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Die neue Stimme der jüdisch-deutschen Literatur
Ein Spiegelkabinett mit zwei Eingängen. Hinter beiden Buchdeckeln beginnt je eine Geschichte. Genau in der Mitte kommt es zur Konfrontation, treffen die beiden Erzähler, Amnon Zichroni und Jan Wechsler, aufeinander.
Amnon Zichroni besitzt die Fähigkeit, Erinnerungen anderer Menschen nachzuerleben. Geboren in Jerusalem und streng jüdisch erzogen, studiert er in den USA und lässt sich in Zürich als Analytiker nieder. Dort begegnet er dem Geigenbauer Minsky, den er ermuntert, seine traumatische Kindheit in einem NS-Vernichtungslager…mehr

Produktbeschreibung
Die neue Stimme der jüdisch-deutschen Literatur

Ein Spiegelkabinett mit zwei Eingängen. Hinter beiden Buchdeckeln beginnt je eine Geschichte. Genau in der Mitte kommt es zur Konfrontation, treffen die beiden Erzähler, Amnon Zichroni und Jan Wechsler, aufeinander.

Amnon Zichroni besitzt die Fähigkeit, Erinnerungen anderer Menschen nachzuerleben. Geboren in Jerusalem und streng jüdisch erzogen, studiert er in den USA und lässt sich in Zürich als Analytiker nieder. Dort begegnet er dem Geigenbauer Minsky, den er ermuntert, seine traumatische Kindheit in einem NS-Vernichtungslager schreibend zu verarbeiten. Beider Existenz steht auf dem Spiel, als der Journalist Jan Wechsler behauptet, das Minsky-Buch sei reine Fiktion...
Zehn Jahre später wird eben diesem Jan Wechsler ein Koffer zugestellt, der ihm bei einer Reise nach Israel verloren gegangen sein soll – doch Wechsler kann sich an den Koffer nicht erinnern. Auf den Spuren fragwürdig gewordener Erinnerungen reist er nach Israel und gerät in ein Verhör. Tatsächlich, stellt sich heraus, ist er schon einmal dort gewesen, und sein damaliger Gastgeber, Amnon Zichroni, gilt seither als vermisst ...

Ein faszinierender, spannender Roman über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen und das Ringen um Identität. Meisterhaft konstruiert – und als Buch zum Wenden zugleich eine Liebeserklärung an das Medium Buch.

Autorenporträt
Benjamin Stein , 1970 in Ost-Berlin geboren, arbeitete nach dem Abitur bis zur Wende als Nachtpförtner. Später studierte er Judaistik und Hebraistik. Sein erster Roman erschien 1995. Benjamin Stein arbeitete als Redakteur und Korrespondent diverser Computerzeitschriften und seit 1998 als Unternehmensberater für Informationstechnologie. Er ist Inhaber des Autorenverlags Edition Neue Moderne und betreibt das literarische Weblog 'Turmsegler'. Benjamin Stein ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.02.2010

