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Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht auch die Geschichte des Holocaust im Jahr 1939 eine neue Dimension. Sie kann nicht mehr auf deutsche Politik, Entscheidungen und Maßnahmen begrenzt werden, sondern muß die Reaktionen (manchmal auch Initiativen) der sie umgebenden Welt und die Haltung ihrer Opfer miteinbeziehen. Das ist schon deshalb unausweichlich, weil das, was wir „Holocaust“ nennen, einen Vorgang bezeichnet, dessen Totalität gerade in der Konvergenz all dieser Elemente besteht. Überall im besetzten Europa hing die Ausführung deutscher Maßnahmen von der Gefügigkeit der…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht auch die Geschichte des Holocaust im Jahr 1939 eine neue Dimension. Sie kann nicht mehr auf deutsche Politik, Entscheidungen und Maßnahmen begrenzt werden, sondern muß die Reaktionen (manchmal auch Initiativen) der sie umgebenden Welt und die Haltung ihrer Opfer miteinbeziehen. Das ist schon deshalb unausweichlich, weil das, was wir „Holocaust“ nennen, einen Vorgang bezeichnet, dessen Totalität gerade in der Konvergenz all dieser Elemente besteht. Überall im besetzten Europa hing die Ausführung deutscher Maßnahmen von der Gefügigkeit der politischen Institutionen, der Unterstützung durch lokale Ordnungskräfte, der Passivität oder Mitwirkung der Bevölkerung und vor allem ihrer politischen und geistlichen Eliten ab. Sie war auch abhängig von der Bereitschaft der Opfer, den Weisungen Folge zu leisten, oft in der Hoffnung, diese abzumildern oder doch Zeit zu gewinnen und irgendwie dem deutschen Schraubstock zu entkommen. Eine Gesamtgeschichte des Holocaust muß alle diese Ebenen in den Blick nehmen und integrieren.

„Die Jahre der Vernichtung“ erzählt mit großer historiographischer Meisterschaft die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Dritten Reiches. Doch das Streben nach wissenschaftlicher „Objektivität“, nach Erklärung und Analyse kann in einer Geschichte des Holocaust allein nicht genügen. Mit einem überwältigenden Chor von Stimmen – Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen – bewahrt Saul Friedländer seine Darstellung vor der Gefahr der „domestizierten“ Erinnerung an ein Geschehen, das ohne Beispiel ist. Es ist gerade diese besondere Qualität seiner Geschichtsschreibung, die das Buch aus der Literatur heraushebt und ihm einen einzigartigen Rang zuweist. Mit „Die Jahre der Vernichtung“ liegt Saul Friedländers großes Werk über die Ermordung der europäischen Juden nun vollständig vor.

Autorenporträt
Saul Friedländer , geb. 1932 in Prag, ist Professor für Geschichte an den Universitäten von Tel Aviv und von California, Los Angeles. 1998 erhielt er für den ersten Band seiner Darstellung Das Dritte Reich und die Juden den Geschwister-Scholl-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Die Stimmen der Opfer
Saul Friedländers historiographisches Denkmal für die ermordeten Juden Europas / Von Klaus-Dietmar Henke

Die menschheitsgeschichtliche Wucht des entschlossensten und systematischsten aller Völkermorde, der Sturz Millionen getöteter Juden aus der Arglosigkeit in die Ausweglosigkeit, die heimtückische Unerbittlichkeit der deutschen Vernichtungsmission - gewöhnlich führen uns die Möglichkeiten der Kunst näher an den Kern dieses Geschehens als geschichtswissenschaftliche Abhandlungen. Saul Friedländers Gesamtdarstellung des Holocaust bestätigt diese Erfahrung nicht. Denn in kompositorischer Könnerschaft verbindet er die nüchterne Autopsie der Mordmaschinerie, die sich durch Europa frißt, mit der sensiblen Vergegenwärtigung des Lebens und Sterbens der Menschen, die von ihr erfaßt werden. Entstanden ist so ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung von der Eindringlichkeit und Richtigkeit eines Kunstwerks.

