschlossen ist, sondern diese vielmehr verlassen muss, wenn es etwas als ein bestimmtes Etwas begreifen und zum Sachgehalt einer Mitteilung an andere machen möchte. Das Bewusstsein, so Gerhardt, lebe von seiner „soziomorphen Sachhaltigkeit“. Alles, worüber man sich verständigen kann, sei prinzipiell allen zugänglich und könne von allen überprüft werden. Diese sachhaltige Allgemeinheit mache das Bewusstsein zum kleinsten denkbaren „Modell politischer Öffentlichkeit“. Aus dieser Einsicht leitet Gerhardt vieles ab: das bewusstseinsbasierte Modell politischer Öffentlichkeit soll den gesamten Bereich menschlicher Lebenswirklichkeit bis hin zur „Organisation der Welt“ erklären.
  Tatsächlich bezeichnet Gerhardt das Bewusstsein als „soziales Organ“. Das ist kein Kokettieren mit physiologischen Begriffen, sondern ein Hinweis auf die Grundstruktur seines Evolutionsmodells der menschlichen Kultur. Die Grenze zwischen Mensch, Tier und Pflanze – ob es sie gibt, lässt Gerhardt offen – ist dabei fließend. „Technik“ sei keine menschliche Errungenschaft, sondern alles, was das Leben ermöglicht. Beim Menschen erreiche sie dadurch eine neue Qualität, dass sie sich von den körperlichen Funktionen ablöse und in separierten Objekten hervortrete. In diesen technischen Erzeugnissen vermutet Gerhardt „die Ursprungsleistungen der menschlichen Kultur“. An der „technischen Extroversion der Natur“ arbeite sich das Selbstbewusstsein des Individuums hervor und trete in eine kulturelle Evolution ein, „die wesentlich eine Entwicklung von Technik durch Technik ist“. Hinsichtlich des Bewusstseins entwickelt Gerhardt die einzelnen Schritte in einer ausgreifenden Funktionsanalyse, die nichts auslässt, was die Philosophen seit Jahrhunderten in Streit und Verzweiflung getrieben hat: Wachsein, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erkennen, Wissen, Verstehen, Vorstellen, Schließen, Begründen, Beurteilen, Handeln, selbst noch das Fühlen wird in seiner Evolution und Logik beschrieben. Zielpunkt aber ist die Trias von Bewusstsein, von Vernunft und schließlich dem Geist, der beides umfasst. In diesem Zusammenhang versteht Gerhardt auch Ethik und Politik als Techniken.
  Was aber genau nun ist Öffentlichkeit? Gerhardt öffnet ein Panoptikum von Bedeutungen und Funktionen: Mal ist Öffentlichkeit ein „Medium“, dann eine „Institution“, bald darauf eine „Sphäre“, auch eine „Atmosphäre“, oft ein „Raum“, gelegentlich ein „Markt“. Zwischen dem Binnenraum des individuellen Denkens und der Weltöffentlichkeit entwickelt Gerhardt die umfassende kulturelle Reichweite des Begriffs. Die Öffentlichkeit sei der Ort, an dem der Mensch sich wesentlich selbst begegne, hier erfahre er seine wahre Bildung, hier vollziehe sich die „kulturelle Entfaltung der menschlichen Natur“. Perspektivischer Fluchtpunkt bleibt der Geist, der seinerseits nur als etwas Gemeinsames, als etwas Öffentliches verstanden werden könne. So gerinnt die Öffentlichkeit zum „freien Verkehrsraum des Geistes“, in dem das Wissen frei verfügbar sei und jedem offenstehe.
