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Zu wenig Zeit für zu viel Welt" - Harald Weinrichs meisterhafte Kulturgeschichte
Es ist paradox. Die Menschen leben immer länger, und die Zeit wird ihnen immer knapper. Welcher Geist oder Ungeist treibt sie zu solcher Knappheit? Auf diese Frage gibt das neue Buch von Harald Weinrich eine Vielzahl von unterschiedlichen Antworten: aus der Mythologie (Die Zeit frißt ihre Kinder) und der Geschichte (Caesarische Kürze), aus der Philosophie (Seneca: Das Menschenleben ist "lang genug") und der Theologie (Jesus: "Nur noch eine kleine Weile"), aus der Medizin (Hippokrates: "Kurz ist das Leben, lang…mehr

Produktbeschreibung
Zu wenig Zeit für zu viel Welt" - Harald Weinrichs meisterhafte Kulturgeschichte

Es ist paradox. Die Menschen leben immer länger, und die Zeit wird ihnen immer knapper. Welcher Geist oder Ungeist treibt sie zu solcher Knappheit? Auf diese Frage gibt das neue Buch von Harald Weinrich eine Vielzahl von unterschiedlichen Antworten: aus der Mythologie (Die Zeit frißt ihre Kinder) und der Geschichte (Caesarische Kürze), aus der Philosophie (Seneca: Das Menschenleben ist "lang genug") und der Theologie (Jesus: "Nur noch eine kleine Weile"), aus der Medizin (Hippokrates: "Kurz ist das Leben, lang die Kunst") und der Moralistik (Jean Paul: "Für das Begreifen ist keine Kürze zu kurz"), aus der Ökonomie (Benjamin Franklin: "Zeit ist Geld") und der Politik (Sultan Saladin: "Lass uns zur Sache kommen!"), aus der Literatur (Goethe/Faust "Werd ich zum Augenblicke sagen") und schließlich aus einem erfolgreichen Film (Lola rennt). Am strengsten verknappt ist die Zeit in Gestalt der Frist. Derenvielfach sperrige Erscheinungsformen im Alltag (Terminkalender) ebenso wie im Rechtswesen (Fristenlösung) und in der Verwaltung ("frist- und ordnungsgemäß") werden in einem zentralen Kapitel kritisch analysiert, in einem weiteren Kapitel an vierzehn literarischen Exempeln mit knappen und nicht immer tief ernsthaften Worten zur Betrachtung ausgebreitet. Wie knapp auch immer die Zeit des Lesers bemessen sein mag, für Harald Weinrichs brillante Kulturgeschichte des befristeten Lebens sollte er sich - zu seinem eigenen Vergnügen - genügend Zeit lassen.
Autorenporträt
Harald Weinrich, geb. 1927, war zunächst als Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Kiel, Köln, Bielefeld und München tätig. Seit 1992 lehrte er am College de France, Paris, wo er jetzt als Professor für Romanistik emeritiert ist. U.a. sind von ihm erschienen Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens ( 2000) und Linguistik der Lüge (2000). Ein vollständiges Schriftenverzeichnis enthält sein Buch Sprache, das heißt Sprachen (Tübingen, 2001).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Kurz ist der Lebenszipfel
Harald Weinrich hört an fremden Schläfen auf den Pulsschlag der Zeiterfahrungen / Von Kurt Flasch

Die Zeit drängt. Die Bibel sagt vom Teufel, er sei überzeugt, er habe nur wenig Zeit zur Erreichung seiner Ziele. Das war klar, solange der nahe Weltuntergang erwartet wurde. Heute erwartet fast niemand mehr das baldige Weltende, aber keiner hat mehr Zeit. Wir sind heute alle in der Situation des Teufels in der Apokalypse. Technische Verfahren der Beschleunigung haben die "Mußzeit" reduziert, die "Kannzeit" vergrößert, aber alles in allem ist unsere Zeit knapp. Warum das so ist, untersucht der große Sprachgelehrte Harald Weinrich in seinem perspektivenreichen Buch. Mit überlegener Kennerschaft wählt er eine Reihe literarischer Texte aus, die zwischen Homer und Ingeborg Bachmann das menschliche Dasein als befristet darstellen. Die literarischen Interpretationen zielen ab auf eine Theorie des befristeten Daseins; sie dienen der Gewinnung eines an der menschlichen Erfahrung orientierten Zeitbegriffs.