Der Totalität der Schoa kann für Friedländer nur eine "integrative und integrierte Geschichte" gerecht werden. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, sich auf das deutsche Vorgehen zu beschränken. Genauso umfassend muß den "Stimmen der Opfer" Gehör verschafft und die "umgebende Umwelt" in beinahe zwanzig europäischen Staaten ausgeleuchtet werden. Sechs Jahrzehnte nach dem Geschehen ist dies jetzt erstmals und sogleich vollendet geglückt. Denn tatsächlich erhellt der Autor die vielgestaltige europäische Landschaft mit ihren rasch wechselnden politisch-militärischen Konstellationen und ihren eingewurzelten antijüdischen Traditionen sehr gründlich. Man erkennt, wie stark die Durchsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms auch von der Bereitschaft zur Kollaboration, von örtlicher Unterstützung und von der Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Untaten oder deren schlichter Hinnahme abhing.

Genauso bedeutsam waren die meist defensive Haltung der tonangebenden Interessengruppen und das besonders herausgestellte Versagen der Kirchen - und von Papst Pius XII. persönlich. Als moralische Instanzen versäumten sie es, das entfesselte Böse zu brandmarken und die notwendige ethische Orientierung inmitten des antihumanen Terrors zu geben. So hatte Hitler leichtes Spiel: "Nationalsozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische Strategien konnten sich bis zu ihrer extremsten Konsequenz entfalten, ohne daß irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten." Das Ausbleiben einer allgemeinen Solidarität mit den eigenen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, das auch durch noch so mutige individuelle Rettungsaktionen nicht kompensiert werden konnte, sondern das Ausgeliefertsein nur um so deutlicher hervortreten läßt, ändert freilich nichts daran, daß die Deutschen "die Anstifter und Hauptakteure" der Judenvernichtung waren. Ausschlaggebende Autorität bei deren Durchführung und ideologischer Begründung blieb immer der Reichskanzler persönlich, wie Friedländer durchgehend zeigen kann. Von der These, lokale Mordinitiativen hätten den Kurs der Zentrale vorgegeben, hält er wenig.

Der Kampf gegen das Judentum war zeitlebens Hitlers obsessives Hauptanliegen. Es war getragen von einer Weltvorstellung, die alle Ausprägungen des Politischen, Gesellschaftlichen und Kulturellen auf biologische Ursachen zurückführte. Der Nationalsozialismus sah in der als eigene Rasse verstandenen Judenheit eine tödliche Bedrohung, weil sie die erstrebte Reinheit der Rassegemeinschaft verseuche und so den Überlebenswillen der Volksgemeinschaft zersetze. Den Kern dieser Zwangsvorstellung bildete der vermeintlich rastlose verschwörerische Aktivismus des internationalen Judentums, der nicht nur das Reich, sondern die staatliche Ordnung auf der ganzen Welt unterminiere und vom Liberalismus bis zum Sozialismus, vom Kapitalismus bis zum Bolschewismus als Träger sämtlicher Weltübel fungiere. Da die Juden für die Nationalsozialisten somit in einer Art "metahistorischem Axiom" das Prinzip des Bösen schlechthin verkörperten, war es für sie mit weniger als einem "Kreuzzug zur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der Juden" nicht getan. "Erlösungsantisemitismus" nennt Saul Friedländer diese extreme Form des Judenhasses. Dem entsprach ein emphatisches "Erlösungscredo", dessen Wirkkraft Land für Land nachgespürt wird. In staunenswürdiger Kennerschaft und unter Beiziehung noch der entlegensten Quelle zeigt der Autor die propagandistische Allgegenwart des Bildes vom gefährlichen Juden, die Ausbreitung und die alltägliche Verinnerlichung einer regelrechten "antisemitischen Kultur" im besetzten Europa. Im Mittelpunkt steht dabei naturgemäß das Deutsche Reich, wo der rassistische Antisemitismus seit 1933 den Rang einer Staatsdoktrin und eine kollektive Mobilisierungsfunktion einnahm. Zwar betont Friedländer die unheimliche Fähigkeit Hitlers, "das massenhafte Verlangen nach Ordnung, Autorität, Größe und Erlösung zu begreifen und zu verstärken". Das historisch Entscheidende ist für ihn jedoch die starke Bindungskraft zwischen großen Teilen der Bevölkerung und ihrem Führer. Der flößt der Nation (die viel genauere Kenntnis vom Judenmord hat, als sie nach 1945 eingestehen mag) in der Krise des Liberalismus und nach der Katastrophe von 1918 nicht nur Gemeinschaftsgefühl und Zielbewußtsein ein; er untermauert seine Ausnahmestellung nicht allein durch frenetisch bejubelte Erfolge. Hitler verstärkt seine charismatische Anziehungskraft auch durch das ständige Hervorkehren der Bedrohung Deutschlands und Europas durch das "Weltjudentum" - ein metahistorischer Krieger in einem metahistorischen Kampf. Für Friedländer bleibt das Phänomen des furchtbaren nationalsozialistischen Erlösungsantisemitismus, das so viele bis zuletzt morden ließ, nicht unerklärlich. Die an sich rational geordnete moderne Gesellschaft, schreibt er, bleibe "durchaus offen für die ständige Gegenwart religiöser und pseudoreligiöser Anreize; möglicherweise bedarf sie auch dieser Gegenwart".