Gegenfüßler auf schwankendem Boden
Benjamin Steins Doppel-Roman „Die Leinwand” schlingt zwei Lebensläufe deutsch-jüdischer Identität ineinander
Es ist ein Januskopf von einem Buch: Egal, wie herum man es wendet, es kehrt einem immer das Gesicht zu. Zweimal steht dort „Benjamin Stein: Die Leinwand”, doch darunter erscheint kursiv je ein anderer Namen, einmal ein hebräischer und einmal ein deutscher. Der Leser erhält die Empfehlung, ganz nach Belieben vorn oder vorn anzufangen, bei der Geschichte des Jan Wechsler oder aber des Amnon Zichroni – beide in Ich-Form erzählt –, ist unschlüssig, beginnt mit Zichroni – und hat den richtigen Griff getan.
Denn so sehr der Autor Benjamin Stein beide Lebensläufe ineinander verschlingt und als Komplemente anlegt, ihre literarische Darstellung besitzt nicht völlig identischen Rang. Es geht um die schwierigen Fragen der deutsch-jüdischen Identität und der Verlässlichkeit von Erinnerungen. Zichroni besitzt die ihm selbst unheimliche Fähigkeit, in bestimmten Situationen die Erinnerungen anderer Menschen wie eigene Erlebnisse plötzlich in sich selbst aufflammen zu fühlen, während Wechsler wesentliche Teile seiner eigenen Lebensgeschichte wegkippen. Wechsler ist natürlich die weit fesselndere Gestalt. Aber der Reihe nach; und Zichroni zuerst.
Er verbringt seine Kindheit in einem ultraorthodoxen Quartier von Jerusalem oder „Yerushalayim”, wie es hier heißt; ein Umzug führt die Familie in die nur wenige hundert Meter, aber eine ganze Welt entfernte Nachbarschaft der Mittel-Orthodoxen, wo es für den jungen Amnon aber auch schon genügt, unbefugt ein einziges weltliches Buch zu lesen (es handelt sich um Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray”), um zu einem Freund der Familie in die Schweiz verbannt zu werden, der – nochmaliger Kulturbruch – der völlig fremden Sphäre des modern-orthodoxen Judentums angehört.
Bei diesem Onkel Nathan also, einem Juwelier, der sich auf „Demantoide” spezialisiert hat, wächst Zichroni wie im Exil auf. Für den Leser, der jüdischem Leben fernsteht, ergeben sich höchst aufschlussreiche Einblicke in dessen so feine wie scharfe Unterschiede. Ein Gebetsschal etwa ist nicht einfach ein Gebetsschal. Es gibt die klassische Version, weiß mit schwarzen Streifen, wobei diese Streifen offenbar wie eine Art Barcode chiffriert sind. Mystiker bevorzugen bestimmte Schattierungen von Weiß, Zionisten blau-weiße Modelle, während die „heimlichen Könige” sich in weinroten Streifen zu erkennen geben.
Die wahren Geheimnisse indes verbergen sich in der Art und Weise, wie die Schaufäden oder Zizit an den Gebetsschal geknüpft werden, als eine Knotenschrift, die der altperuanischen an Komplexität nichts nachgibt. „Die Sfardim knüpfen zehn, fünf, sechs, fünf Windungen, in dieser Reihenfolge. Die Zahlen entsprechen den vier Buchstaben im Namen des Ewigen. Die Aschkenasim hingegen winden den Faden erst sieben-, dann acht-, elf- und dreizehnmal. Die ersten beiden Sektionen stehen für das erste Buchstabenpaar des heiligen Namens, die dritte Sektion für das zweite. Die vierte Sektion schließlich hat den gleichen Zahlenwert wie ,echod‘ – einzig –, so dass die Kombination der Windungen für ,Hashem echod‘ – der Ewige ist einzig – steht.” Zwei identische ausführliche Glossare, ans Ende jedes der beiden Halbbücher gerückt, so dass sie sich in der Mitte, um 180° zueinander gedreht, küssen, erläutern dem unkundigen Leser die wichtigsten Begriffe.
Seine besondere Gabe der Fremd-Erinnerung veranlasst Zichroni, auf Umwegen den Beruf eines Psychoanalytikers zu wählen. Eines Tages gerät er an den alten Geigenbauer Minsky, der als kleines Kind Auschwitz überlebt hat, ehe er eine wahre Odyssee durch Waisenhäuser durchleiden musste. Zichroni legt ihm die Hände auf – und prallt in Panik zurück vor dem, was er hier zu fühlen bekommt. Zweifellos, hier hat einer Schreckliches durchleben müssen; was genau, wird nicht ganz deutlich. Er ermutigt Minsky, seine Kindheitsgeschichte aufzuschreiben, das Buch wird ein weltweiter Riesenerfolg. Aber dann heftet sich der Journalist Wechsler auf Minskys Spur und entlarvt das Ganze als Lügengeschichte. Stein folgt hier bis ins Detail der realen Geschichte von Benjamin Wilmorski, die vor einigen Jahren für Aufruhr sorgte. Minsky bricht zusammen, Zichroni verliert seine Approbation. Das alles wird straff und schmucklos erzählt, auf eine Weise, die den Vorrang des Stoffs vor dem Stil setzt.