Nun ist Weinrich nicht der erste, der den raumbezogenen Zeitbegriff der von Aristoteles eröffneten Tradition kritisiert. Bergson und Heidegger, Hans Blumenberg und Odo Marquardt sind ihm vorangegangen. Aber neu ist - außer einer enormen literarwissenschaftlichen Erudition, - Weinrichs philologisch-medizinhistorischer Ansatz der Zeitanalyse. Weinrich geht der Etymologie des Wortes "tempus" nach und fragt, ob es Zufall sei, daß das gleichlautende "tempus, tempora" die Bedeutung von "Schläfe" hat. Nein, antwortet er, an den Schläfen haben die alten Mediziner den Puls gemessen, und der Pulsschlag, nicht die Sternenbewegung, ist der ursprüngliche Ort der Zeiterfahrung. Der Mensch ist Organismus; Zeit ist unsere sinnliche Erfahrung. Wir haben einen körperbezogenen Zeitsinn, so wie wir einen Geruchssinn haben. Wir finden die verlorene Zeit durch die Wiederkehr von Gerüchen; mit dem Geschmack des Teegebäcks kehrt die Kindheit wieder. Weinrichs Analyse folgt Marcel Proust und der Zeittheorie von dessen Vetter Henri Bergson, mit einem neuen Akzent auf dem Apriori menschlicher Leiblichkeit.

Wir haben schon deswegen keine Zeit, weil wir Organismen sind, deren Dauer befristet ist. Wer über die Zeit nachdenkt, muß bei sich selbst damit anfangen - bei seinem Pulsschlag und seinen Schläfen. Dies ist der philosophische Grundgedanke, den Weinrich in knapper Auseinandersetzung mit Zeittheorien bei Aristoteles, Kant und Heidegger skizziert.

Am Ende stellt der Leser fest, daß er ein originelles philosophisches Thesenbuch in der Hand hält. Das konnte er zwischendrin nicht erwarten, denn das Buch verfährt undogmatisch und unsystematisch, es widmet sich zum weitaus größeren Teil literarischen Gestaltungen der Erfahrung der Knappheit der Zeit. Weinrich setzt ein mit dem Aphorismus des Hippokrates: "Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst", der in seiner lateinischen Fassung (Vita brevis, ars longa) ein Dauerthema der Reflexion angeschlagen hat. Die "Kunst", von der hier die Rede ist, ist die "Heilkunst". Ärzte orientierten - anders als Astronomen und Physiker - ihren Zeitbegriff am Organismus; sie formulierten ein scharfes Bewußtsein für die Knappheit der Zeit und Wichtigkeit des richtigen Zeitpunkts. Der Spruch des Hippokrates regte Reflexionen an über das Mißverhältnis von Wissenschaft und Lebenszeit.

Vor allem seit "Wissenschaft" als unendlicher Weg, als immer weiter treibende Forschung verstanden worden ist, ging die Proportion von Daseinsfrist des Individuums einerseits und Wissensentwicklung andererseits zunehmend verloren. Wichtiger für den einzelnen wurde die Ökonomie der Zeit.

Die Zeit ist wie Geld, wir müssen lernen, sparsam mit ihr umzugehen. Sie ist ein kostbares Gut; wir dürfen sie nicht verschwenden. Weinrich verfolgt die Entwicklung dieses Motivs von Seneca über Leon Battisti Alberti zu Benjamin Franklin; distanziert, aber vielleicht immer noch zu wohlwollend diskutiert er die These Max Webers von der Entstehung des Kapitalismus als der calvinistischen Ethik der Zeitverwertung. Er interessiert sich für die modernen Techniken der Beschleunigung. Er analysiert den Einfluß neuer Medien auf die zunehmende Verknappung der Zeit. Der Zeittheoretiker und Literaturwissenschaftler wird zum Kulturhistoriker, der mit dem Blick auf den Zeitverbrauch den Verfall von Werten wie Gastfreundschaft oder Ehre beschreibt.