  Bei dieser ungeheuren Weite des Öffentlichkeitsbegriffs kommt es für Gerhardts Pointe darauf an, die Perspektive wieder auf das Politische zurückzuführen. Die Form des Bewusstseins sei vor allem deshalb politisch, weil seine vernünftigen Operationen auf Wirksamkeit angelegt seien, auf die Gestaltung und Organisation der den Menschen gemeinsamen Welt. Wäre Öffentlichkeit nur ein gesellschaftliches Phänomen, gäbe es letztlich einen potenziell unendlichen Pluralismus. Öffentlichkeit aber erbringe Ordnungsleistungen auf allen Ebenen. Ihre Leistung, Entscheidungen zu produzieren, befähige sie zum Leitmedium „der Selbststeuerung großer Gesellschaften“.
  Gerhardts wissensbezogener Öffentlichkeitsbegriff bietet eine gute Ausgangsbasis, wenn man verstehen will, wie bürgerliche Gegenwärtigkeit in demokratischen Gesellschaften hergestellt werden kann. Das war für die Entstehung der Demokratie in Athen nicht weniger bedeutsam als für die heutigen revolutionären Bewegungen im arabischen Raum. Demokratie funktioniert nur auf der Grundlage einer „Präsenz von Vielen“. Sie kann nur im Raum einer öffentlichen Kultur gewonnen werden und Bestand haben, indem „eine soziale Geistesgegenwart“ die wesentlichen Prinzipien der Politik trägt. Das „Grundgerüst des Politischen“ findet Gerhardt in den Prinzipien der Partizipation, der Repräsentation und der Konstitution – und eben in der Öffentlichkeit, die als viertes Prinzip hinzutritt und deren „primärer Sinn“ darin liege, Politik zu ermöglichen.
  Öffentlichkeit erleuchtet nicht nur, sie hat auch ihre Schattenseiten. Gerhardt ignoriert diese nicht, rückt sie aber in den Hintergrund. Dass eine ganze Traditionslinie das Wesentliche der politischen Philosophie gerade im prekären Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gesehen hat, muss ihn nicht irritieren. Aber im nur halb beleuchteten „Verkehrsraum des Geistes“ bleiben Stolpersteine liegen. Die konstruktive Funktion der politischen Öffentlichkeit wird dadurch konterkariert, dass der Grundton von Gerhardts Politikverständnis durch die Überzeugung bestimmt ist, das Wesen der Politik sei der Kampf. Dabei handelt es sich um einen Topos, der sich seit dem 19. Jahrhundert so verfestigt hat, dass er heute nicht nur im positivistischen Lager fast selbstverständlich geworden ist. Das am Kampf orientierte Politikverständnis beruht auf einer tief verwurzelten Skepsis, dass Wertkonflikte nicht mit der logischen Kraft des Arguments gelöst werden könnten. Insofern bleibt es widersprüchlich, wenn Gerhardt die Öffentlichkeit in der Perspektivität von Bewusstsein, Vernunft und Geist konzipiert, wenn er sie zugleich als ein Politik ermöglichendes Prinzip auszeichnet und wenn Politik gleichwohl über das Niveau des Kampfes nicht hinaus kommt.
  Fragwürdig bleibt auch, warum Volker Gerhardts Bewusstseinstheorie allein auf „Allgemeinheit“, „Universalität“ und „Öffentlichkeit“ setzt und beispielsweise nicht auf „Transzendenz“, wie es Eric Voegelin bereits 1966 vorgeschlagen hatte. Das hätte es ermöglicht, auch die öffentliche Funktion der Religion stärker in den Blick zu nehmen, als es hier geschieht. Man darf hoffen – dies ist nicht sein letztes Buch. Aber es ist ein Meilenstein in der philosophischen Selbstreflexion moderner Gesellschaften.
CLEMENS KAUFFMANN
Sehr überzeugend verteidigt
dieses Buch den „freien
Verkehrsraum des Geistes“
Unser Bewusstsein ist bereits
das kleinste denkbare
Modell politischer Öffentlichkeit
  