Dieses Buch untermauert wie kein anderes die Erkenntnis, daß die Treibkräfte der Judenvernichtung vor allem ideologisch-kultureller Natur gewesen sind. Mit guten Gründen verwirft er die Ansätze, die noch immer zu beweisen suchen, der Holocaust sei "lediglich eine sekundäre Konsequenz" anderer - gar ökonomischer - Zielsetzungen gewesen. Trotz seines Beharrens auf der unmittelbaren Wirkmächtigkeit von Ideologien hat Friedländer kein geistesgeschichtliches, sondern ein ausgesprochen bodennahes, die tausendfältigen Handlungskonstellationen auslotendes Panorama der Jahre der Vernichtung 1939 bis 1945 geschaffen. Der erste Teil zeigt den zynischen Terror gegen die vogelfrei gestellten und ausgeraubten Juden vom Kriegsbeginn 1939 bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Der zweite Teil beschreibt das Gemetzel im anschließenden Jahr des Massenmords vor allem in Polen, dem Baltikum, in Weißrußland und der Ukraine, der dritte Teile die Schoa ab Sommer 1942.

Den endgültigen Entschluß Hitlers zur systematischen Ausrottung sämtlicher Juden im deutschen Machtbereich sieht der Autor nach zwingender Beweisführung im letzten Quartal 1941 ("wahrscheinlich im Dezember") unter dem Eindruck erster militärischer Rückschläge und vor allem des Kriegskurses beziehungsweise des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten fallen. Da die Juden ihre wiederholt propagierte Geiselfunktion zur Abschreckung der amerikanischen Einmischung in den europäischen Konflikt nicht erfüllt haben, fallen sie, schon als Risiko für die innere Sicherheit der ins Wanken geratenen "Festung Europa", der totalen Vernichtung anheim. Doch Friedländers Buch zeichnet sich nicht allein durch seine dichte Rekonstruktion der antijüdischen Barbarei im nationalsozialistischen Europa aus. Zugleich bietet es die dramatische Geschichte des europäischen Judentums im Angesicht seiner Zerstörung. Der Autor läßt uns die Entsolidarisierung, die innere Zerrissenheit der Judenheit und die Spannungen innerhalb der einzelnen nationalen Gemeinden miterleben, die er aus ihren jeweiligen nationalen Traditionen, aus ihrer Integration oder Segregation, genauso herzuleiten weiß wie aus ihrem bis zuletzt ungewissen Abwehrkampf. Das bleibt nie abstrakt. Die jüdischen Repräsentanten und geistlichen Führer treten noch einmal ins Licht der historischen Bühne; die Judenräte der Ghettos in Warschau, Wilna, Riga oder Lodz; die jüdischen Verräter, Hilfspolizisten und Widerstandskämpfer. Ihr Optimismus, ihre Gleichgültigkeit, ihr Versagen, ihr Opfermut und ihr Heldentum werden nacherlebbar. Friedländers Urteil über sie bleibt stets um größtmögliche historische Gerechtigkeit bemüht.