Auf Zichroni ist Verlass. Seine Geschichte kann des größeren sachlichen Interesses gewiss sein. Sein Gegenfüßler Jan Wechsler aber, observanter Jude auch er, Schriftsteller und Journalist, reizt den Leser in psychisch-romantechnischer Hinsicht als die wunderbare Figur des unzuverlässigen Erzählers. Um sein vom eigenen unberechenbaren Vorleben bedrohtes Selbst zu retten, greift er zu Tricks, die nicht immer fair sind, deren Notgeborenheit aber dem Leser widerwillige Akzeptanz abnötigt. Patricia Highsmith hat solche Gestalten geschaffen, eloquente Borderliner, über deren riesigen blinden Fleck der Leser nur langsam einen Überblick gewinnt. Selbst dann, wenn er sie allmählich als emotional schwer gestörte Monster erkennen muss, drückt er ihnen immer noch die Daumen. Wie schämt der Leser sich mit, und wie verzagt er für ihn, wenn Wechsler das restliche Wohlwollen seines weltmännischen früheren Verlegers von Dennen, der über diesen unverträglichen Kauz immer seine Hand gehalten hatte, schlussendlich auch noch verspielt!
Wechsler also, inzwischen gut bürgerlich eingehaust mit Frau und zwei kleinen Kindern, wird eines Tages von einem Pilotenkoffer überrumpelt, den ihm ein Kurier an seiner Tür als verlorenes Fluggepäck erstattet; er erkennt seine Handschrift auf dem Namensschild, wird zur Entgegennahme genötigt, drückt sich lang davor, den Koffer zu öffnen, kann dann aber der Tatsache nicht mehr ausweichen, dass hier unter seinem Namen ein äußerst hämisches Buch mit dem Titel „Maskeraden” vorliegt, das Minsky als Lügner bloßstellt. Gibt es noch einen Autor dieses Namens? Das hofft er sehr; aber selbstverständlich vergebens.
Dass Wechsler allmählich die Kontrolle verliert, verrät nicht er uns, denn er bleibt immer das scheinbar besonnene Ich; es tritt hervor aus der Reaktion der anderen. Seine Frau verlässt ihn entsetzt mit den gemeinsamen Kindern, als sie herausfindet, dass er offenbar nicht aus Ostberlin stammt, wie er immer behauptet hatte, sondern aus dem Kanton Bern. Verzweifelt bemüht, seine Wahrheit zu beweisen, will er seinen alten DDR-Pass heraussuchen – aber stößt nur auf das lichtrote, kreuzgeschmückte Dokument der Schweiz. Es ist eine gruselige Szene.
Das Buch sucht schon in der buchbinderisch ungewöhnlichen Anlage danach, seine beiden Erzählerfiguren so dicht wie möglich aneinander heranzuführen. Wechsler wird bei seiner Ankunft in Israel verhört und verhaftet, weil sich in seinem Gepäck Besitzstücke von Zichroni befinden, von dem seit einer merkwürdigen Exkursion zu einer uralten Mikwa, einem Ritualbad nahe Jerusalem, jede Spur fehlt. Beide Halbbücher schließen mit der vagen Erinnerung an einen tödlichen Kampf im kühlen Quell dieses „lebendigen Wassers”. Zusammen legen sie die Vermutung nahe, dass die zwei Protagonisten, die sich hier offensichtlich gegenseitig zu ertränken versucht haben, in Wirklichkeit ein einziger waren. Die Suche nach der Leiche kann da nicht erfolgreich verlaufen. Als der Tatverdächtige in Begleitung der Polizei die alte Quelle aufsucht, ist sie staubtrocken.
Das ist zum Schluss vielleicht um ein Klein Weniges zu schlau ausgedacht. Dass es sich bei aller Erinnerung um ein Konstrukt handelt und alle Identität darum auf schwankendem Boden steht, wird hier auf etwas überallegorische Weise zu Gemüte geführt. Die zwei Halbbücher am Ende greifen nicht ganz so zwingend ineinander, wie dem Autor vorschwebte. Der Schade des Lesers muss dies nicht sein. BURKHARD MÜLLER
BENJAMIN STEIN: Die Leinwand. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2010. 202 plus 212 Seiten, 19,95 Euro.
Der Journalist, der das Lügengebäude einstürzen lässt, gerät selbst ins Zwielicht
„Die wahren Geheimnisse verbergen sich in der Art, wie die Schaufäden an den Gebetsschal geknüpft werden”: Orthodoxe Juden beim Gebet. Foto: Corbis
Benjamin Stein Foto: Oliver Maier
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2010