Weinrich gibt uns noch einmal einen Begriff von Weltliteratur. Er verfügt souverän über alle Register. Er zitiert mit philologischer Präzision; er gibt die Texte in eigenen Übersetzungen. Hier gibt es kein modisches Gerede. Er kümmert sich nicht um herrschende Epochenbilder. Er informiert klar, gegenständlich und knapp - über Zeiterfahrungen im Neuen Testament, in der griechischen Mythologie, bei Dante und Shakespeare. Er sucht die literarischen Formen für die Darstellung knapper Zeit. Das sind besonders Novellen und Balladen, auch Kalendergeschichten. Mit Sympathie gibt Weinrich eine Erzählung des Plutarch über den griechischen Politiker Phokion wieder: Phokion war ein gütiger und freundlicher Mensch. Aber man konnte ihm seine Gutherzigkeit kaum glauben, denn meist zeigte er ein finsteres und mürrisches Gesicht. Als er gefragt wurde, warum er so finster dreinblicke, antwortete er, er denke darüber nach, was er an der Rede, die er halten wolle, noch weglassen könne. Wenn das so ist, wünschen wir uns Autoren mit mürrischem Gesicht.

Dies ist ein knapp gehaltenes großes Buch, das zu literarischen Entdeckungen und philosophischen Fragen einlädt. Man legt es mit bewundernder Nachdenklichkeit aus der Hand. Einige Fragen läßt es offen. Zum Beispiel diese: Führt von der körperbezogenen Zeitanalyse ein Weg zu der Geschichte des Denkens und Dichtens? Pulsschlag und Schläfen hat jeder Hund. Aber wird die menschliche Zeitlichkeit mit der Einführung eines sinnenhaften Zeitsinns in Entsprechung zu Geruchssinn und Geschmack wirklich hinreichend beschrieben? Darüber hätte der Autor nicht gar so knapp schreiben sollen. Er hält uns nicht auf mit methodologischen Reflexionen. Aber selbstverständlich ist es nicht, wie er quer durch die Zeiten springt, von Aristoteles zu Oscar Wilde, von Homer zu Knigge. Es liegen Welten zwischen diesen Texten.

Weinrich verknappt essayistisch die Zeitdifferenzen. Damit gerät er in die Nähe der Topoiforschung von Ernst Robert Curtius. Diese war bewundernswert durch Weite des Horizonts und Präzision, aber es fehlte der historische Sinn. Weinrich arbeitet dieser enthistorisierenden Tendenz der Toposforschung entgegen, indem er jeden Autor und jeden Text sorgfältig historisch plaziert. Er achtet auf die großen kulturhistorischen Entwicklungen sowie auf die Geschichte des Geldes oder der Techniken der Zeitmessung, Aber zu einer zusammenhängenden genetischen Analyse des historischen Vorgangs der Verknappung der Zeit kommt es nur andeutungsweise. Dies dürfte zusammenhängen mit der medizinisch-naturalistischen Tendenz der Zeitanalyse, die ein Fortschritt sein mag gegenüber physikalistischen und transzendentalphilosophischen Zeittheorien, aber kaum zu einem Konzept menschlicher Historizität führt.

Weinrich hat ein substantielles, dichtes Buch in pointillistischer Darstellungsform geschrieben. Es wirft Fragen auf, die über es hinausweisen. Das ist ein weiteres Zeichen seiner außerordentlichen Qualität.

Harald Weinrich: "Knappe Zeit". Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. C. H. Beck Verlag, München 2004. 272 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2004

