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Als historiographisches Meisterwerk wird die von Jacob Katz beschriebene traditionelle - in sich abgeschlossene - jüdische Gesellschaft Mittel- und Osteuropas bezeichnet. Der Band erschien 1961 zuerst in hebräischer Sprache und wurde danach 2x ins Englische übersetzt, bevor er jetzt in deutscher Sprache vorliegt - er hat wie kein zweiter das Bild vom vormodernen Judentum geprägt.
Jacob Katz beschreibt in seinem Hauptwerk die traditionelle, in sich abgeschlossene jüdische Gesellschaft Mittel- und Osteuropas, die durch die jüdische Aufklärung einerseits und die Frömmigkeitsbewegung des
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Produktbeschreibung
Als historiographisches Meisterwerk wird die von Jacob Katz beschriebene traditionelle - in sich abgeschlossene - jüdische Gesellschaft Mittel- und Osteuropas bezeichnet.
Der Band erschien 1961 zuerst in hebräischer Sprache und wurde danach 2x ins Englische übersetzt, bevor er jetzt in deutscher Sprache vorliegt - er hat wie kein zweiter das Bild vom vormodernen Judentum geprägt.
Jacob Katz beschreibt in seinem Hauptwerk die traditionelle, in sich abgeschlossene jüdische Gesellschaft Mittel- und Osteuropas, die durch die jüdische Aufklärung einerseits und die Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus andererseits allmählich aufgelöst wurde und so den Weg in die Moderne angetreten hat. Das zuerst 1961 in hebräischer Sprache publizierte und bereits zweimal ins Englische übersetzte Buch hat wie kein zweites das Bild vom vormodernen Judentum geprägt und zählt zu den historiographischen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts.
Autorenporträt
Jacob Katz, 1904-1998, der bedeutendste jüdische Historiker des 20. Jahrhunderts, ist in Ungarn aufgewachsen, wurde in Frankfurt am Main zum Rabbiner geweiht und studierte dort Anfang der dreißiger Jahre bei Karl Mannheim. 1936 emigrierte er nach Palästina und wirkte von 1950 bis zu seiner Emeritierung 1974 an der Hebräischen Universität zu Jerusalem (1969-1972 als deren Rektor). Zahlreiche seiner Werke wurden bereits ins Deutsche übersetzt, u.a. Zwischen Messianismus und Zionismus (1993) und Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819 (1994).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Andreas Kilcher würdigt die nun endlich auf deutsch vorliegende sozialgeschichtliche Untersuchung "Tradition und Krise" des israelischen Historikers Jacob Katz (1904-1998) als "historiographisches Meisterwerk". Wie Kilcher darlegt, beschreibt Katz - für Kilcher der "wohl bedeutendste jüdische Historikers des 20. Jahrhunderts"- in seinem Hauptwerk die langsame Auflösung der traditionellen jüdischen Gesellschaft im aschkenasischen Europa vom Elsass bis Polen im Vorfeld der Aufklärung. Kilcher hebt insbesondere den sozialgeschichtlichen Ansatz von Katz' Untersuchung hervor. Er ersetze den "chronologischen Zugang zur Geschichte" durch den Blick auf das komplexe strukturelle "Gefüge verschiedener sozialer Institutionen". So stehen bei Katz etwa die Verfassung der jüdischen Gemeinden, Familienformen, wirtschaftliche Strukturen, religiöse Institutionen und Gruppierungen im Zentrum, hält Kilcher fest. Eine große Leistung von Katz' Buch besteht für Kilcher auch darin, dass Katz sich mit diesen methodischen Vorgaben an die Beschreibung jenes mittel- und osteuropäischen Zeitraumes jüdischer Geschichte macht, der bisher gerne außer acht gelassen wurde: die jüdische frühe Neuzeit. Dabei könne Katz zeigen, dass nicht nur die wirtschaftlichen und technischen Erneuerungen und die ideellen Programme der Haskala die Modernisierung des europäischen Judentums vom Elsass bis Polen vorantrieben, sondern auch die große osteuropäische Bewegung des Chassidismus ihren Beitrag zur modernisierende "Desintegration" bestehender sozialer und religiöser Ordnungen leistete.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Der Historiker hat keine heilenden Kräuter
Jacob Katz und sein Meisterwerk zur jüdischen Gesellschaft in der Zweiten Moderne / Von Friedrich Niewöhner

Gershom Scholem, der Jerusalemer Kollege von Jacob Katz, veröffentlichte 1958 seine berühmten "Zehn unhistorische Sätze über Kabbala". Die jüdische Mystik, Kabbala, ist dasjenige, was durch Tradition empfangen worden ist. Im ersten dieser Sätze heißt es apodiktisch: "Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar."

Als Scholem dies schrieb, erschien 1958 in Jerusalem auch das Buch des Historikers Jacob Katz (geboren 1904 in Ungarn, seit 1936 in Palästina lebend) mit dem Titel "Tradition und Krise" (Masoret u-Maschber). Das Buch hat seine Geschichte: 1961 (bei The Free Press of Glencoe) und 1971 (bei Schocken) erschien es auf englisch in New York. 1993 wurde eine zweite englische Übersetzung (New York University Press) angefertigt, die im selben Jahr auch als Taschenbuch bei Schocken in New York erschien. Auf dieser Übersetzung basiert nun die deutsche Übersetzung - siebenundsechzig Jahre nachdem Katz in Frankfurt am Main von Karl Mannheim mit einer Arbeit über einen echten Mannheim-Titel promoviert worden ist: "Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie".