Friedländer ist zudem ein Meister in der Kunst, das geeignete Zitat auszuwählen und wirken zu lassen. Aus den in großer Zahl überlieferten Tagebüchern und Briefen führt er uns die Hoffnung, die Verzweiflung und das Sterben von Millionen Männern, Frauen und Kindern vor Augen. Wir hören das imaginäre Zwiegespräch, das der Autor zwischen den Juden Europas zu arrangieren scheint, zwischen den Orthodoxen und Assimilierten, zwischen in Verstecken oder Lagern Heranwachsenden und resignierenden oder aufopferungsvollen Älteren, zwischen Frauen und Männern, über denen alle dasselbe Verhängnis schwebt. Als Chronisten ihrer selbst lassen sie überall in Europa historische Zeugnisse entstehen, und sie begleiten uns bis zum Ende des Buches. Fast keiner der betroffenen Beobachter hat überlebt. Doch ihre Notate wurden gefunden. Auf tragische Weise, schreibt Friedländer, haben sie ihr Ziel erreicht.

In ihrer Eindringlichkeit erinnert die Darstellung dieser maßlosen Tragödie an das Filmkunstwerk von Claude Lanzman. Der Chor der Stimmen - das ist Saul Friedländers Absicht - unterbricht die glatte historische Erzählung und "die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und ,Objektivität'" in der Tat höchst eindrucksvoll. So sind tiefe Fassungslosigkeit und nüchterne Gründlichkeit in einem Werk zusammengeflossen, das mehr ist als ein Höhepunkt internationaler Zeitgeschichtsschreibung: Es ist das historiographische Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Saul Friedländer: "Die Jahre der Vernichtung". Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 2006. 869 S., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2006

Die Stimmen der Opfer
Sauls Friedländers meisterhafte Gesamtdarstellung des Holocaust zeigt: Die Vernichtung war geplant und gewollt
Vor acht Jahren, im Frühjahr 1998, legte Saul Friedländer, Professor für Geschichte in Tel Aviv und Los Angeles, den ersten Band seiner Untersuchung über „Das Dritte Reich und die Juden” vor. Er hatte den Titel „Die Jahre der Verfolgung” und reichte bis 1939. In der Beurteilung waren sich nahezu weltweit alle Rezensenten einig und lobten das Buch als das beste über diesen Gegenstand; „eine gewaltige, in ruhigem Ton gehaltene Synopsis, frei vom Determinismus einer beweispflichtigen These”, wie Götz Aly formulierte.
Nun liegt der zweite Band vor, der die Ermordung der europäischen Juden zwischen 1939 und 1945 behandelt – ein Geschehen das von Deutschland ausgehend an tausenden von Orten in mehr als 20 europäischen Ländern vollzogen wurde. Friedländer gelingt eine kunstvolle Verbindung der unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten, der zahlreichen Orte und verschiedenen Zeitphasen, zusammengehalten durch einen klaren analytischen Zugriff und eine ebenso ruhige wie eindringliche Erzählweise. Vor allem aber gelingt es ihm, Handlungen und Wahrnehmungen der Beteiligten miteinander zu verknüpfen.
Souverän und präzise werden die Prozesse der sukzessiven Radikalisierung der antijüdischen Politik des NS-Staates beschrieben, die sich allmählich formenden Entscheidungen der Regimespitze, die auf immer schärferes Vorgehen drängenden deutschen Administrationen in den besetzten Gebieten. Seine Analyse der unzähligen öffentlichen und internen Äußerungen Hitlers über die Juden führt vor Augen, welches Ausmaß an Energie und Aktivitätsdruck dabei von Hitler selbst ausging – mehr als in jedem anderen politischen Feld. Friedländer beschreibt die obsessive Wut Hitlers, dessen Weltsicht sich immer ausschließlicher auf die Juden als einer unsichtbaren, aber desto gefährlicheren Kraft konzentrierte, auf die sich alles Übel der Welt zurückführen ließ.
Gleichwohl bilden Beschreibung und Analyse der antijüdischen Politik der deutschen Führung nicht den Kern dieses Buches. In den zehn Kapiteln, die chronologisch angeordnet und in drei große Phasen eingeteilt sind („Terror” bis zum Mai 1940, „Massenmord” bis zum Juni 1942 und „Shoah” bis zum Kriegsende) stehen die Stimmen der Juden selbst im Vordergrund.
Friedländer zitiert vielfach aus den überaus zahlreichen Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen und Memoiren der Verfolgten. Viele der Tagebuchschreiber werden dem Leser allmählich bekannt und vertraut, Etty Hillesum etwa, ein junges Mädchen aus Amsterdam; die nur wenig ältere Louise Jacobson aus Paris; Hertha Feiner aus Berlin, Chaim Kaplan aus Warschau, Dawid Rubinowicz aus Kielce, Herman Kruk aus Wilna – die „Jahre der Vernichtung” werden auch aus ihrer Perspektive erzählt. Ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Alltagssorgen, ihre Erfahrungen der Unterdrückung und Erniedrigung werden hier sichtbar, ebenso wie die Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit, die allmähliche Gewissheit des eigenen Schicksals.