      
    
    
Volker Gerhardt:
Öffentlichkeit.
Die politische Form
des Bewusstseins. Verlag C. H. Beck, München 2012.
584 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2013

Wer mehr will, wird weniger erreichen
Denn die anderen waren immer schon da: Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt lässt die liberale Öffentlichkeit philosophisch hochleben

Nach einer Bemerkung Kants vollzieht sich alles Denken "gleichsam in Gemeinschaft mit anderen". Die Begriffe, derer sich der Denkende bedient, sind nämlich nicht sein persönliches Eigentum, sondern Gemeingut, hervorgegangen aus einem Prozess öffentlicher Verständigung. Ebenso wenig wie eine Privatsprache gibt es eine private Begrifflichkeit. Was immer der Einzelne denkend erfasst, mag es auch noch so einzigartig sein, begreift er vielmehr von vornherein anhand allgemeiner Kategorien.

In den Worten des Berliner Philosophen Volker Gerhardt ist der einzelne Mensch aus diesem Grund "nicht nur als Vertreter seiner Spezies und als Repräsentant seiner Kultur, sondern selbst noch in seinem Selbstverhältnis als Individuum ein exemplarischer Fall öffentlich wirksamer Einsichten". Sogar wenn er allein mit sich zu Rate gehe, habe er sich deshalb als Homo publicus zu verstehen, wohlwissend, dass er auch seine geheimsten Gedanken nur haben könne, weil sie in Form und Gehalt öffentlich verständlich seien.

Vor dem Forum einer internalisierten Öffentlichkeit agiert nach Gerhardt nicht nur, wer die Welt und sich selbst denkend zu begreifen sucht, sondern auch, wer mit einem moralischen Problem ringt. Zwar ist der Einzelne hier im Ausgangspunkt mit sich allein. Es ist seine individuelle Frage, die ihn umtreibt, und er muss mit der Entscheidung leben, die er schließlich trifft. Zu einer akzeptablen Antwort gelangt er Gerhardt zufolge jedoch nur, indem er aus sich herausgeht und in eine öffentliche Sphäre überwechselt. Mit Kant gesprochen, müsse er sich reflektierend an alle anderen, die er als seinesgleichen begreife, wenden. Nur solche Handlungen dürfe er sich zur Pflicht machen, die Gegenstand des Wollens aller anderen sein könnten, sofern sie sich in vergleichbarer Lage befänden. "Man könnte sagen, dass die Vernunft den Prozess öffentlicher Prüfung in sich hineinverlegt, um zu einem Vielen und vielem angemessenen Urteil zu gelangen."

Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft des Menschen ist laut Gerhardt demnach als eine "elementare Form von Öffentlichkeit" zu verstehen. Umgekehrt sei Öffentlichkeit als der Raum, in dem sich die Menschen über ihre Absichten verständigen und über die Ziele ihres Handelns gewaltlos einigen könnten, nichts anderes als "eine ins gesellschaftliche Ganze ausgestülpte Vernunft". Sie erweitere den Wahrnehmungshorizont einer Gesellschaft, verbessere die Kenntnis der Lage, schärfe das Urteil über die bestehenden Interessengegensätze, korrigiere Fehleinschätzungen, kläre die rechtlichen Voraussetzungen und biete den Akteuren die Möglichkeit, im Kampf um ihren Vorteil die sachlichen Lösungen nicht zu vergessen.

Die Vernünftigkeit gesellschaftlicher und namentlich politischer Entscheidungsverfahren werde deshalb durch nichts so wirksam gefördert wie durch die Existenz einer unbehinderten Öffentlichkeit. Wie Gerhardt mit geradezu aufklärerischer Verve formuliert, sei sie "der Raum, in dem sich alle Kenntnisse bilden und verbreiten, in dem sich die Irrtümer erweisen und die Wahrheit ans Licht gelangt". Zwar sei nicht bewiesen, dass die Menge über mehr Vernunft verfüge als der Einzelne. Gleichwohl biete die über die Öffentlichkeit ermöglichte Partizipation - eben durch die Beteiligung vieler Köpfe - eine statistisch steigende Chance für die Entdeckung von Fehlern sowie für die Berücksichtigung einer größeren Zahl von Gesichtspunkten.