Eins, zwei, drei, schon vorbei
Wo lässt sich das Kleingeld der Sekündchen in Zehn-Jahres-Scheine umtauschen? Harald Weinrich verfolgt den Verlust von Zeit und Muße - am Ende unterliegt alles einer Fristenregelung
Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang” - mit dieser Sentenz des antiken Arztes Hippokrates beginnt Goethe den „Lehrbrief” für Wilhelm Meister; „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst” - mit dieser Version beschließt Schiller den Prolog zu „Wallensteins Lager”. Goethe hält sich in seinem Bildungsroman, dessen Held sich, wie Hippokrates, am Ende die Fähigkeiten eines Wundarztes angeeignet hat, an die pragmatische Einsicht des griechischen Arztes, für den Kunst soviel wie Können bedeutete. Schiller verbindet das Diktum mit einer ästhetischen Theorie - und man fragt sich: wo bleibt dabei Hippokrates?
In seinem Buch über „Kunst und Kritik des befristeten Daseins” deutet Harald Weinrich Schillers Lesart als einen „radikalen Eingriff in den zweiten Halbsatz des hippokratischen Aphorismus”. Und in der Tat antwortet Schiller auf eine sich abzeichnende medizinische Revolution, in deren Rahmen die antike Lebensweisheit ein anderes Gewicht bekommt.
Bis ins 18. Jahrhundert war die Lehre des Hippokrates akzeptiert, kommentiert und beklagt worden als traurige Einsicht in die Beschränktheit allen irdischen Daseins. Siebzig Jahre, so glaubte man bis dahin, seien dem Menschen für sein irdisches Dasein beschieden, der 35-Jährige also stehe im Zenit des Lebens. Auch die modernen Anhänger des antiken Arztes rechneten mit der knappen Zeit wie mit einer baren Münze und überlegten sich, wie man mit ihr ökonomisch haushalten könne - noch Rilkes Nikolaj Kusmitsch aus dem „Malte” wünscht sich, dass es „doch eine Zeitbank gäbe, bei der man das Kleingeld der Sekündchen in Zehn-Jahres-Scheine umtauschen könnte”.
Seit dem 18. Jahrhundert jedoch hofft die Medizin, die Lebensgrenze hinauszuschieben. Einen großen Teil ihrer Entdeckungen bezieht die Wissenschaft seither aus der Altersmedizin und ihrem Versuch der Lebensverlängerung. Trotz der Fortschritte aber blieb die antike Weisheit unumstößlich, weshalb sie umso erschreckender und verheerender aufs Gemüt des modernen Menschen drückte. Schillers bewusstes Missverständnis nun, seine Umdeutung des Begriffs „Kunst” von einer handwerklichen Kapazität zu einem ästhetischen Vermögen macht die „schöne, die heitere Kunst” zum Remedium gegen die Trauer über eine verlorene Hoffnung. „Von Heiterkeit war ja bei Hippokrates nicht die Rede”, so betont auch Weinrich. „Aber der Sache nach passt heitere Gelassenheit recht gut zur Länge der Kunst. Denn im Kontrast zum angestrengten Ernst des Lebens kann Heiterkeit sich Zeit nehmen. Das ist gerade ein Jahr vor dem Weimarer Theaterereignis auch von Hufelands 1797 erschienener ,Makrobiotik’ bestätigt worden, in der ja die Heiterkeit mehrfach als Königsweg zur Longävität gepriesen wird.”
Auf „Longävität”, auf Langlebigkeit, hofft Hufeland - und hoffen wir mit ihm - immer entschiedener. An die Stelle der Buchhaltung, die versuchte, die wenigen dem Menschen zugemessenen Jahre gewinnbringend anzulegen, beginnt er mit einer Verzögerungstaktik, die auf Mittelchen sinnt, wie denn fürs Leben noch ein Stündchen mehr herauszuschlagen sei. Schillers ästhetische Heiterkeit, die zur Entspannung des Lebensernstes beitragen soll, bietet sich als eine solche diätetische Lösung an.
Als wortverliebter Sprachwissenschaftler beginnt Weinrich seine Geschichte der „knappen Zeit” mit einer amüsanten Etymologie, die auch den mittelalterlichen Knappen nicht vergisst, der so heißt, weil er „zum Wachsen noch nicht Zeit genug gehabt” hat. Weinrich verfolgt dann die Tradition der Weisheit durch die Antike hindurch über Aristoteles, Theophrast, Seneca und Dante bis in die Neuzeit zu Alberti und Chesterfield. Sein Parcours hält sich nur lose an die Chronologie, denn schließlich ist er schon bei Hölderlin, ja bei Rilke angelangt, noch ehe er Goethes und Schillers gedacht hat.