Für meines Autors Gleichung gibt es viele Lösungen

Erzählen als leichter Denksport und ganz ernste Glaubenssache: Benjamin Steins Roman "Die Leinwand" erzählt die Geschichte einer Verwandlung von zwei Enden her und treibt mit dem Leser ein tolles Spiel.

Von Anja Hirsch

Über Picasso gibt es einen wunderbaren Film. Man sieht ihn beim Malen. Unter seinen Fingern entstehen Vögel, Stiere, Formen. Plötzlich übertüncht er in einer Laune alles und beginnt ein neues Bild, bis er auch dieses färbt, und so weiter. Soll man sich überhaupt mit dem neuen Bild anfreunden, wo es doch sogleich verschwinden wird? Zunächst macht dieses Verfahren unruhig. Sieht man aber längere Zeit die Bilder kommen und gehen, entfaltet der Film eine meditative Wirkung. Man wohnt einem großartigen Schauspiel bei, einer ständigen Verwandlung.

Benjamin Stein treibt mit dem Leser seines raffinierten Identitätsromans "Die Leinwand" ein ähnliches Spiel. Glaubt man sich hier einer Geschichte sicher, beginnt sie sich bereits zu verändern. Die Wahrheit ist dreh- und wendbar wie das Buch, das man von beiden Seiten bis jeweils zur Mitte lesen kann, was diesem Roman schon drucktechnisch gesehen ein irritierendes Aussehen verleiht.

Ein Lockmittel des Verlags? Keineswegs. Benjamin Stein spielt souverän und konzentriert zwei verschiedene Geschichten durch, die sich langsam einander annähern. Man kann sie zunächst sogar unabhängig voneinander genießen, und es ist ganz egal, ob man sich zuerst Jan Wechsler anvertraut oder, das Buch umdrehend, Amnon Zichroni, dem anderen Erzähler. Beide erzählen sie Lebensbeichten, die sich lesen lassen wie klug unterfütterte Krimis. Sie führen auf zwei unterschiedlichen Wegen an ihren jeweiligen Enden zum gleichen heiligen Ort: zur Mikwe, jenem rituellen Tauchbad, das sich im jüdischen Glauben mit Reinheit und Verwandlung verbindet.

Es ist eine historische Mikwe in Israel. Das Wasser ist eiskalt, also rein körperlich schon ein Schock. Es kommt dort aber nicht nur zur Wandlung, sondern zu einer Tat, bei welcher einer der beiden Erzähler offenbar stirbt, jedenfalls plötzlich vom Erdboden verschwunden ist, so dass man seinen vermeintlichen Mörder polizeilich sucht. Für diese böse Rolle bieten sich in beiden Geschichten, in denen Jan Wechsler und Amnon Zichroni schicksalsträchtig aneinandergebunden werden, die Erzähler höchstpersönlich an. Das freilich kann nicht sein, sobald man die beiden Romanteile zur Deckungsgleichheit bringt: Wer mordet, kann nicht zugleich der Ermordete sein. Was aber, wenn es gar nicht um eine Tat geht? Wenn also die Verwandlung, die innere Neuausrichtung die tragende Idee dieser großartigen Romankonstruktion wäre, die ständig neue Charaktere aus gleichen Körpern produziert? Denksportaufgaben, die sich immer weiter verästeln, bis wir in diesem Steinschen Rhizom ganz postmodern verlorenzugehen drohen, aber immer wieder aufgefangen werden. Italo Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" und ähnliche literarische Irrgärten haben hier einen ernst zu nehmenden Nachfolger.