Im achten Kapitel beispielsweise behandelt der Autor die Zeit vom März bis zum Oktober 1943; sie umfasst die letzte Phase der Ermordung der polnischen Juden sowie die Fortdauer der Deportation und Tötung der Juden aus Westeuropa. Das Kapitel beginnt mit der Wiedergabe einer hastig mit Bleistift geschriebenen Postkarte der 17-jährigen Louise Jacobson. Sie war Wochen zuvor von einem Nachbarn als jüdische Kommunistin denunziert und nach ihrer Verhaftung in das französische Durchgangslager Drancy gebracht worden. „Mein lieber Papa, traurige Nachrichten. Nach meiner Tante bin ich an der Reihe fortzugehen”, schrieb sie am 12. Februar 1943, „wir fahren morgen früh ab. Ich bin mit Freunden zusammen, denn morgen werden sehr viele abgeholt.” Sie endet mit den Worten: „Kopf hoch und bis bald, Deine Tochter Louise.” Mit dem Transport Nr. 48 wurde sie nach Auschwitz verbracht und dort nach der Selektion in der Gaskammer erstickt.
Friedländer schildert sodann die Kriegslage in diesen Monaten und das Anheizen der antisemitischen Stimmung in Deutschland. Auch Goebbels’ berüchtigte Sportpalast-Rede trug dazu bei, in der Goebbels, unter dem tobenden Beifall der Zuhörer, vieles über die Juden sagte, was aus dieser bis zum Überdruss beschriebenen Rede noch kaum zitiert wurde: „Deutschland jedenfalls hat nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu beugen, sondern vielmehr die . . ., ihr rechtzeitig, wenn nötig unter vollkommener und radikalster Ausrott-, schaltung des Judentums entgegenzutreten.” Goebbels hatte sich versprochen, er wollte „Ausrottung” sagen, wählte dann aber „Ausschaltung”. Dem Publikum war beides sehr recht: Wilder Beifall und Gelächter sind in dem Mitschnitt der Rede zu hören.
Der antisemitischen Propaganda, der beständigen Wiederholung der antijüdischen Tiraden, der immer erneuten Ankündigung der bevorstehenden „Ausschaltung” der Juden widmet Friedländer große Aufmerksamkeit. Wenn der „Führer” von den Juden sprach, wusste man in Deutschland sehr genau, wovon die Rede war. Eine Ansprache Hitlers am 24. Februar 1942 fasste die Niedersächsische Tageszeitung in der Überschrift so zusammen: „Der Jude wird ausgerottet.”
Nun wechselt Friedländer den Schauplatz und beschreibt die Haltung der mit Deutschland verbündeten Länder, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens und der Slowakei, und geht dann ausführlich auf die Deportationen der Juden in Griechenland ein, die nach dem Eintreffen der Deportationsspezialisten Rolf Günther, Dieter Wisliceny und Alois Brunner in Saloniki Anfang Februar 1943 einsetzten. Bereits wenige Tage später gingen die ersten Züge ab und innerhalb weniger Wochen waren 45 000 der 50 000 Juden aus Saloniki nach Auschwitz deportiert, wo fast alle sofort getötet wurden.
Nun fügt der Autor ein Kapitel über die Bahntransporte ein, über die logistischen Probleme der quer durch Europa fahrenden Züge, über die Vielzahl der deutschen Behörden und Stellen, die damit befasst waren – und über die Lage derer, die in diesen Zügen in die Vernichtungslager transportiert wurden: „Die Türen waren hermetisch geschlossen, Luft kam durch ein kleines Viereck von einem Fenster . . . Bald stank der Wagen nach Urin und Kot. Die Waggons standen und die Temperatur innen stieg. Panik. Ausdünstung der Körper, die es nicht mehr aushielten in der Hitze.”