Weinrich, das erste und einzige deutsche Mitglied des Collège de France, orientiert sich in seiner Geschichte der knappen Zeit an der französischen Mentalitätsgeschichte, an Historikern wie Braudel und Ariès. Er versucht sich daher vom Text zu lösen, die reine Motivgeschichte aufzugeben, technische Entwicklungen zu berücksichtigen und aus ihnen Änderungen des Bewusstseins herzuleiten. Alberti etwa tritt als der erste Vertreter des „Uhrenzeitalters” auf, denn bei ihm kommt „als einem Autor der frühen Neuzeit der ständige Blick auf die Uhr hinzu, die Stunde um Stunde anzeigt, wie die entweder richtig oder falsch gebrauchte Zeit vergeht. Selbst die von Seneca noch überaus geschätzte Mußezeit wird hier einer strengen Zeitkontrolle unterworfen”. Seither gehört Zeiterziehung zu jedem pädagogischen Programm, auch zu privaten Erziehungsversuchen, wie jenem des Earl of Chesterfield, der in den „Briefen an seinen Sohn” mit Anweisungen über den rechten Gebrauch der Zeit nicht spart.
Ohne Zeitdisziplin ist die Moderne nicht zu denken. Als eigentliches Schlusskapitel hätte sich denn auch das über „Fristen und Termine” gut ausgenommen. Weinrich meint damit nicht nur den vollen Terminkalender, der die Geschäftswelt umtreibt, sondern auch die Fristen im Arbeits-, Zivil- und Strafrecht oder im Kreditwesen. Ohne deutsche Philosophie aber lässt sich das Phänomen der Lebenszeit nicht tief genug ergründen, weshalb Weinrich dann doch wieder zu Heidegger zurückkehrt und mit ihm über das Ende des „Da-Seins” und die „Je-Meinigkeit” des Todes nachdenkt. Da aber Weinrich für ein Publikum schreibt, das sich die knappe Zeit, die es fürs Lesen übrig hat, nicht allzu schwer machen will, endet er dann doch statt mit der Philosophie lieber mit der Poesie, mit Geschichten, in denen den Figuren eine „Frist” gestellt ist.
Welche Leser wünscht sich, nach all dem philosophischen Nachdenken, den historischen Nachrichten und lebensweltlichen Überlegungen der Verfasser nun eigentlich? Erst beim letzten Kapitel, dem über die Poesie der Lebenszeit, bietet sich eine Antwort an. Weinrich denkt offensichtlich an zwei Lesertypen. Seine Motiv- und Mentalitätsgeschichte ist umfassend und amüsant geschrieben. Ein gebildeter Leser fühlt sich hier durchaus belehrt und unterhalten. Weinrich füllt aber gleichzeitig Seiten mit dem, was man die „Basics” des Wissen nennen möchte, mit wohlbekannten Biographien, allbekannten Buchtiteln, geläufigen Einschätzungen des Autors, von dem er gerade spricht. Wer sich aber für solch ein preziöses Thema wie den hippokratischen Satz und seine Tradition interessiert, hat diese Vorschule des Wissens längst durchlaufen. Ganz offensichtlich aber möchte Weinrich auch solche Leser zur Lektüre einladen, die bis dahin noch nicht allzu viel von ihrer knappen Lebenszeit auf die Bildung verschwendet haben. Die gutmütigen Unterweisungen geben dem Buch, unverdientermaßen, den Charakter einer Damenvorlesung. Weinrich geht es wie vielen Autoren: sie schreiben je länger je lieber und denken nicht an das scharfe Kalkül mit der knappen Zeit, dem sich der intelligente Leser unterwirft, der immer fürchtet, ihm entgehe zuviel Scharfsinn.
Harald Weinrich
Knappe Zeit
Kunst und Kritik des befristeten Daseins. C. H.Beck Verlag, München 2004. 272 Seiten, 22,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Sehr schön findet es Rezensent Ludger Heidbrink, dass der emeritierte Romanist Harald Weinrich in diesem Buch den Erkenntnissen, die er ausbreitet, treu bleibt. Er nötigt den Leser keineswegs zur Verschwendung von Lebenszeit, hält seine Beschreibungen selbst recht "knapp", ohne dass sie dadurch weniger "gehaltvoll" würden. Dargestellt werden Theorie und Praxis des Umgangs mit der Zeit durch die Jahrhunderte, von Hippokrates bis zur Gegenwart. Es geht um "Zeitmanagement" bei Alberti und um dem Umgang mit der Sterblichkeit. Die Entfristung durch den Glauben ans ewige Leben führt allerdings, wie Weinrich zeige, zu einem verstärkten "Rechtfertigungsdruck" fürs Leben im Diesseits. Das Buch glänzt durch die "Nacherzählung literarischer und philosophischer Texte", ist, so Heidbrink, - bei aller Kürze - "überaus materialreich und lesenswert".

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'Wie Weinrich die Literaturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart durchstreift, wie er in knappen Sätzen Philosophie- und sogar Uhrengeschichte treibt, gestützt durch sprachwissenschaftliche Fundamente, kurz: wie er eine allgemeine Kulturgeschichte des befristeten Lebens verfasst - das ist fabelhaft gemacht.' (Tom Heithoff, Der Tagesspiegel)