Benjamin Stein, Jahrgang 1970, studierter Judaist und Hebraist, schrieb übrigens für Computerzeitschriften und berät im Bereich Informationstechnologie. Sein mathematisches Hirn treibt aber auch fiktional ein tolles Spiel. Und wer noch unsicher ist, ob er sich darauf einlassen soll, dem gibt er Wegweiser an die Hand: Amnon Zichronis persönliches Erweckungsbuch etwa ist "Dorian Gray", ein Roman, in dem das Gefühl, bei sich selbst in der Fremde zu sein, weidlich ausgekostet wird; und Jan Wechsler erwähnt einmal Raymond Queneaus "Stilübungen", in dem eine Geschichte in über einhundert Variationen erzählt wird.

Benjamin Stein belässt es zum Glück bei zweien, auch diese - wie ja schon bei Queneau - weit mehr als nur harmlose Stilübungen. Beginnen wir, um neben dem großen Bauplan die kleineren Facetten dieses Werks zu würdigen, mit der übersichtlicheren Variation: mit Amnon Zichroni. Er scheint, zumindest im Gegensatz zu Jan Wechsler, ein geringeres Ich-Problem zu haben. Streng jüdisch erzogen, wuchs er in Israel auf, früh begabt mit der erstaunlichen Fähigkeit, bei Berührung in die Erinnerungen anderer einzutauchen. Sein Weg führt ihn in die Schweiz, nachdem der Rabbi ihn mit "schmutziger englischer Literatur", ebendem "Dorian Gray", erwischt hat. In Zürich übernimmt sein sympathischer Onkel die Erziehung, auch er jüdisch-orthodox.

Ganz nebenbei klärt Benjamin Stein also über jüdisches Leben auf: die Vorbereitungen auf den Schabbes, für den Amnon am richtigen Ort sein muss, um Gebote nicht aus Versehen zu übertreten; das Doppelleben zwischen beiden Welten; die Zweifel, die damit verbunden sind, ebenso wie die Lust der Erkenntnis. Wir betreten, unterstützt von zwei Glossaren in der Buchmitte, eine rätselhafte, anziehende Welt. Hier übermittelt man verschlüsselte Botschaften durch besondere Knüpfung der Fäden am Gebetsschal - so Amnons Vater; hier halten russische Romane vom Wesentlichen ab - oder erteilen wichtige Lehren, wenn man sie nur richtig zu lesen weiß. Amnons Leben ist geprägt von liebevollen Mentoren, die in eine Mitte führen, weit über trockenes Tora-Studium hinaus. Auch so ist Benjamin Steins Konstruktion wohl zu verstehen - als Beschreibung zweier Wege, an deren Kreuzung Vergangenes zum Zwecke der Heilung zertrümmert wird.

Dass dies alles trotz tieferen Sinns so wunderbar leicht zu lesen ist, liegt am erzählerischen Atem, einer Mischung aus üppiger Detailfreude und zügigem Vorantreiben der Handlung, während diese zugleich immer unwahrscheinlicher erscheint. Ein wichtiger Themenkomplex öffnet sich dabei auf Nebenpfaden in der Figur des Geigenbauers Minsky, den Amnon, inzwischen Analytiker in Zürich, dazu ermuntert, schreibend seine traumatische Kindheit in einem NS-Vernichtungslager zu verarbeiten. Nun ist Jan Wechsler, der jüdisch-orthodoxe Erzähler des gegenüberliegenden Romananfangs, just jener Journalist, welcher Minskys Erinnerungen als Fälschung zu entlarven versucht. Eng dem Fall Binjamin Wilkomirski nachgedichtet, der 1998 für Aufsehen sorgte, ist Benjamin Steins Roman getragen von Fragen über die Glaubwürdigkeit der eigenen Erinnerung.