Friedländer beschreibt Varianten des Desinteresses am Schicksal der Juden bei den Regierungen und Bevölkerungen der von Deutschland besetzten Länder, die Rolle der Neutralen, das Verhalten der Westmächte. Auf wen auch immer die Juden ihre Hoffnung setzten – sie wurden enttäuscht. Besonders aufmerksam verfolgt Friedländer die Haltung des Vatikans und der katholischen Kirche als der einzigen Organisation, der er eine gewisse Einflussmöglichkeit auf den Kurs der NS-Führung zumisst. Er vermerkt penibel die Äußerungen von Bischöfen und anderen Würdenträgern, so des Berliner Bischofs Preysing, der versuchte, die bereits sehr genauen Informationen über das Schicksal der deportierten Juden in der Kirche zu verbreiten und die deutschen Bischöfe zu einer öffentlichen Stellungnahme zu veranlassen. „Nächstenliebe ist gut und schön”, teilte der päpstliche Nuntius ihm mit, „aber die größte Nächstenliebe besteht darin, der Kirche keine Schwierigkeiten zu bereiten.”
Es fällt allerdings auf, dass Friedländer wirtschaftlichen Fragen wenig Aufmerksamkeit widmet; weder die Rolle der deutschen Wirtschaft bei der Verwendung der Juden als Sklavenarbeiter noch die gigantischen Transferzahlungen der von Deutschland besetzten Länder, die zu einem nicht geringen Teil aus dem Vermögen der deportierten Juden finanziert wurden, werden näher behandelt.
Erneut wechselt der Schauplatz, immer noch im Frühjahr 1943. Nach wie vor war nicht geklärt, wie die deutschen Verfolgungsbehörden mit den so genannten „Mischlingen” umzugehen hatten. Friedländer beschreibt das anhand des Schicksals von Cordelia, der Tochter Elisabeth Langgässers, 14 Jahre alt und in der Sprache der Nazis „Dreivierteljüdin”. Die Mutter hatte ihr ein Visum für Spanien besorgt, sie wechselte den Namen und legte den Judenstern ab. Die Gestapo entdeckte sie und ließ sie in das jüdische Krankenhaus bringen, in dem die Berliner Juden gesammelt wurden. Dort herrschte das Regiment der „Halbjuden” über die „Volljuden”. Die jüdischen Mädchen mussten den Männern zu Willen sein, so auch Cordelia. Als sie den Deportationszug nach Theresienstadt bestieg, war sie durchaus zuversichtlich, weil sie glaubte, dort als Säuglingsschwester eingesetzt zu werden. Die Hoffnung erwies sich als vergeblich; von Theresienstadt wurde Cordelia bald nach Auschwitz verfrachtet und dort getötet.
Unterdessen waren die Transporte aus den polnischen Ghettos in die Vernichtungslager fast abgeschlossen. Das Krakauer Ghetto wurde liquidiert, die Bewohner zum größten Teil ermordet, die übrigen ins Zwangsarbeitslager Plaszów geschickt. Ähnlich ging es in Bialystok; im Juni 1943 in Minsk, wo die Deutschen im Monat darauf 26 000 Bewohner des Ghettos massakrierten, schließlich in Wilna. Als am 19. April 1943 die Liquidierung des Warschauer Ghettos begann, stießen die Deutschen auf Widerstand.
Friedländer beschreibt den Aufstand im Warschauer Ghetto und die inneren Zerwürfnisse der verschiedenen politischen Gruppierungen der Warschauer Juden; das Leben in den unterirdischen Verstecken; die klare Einsicht der Kämpfenden in die Aussichtslosigkeit ihres Aufstands und die Entscheidung, wenigstens in Würde sterben zu wollen.
Saul Friedländers Gesamtgeschichte der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden beeindruckt durch die Fülle der Informationen, die analytische Genauigkeit und die Plausibilität des Urteils. Dabei setzt er sich explizit ab von Interpretationen, welche die Vernichtung als beiläufige Konsequenz anderer politischer Zielsetzungen des Regimes ansehen (wie die deutsche Siedlung im Osten oder die Verbesserung der Ernährungslage der Wehrmacht), oder den Judenmord als Resultat von Kompetenzchaos und Machtrivalitäten in der NS-Führung erklären wollen.