Angesichts ihrer vernunftanalogen Leistungen darf nach Gerhardts Auffassung mit der Öffentlichkeit nicht anders umgegangen werden als mit der menschlichen Individualfreiheit. "Wir haben sie zu fördern und zu stützen, so weit es nur geht. Sie ist eine wesentliche Bedingung der Entfaltung der humanen Kräfte."

Vor dem Hintergrund dieses klassisch liberalen Verständnisses übt Gerhardt scharfe, aber treffende Kritik an Habermas' Konzeption einer "deliberativen Öffentlichkeit". Indem diese Auffassung öffentliche Diskurse an den Strick mannigfaltiger Kautelen und Kriterien zu legen suche, sei sie ungeachtet ihrer kritischen Attitüde Ausdruck einer halbierten Rationalität, die Kritik nur gelten lasse, solange man sie selber äußere. Gegenüber der Furcht der Diskurstheoretiker vor einer Öffentlichkeit, deren Teilnehmer weniger aufgeklärt sind als sie selbst, plädiert Gerhardt für vertrauensvolle Zurückhaltung: "Nach allem, was wir über die Ausbreitung des Wissens bei vielen Menschen wissen, erfolgt die kritische Prüfung schon von selbst - insbesondere dann, wenn für Widerspruch gesorgt ist. Also genügt es, Zugänglichkeit und Offenheit herzustellen. Folglich reichen die Kriterien der Freiheit und der Gleichheit aus, die jedem Teilnehmer an öffentlichen Diskursen zuzugestehen sind. Wer mehr will, wird weniger erreichen."

Die Öffentlichkeitskonzeption Gerhardts ist das Produkt einer eigenwilligen Verknüpfung heterogener philosophischer Traditionslinien. So kombiniert Gerhardt Kants kritische Philosophie mit Wittgensteins Privatsprachenargument. Die auf Platon verweisende These einer strukturellen Gleichartigkeit von öffentlichem und privatem Bewusstsein verbindet er mit einem Bekenntnis zu dem wohl vehementesten Platonkritiker des vorigen Jahrhunderts: Karl Popper, im heutigen philosophischen juste milieu allenfalls noch mit spöttisch emporgezogenen Augenbrauen erwähnt, habe die Rolle der Öffentlichkeit bislang am eindringlichsten und zukunftsträchtigsten erörtert. Passt das alles zusammen? Im Großen und Ganzen wohl ja - freilich nur, weil "Öffentlichkeit" bei Gerhardt trotz einer Vielzahl wortreicher Umschreibungen weniger als ein scharf konturierter Begriff, sondern eher als eine Art von Passepartout fungiert, flexibel genug, um eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte zu erfassen. Ob beispielsweise Begriffe wie "Bild" oder "Roman" in demselben Sinne öffentlich zu nennen sind wie eine Bundestagssitzung oder ein Kirchentag, erscheint zumindest zweifelhaft. Sowohl ideen- als auch realgeschichtlich irritierend ist ferner der Umstand, dass Gerhardt von den fast sechshundert Seiten seines Buches nur rund zwanzig den Risiken und Nebenwirkungen von Öffentlichkeit widmet und dabei die Welt der neuen Medien fast vollständig ausklammert. Stellen die shit storms im Internet tatsächlich nur marginale Phänomene dar?

Diese Bedenken ändern aber nichts daran, dass Gerhardt einen imponierenden philosophischen Entwurf vorgelegt hat. Gelehrsamkeit und Mut vereinigend, beweist das Buch, dass sein Autor aus guten Gründen zu den hervorstechenden Figuren der heutigen deutschen Philosophenzunft gezählt wird. Ein Liberalismus, der so gewinnend daherkommt wie bei Gerhardt, darf auf keinen Fall aus dem Parlament der Gelehrtenrepublik verschwinden.

MICHAEL PAWLIK

Volker Gerhardt: "Öffentlichkeit". Die politische Form des Bewusstseins.

Verlag C. H. Beck, München 2012. 584 S., geb., 39,95 [Euro].

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