Das wird aber nicht nur diskutiert, sondern greifbar gemacht an Jan Wechsler selbst. Mit diesem Teil zu beginnen stößt einen geradezu haptisch in die Abgründe der eigenen Identität. Jan Wechsler, aufgewachsen in Ostdeutschland wie der Autor selbst und den jüdischen Glauben praktizierend, sieht sich eines schönen Schabbats, an welchem er eigentlich kein Paket annehmen darf, einem Koffer gegenüber. Der Paketbote behauptet, er gehöre Jan Wechsler, der ihn seit einer Israel-Reise als vermisst meldete, was dieser aber strikt verneint, obwohl die Namensgleichheit und die Handschrift am Etikett frappierend sind.

Ein im jüdischen Leben kundiger Nachbar springt hilfreich ein und nimmt das Paket an, und so steht der Koffer nun in der Wohnung Jan Wechslers, was ein übles Nachspiel hat. Frau und Kinder werden ihn verlassen, nachdem es doch immer augenscheinlicher wird, dass er gar nicht im Osten aufgewachsen ist, sondern in der Schweiz wie sein Namensvetter, von dem sich kompromittierende Fotos und Schriften im Koffer befinden: Jan Wechsler hatte besagten Minsky überführt, der jetzt, isoliert von allen, wortkarg in den Bergen sein Dasein fristet. Ist er also doch nicht der, für den er sich jahrelang hielt?

Wie fein Benjamin Stein die beiden Teile komponiert hat, erweist sich hier: Jan Wechsler erzählt ja tatsächlich reziprok, Amnon Zichroni dagegen eher in einer Zielgeraden von der Kindkeit an aufwärts. Nicht auszudenken, welche Linien sich noch ergeben, folgte man sogar dem Angebot, nach jedem Kapitel das Buch zu wenden, um im je anderen Strang weiterzulesen. Steins Bauplan mag mathematischen Potenzierungsgesetzen folgen. Die Vervielfältigung seiner Themen - Fälschung, Identitätsverlust, Neuschreibung - betreibt er jedoch rein poetisch, mit einer genüsslichen Freude am Dunklen, Triebhaften. Und so folgt man den verschlungenen Pfaden dieses Romans über die Leinwand unseres Selbst ausgesprochen gern.

Benjamin Stein: "Die Leinwand". Roman. C. H. Beck Verlag, München 2010. 416 S., geb., 19,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Mindestens zwei Herzen hört Ulrich Gutmair schlagen in den Figuren, die Benjamin Stein in seinem Buch buchstäblich gegeneinander antreten lässt - der eine erzählt seine Geschichte beginnend vorn im Buch, der andere beginnt am Ende und bewegt sich von dort auf die Mitte zu, wo beide sich treffen. Was kompliziert klingt, ist eigentlich einfach. Gutmair berichtet, wie Stein aus dem Leben moderner orthodoxer Juden erzählt, formal avantgardistisch, so dass sich auch kapitelweise die Richtung wechseln lässt (von vorn nach hinten und zurück), und dabei Autobiografisches verarbeitet sowie die wahre Geschichte des Binjamin Wilkomirski, der sich in den 90ern eine jüdische Identität erfand und öffentlich machte, was sich zu einem Skandal entwickelte. Gutmair recherchiert und stellt fest, dass Steins Roman auf diesem Skandal basiert, Personal inklusive. Was wäre gewesen, wenn ich ein anderes Leben gelebt hätte, das ist eine Frage, welcher der Rezensent in diesem Buch nicht nur einmal begegnet.

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