Die Verfolgungsmaschine – das ist einer der wichtigsten Eindrücke, die das Buch vermittelt, und ein Ergebnis von Friedländers intensiver Beschäftigung mit den Zeugnissen der Opfer – arbeitete präzise und unerbittlich. Sie war koordiniert und detailliert organisiert. Sie folgte einem klaren Konzept und war nichts weniger das Resultat kurzfristiger Improvisation. Das treibende Moment war der fanatische Judenhass der führenden Männer ebenso wie derer in den mittleren und unteren Dienststellen, so dass sogar solche, die keine expliziten Antisemiten waren, sich diesem Sog nicht zu entziehen vermochten.
Dieses Buch ist eines der wenigen, vielleicht das erste aus der Hand eines Historikers, das für die Beschreibung und Analyse der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden eine angemessene Form findet: durch die Vielzahl der Schauplätze und Perspektiven, durch die erzählerische Kraft und den zurückhaltenden, klaren Stil des Autors, und dadurch, dass Friedländer immer wieder diejenigen in den Mittelpunkt stellt, die litten und starben. Es sind die Stimmen der Opfer, die alle Versuche, die Geschichte des Holocaust über einen Leisten zu schlagen, scheitern lassen. Nur auf diese Weise, so betont Friedländer mehrfach, könne die Geschichtsschreibung der Gefahr der „domestizierten Erinnerung” an dieses beispiellose Geschehen entkommen.
Am Ende des achten Kapitels stehen die Erlebnisse von Aryeh und Malwina Klonicki, jungen Eltern aus Buczacz, deren Kind 1942 zur Welt gekommen war. Als die Deutschen im Sommer 1943 begannen, alle Juden der Stadt umzubringen, tauchten sie im Umland unter. „Überall in der Stadt hängen Plakate, auf denen jedem die Todesstrafe angedroht wird, der einen Juden versteckt”, notierte Aryeh in seinen Tagebuchnotizen, die später gefunden wurden. „Wenn da nicht der Hass der ortsansässigen Bevölkerung wäre, könnte man immer noch eine Möglichkeit finden, um sich zu verstecken. Jeder Hirte, jedes christliche Kind, das einen Juden sieht, meldet ihn sofort den Behörden, die keine Zeit verlieren, diesen Berichten nachzugehen. Da ist ein achtjähriger Junge (ein Christ natürlich), der den ganzen Tag in jüdischen Häusern herumlungert und der schon manches Versteck entdeckt hat.”
Schließlich ließen sie ihren kleinen Sohn bei Nonnen zurück, die ihn bei sich behielten und taufen ließen. Wochenlang irrten sie durch die Wälder von Buczacz. In der letzten Tagebucheintragung lesen wir: „Die Lage ist sehr schlecht. Die ganze Nacht hat es geregnet und am Morgen auch . . . Was können wir machen! Es ist unmöglich, noch länger hierzubleiben.” Im Januar 1944 wurden die beiden entdeckt, nach Buczacz gebracht und dort von den Deutschen ermordet. Von ihrem Sohn Adam gibt es keine Spuren.
ULRICH HERBERT
SAUL FRIEDLÄNDER: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945. C. H. Beck, München 2006. 864 Seiten, 34,90 Euro.
Das Publikum lachte laut, als Goebbels „Ausrottung” sagte
Friedländer konterkariert die domestizierte Erinnerung
Abfahrt von der Gare d’Austerlitz: Rund 5000 Juden bestiegen 1941 Waggons, die sie in französische Internierungslager brachten.
Foto: Scherl
Kinder aus dem Warschauer Ghetto werden deportiert.
SV-Bilderdienst
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" würdigt Klaus-Dietmar Henke diese Werk von Saul Friedländer. Die souveräne Verbindung einer umfassenden, nüchternen Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden mit der sensiblen Vergegenwärtigung des Leidens und Sterbens der Opfer hat ihn tief beeindruckt. Er unterstreicht, dass es sich bei dem Werk um eine Gesamtdarstellung des Holocaust handelt, die die gnadenlose Durchführung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms und die zentrale Rolle der antisemitischen Ideologie Hitlers ebenso in den Blick nimmt wie die europäische Dimension des Verbrechens sowie die Reaktionen und die Stimmen der Opfer. In ihrer Eindringlichkeit erinnert Henke diese Darstellung des Holocaust an das filmische Werk von Claude Lanzmann. Und so bescheinigt er Friedländers Werk auch die "Eindringlichkeit und Richtigkeit eines Kunstwerks".

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