Das Buch "Tradition und Krise" thematisiert im Untertitel den Weg der jüdischen Gesellschaft "in die Moderne". Die hebräische Ausgabe und die englischen Übersetzungen hatten als Untertitel "Die jüdische Gesellschaft am Ende des Mittelalters". Was heißt hier "Moderne"? Katz selbst läßt keine Zweifel aufkommen: Die Moderne des neuen Untertitels ist die in seinem Buch thematisierte Krise, denn "die gesamte jüdische Vergangenheit ist in dem Übergang von der ,Tradition' zur ,Krise' gegenwärtig". Die Moderne als Krise ist somit der Ausgangspunkt der Untersuchung, was jedoch nicht heißen soll, daß Katz Heilmittel für diese Krise anbieten will. Drei Jahre vor seinem Tod in Jerusalem (1998) hat der greise Gelehrte noch einmal deutlich gesagt: "Ein Historiker, der sich der Erforschung der Vergangenheit zugewandt hat, um auf die Gegenwart einzuwirken, setzt den Lohn seiner Arbeit aufs Spiel." Katz hat immer eine wertfreie Wissenschaft betrieben.

Zur jüdischen Tradition wurden verschiedene Zugänge erprobt: Heinrich Graetz ("Geschichte der Juden von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart") und Marcus Jost ("Geschichte des Judenthums und seiner Sekten") hatten im neunzehnten Jahrhundert den chronologischen Weg gewählt. Im zwanzigsten Jahrhundert haben Jizchak Fritz Baer Lokalgeschichte ("Die Juden im christlichen Spanien") und Selma Stern Personengeschichte ("Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus") geschrieben, während Gershom Scholem ("Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen") die religionsgeschichtliche Linie verfolgte. Simon Dubnow ("Weltgeschichte des jüdischen Volkes") hatte zwar auch Institutionen berücksichtigt, doch Jacob Katz war der erste jüdische Historiker, der die jüdische Tradition rein soziologisch abgehandelt hat.

Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die Struktur der Gemeinde (kehilla) in Europa zwischen dem späten sechzehnten und der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Eingerahmt ist diese Mitte von einer Abhandlung über die "Grundlage" der traditionellen jüdischen Existenz und einem Ausblick auf die "Anzeichen des Zusammenbruchs". Diese Anzeichen findet Katz sowohl in der osteuropäischen Frömmigkeit, dem Chassidismus, als auch in der westeuropäischen Aufklärung, der Haskala. Der Tenor des Buches lautet also nicht "Von der Dunkelheit (Mittelalter) heraus ans Licht (Aufklärung)". Vielmehr: von der traditionellen, in sich geschlossenen Gesellschaft zur Aufsplitterung in verschiedene Judentümer - das jiddische der frommen Mystiker (Chassidim), das deutsche und das russische der rationalistischen Aufklärer (Maskilim) und das sich religionsneutral gebärdende Judentum nach dem Tod von Moses Mendelssohn (zum Beispiel in den Berliner und Wiener Salons). Letzteres mündete oft ein in die völlige Aufgabe der jüdischen Tradition mit ihrem Religionsgesetz und somit in die Assimilation.

Was bedeutet es für Katz, die jüdische Geschichte unter soziologischen Gesichtspunkten zu beschreiben? Katz untersucht in erster Linie Institutionen: Gemeinden, Bezirksversammlungen, Familien, seelsorgerliche und barmherzige Vereinigungen und Bruderschaften, Handwerkerverbindungen, Bildungsinstitutionen (Schulen jeder Art) und religiöse Institutionen (Rabbinat und Synagoge) sowie die Interaktion zwischen diesen Institutionen. Die wichtigste Institution der jüdischen Tradition allerdings ist das Religionsgesetz, die Halacha, welche das gesamte Leben der Juden bestimmt - das private Leben (Familie), das öffentliche Leben (Gemeinde, Schule, Synagoge) wie die Wechselwirkungen zwischen ihnen. Der Halacha sind alle Institutionen des jüdischen Lebens untergeordnet.

Der Verlauf der jüdischen Geschichte von der Tradition in die Krise ist am Ende des Mittelalters durch etwas ausgelöst worden, das Katz als "paradox" bezeichnet: durch das Bemühen nämlich, die Tradition, und das heißt an erster Stelle die Halacha, zu bewahren. "Die starke Bindung der Juden an die Vergangenheit hatte zur Folge, daß die Gegenwart an Bedeutung verlor, während die Zukunft als Zeit galt, von der man die Wiederherstellung der Werte der Vergangenheit erhoffte." Katz interpretiert die jüdische Gemeinde als eine "idealistische Gesellschaft", die "zu Kompromissen mit der Realität gezwungen" wurde und die darum von ihrer Hoffnung auf eine Wiederherstellung dieser idealistischen Gesellschaft in der Zukunft lebte. Und so führte das, was eigentlich die Tradition bewahren sollte, nämlich die Forderung nach der Gültigkeit der Halacha für alle Lebensbereiche, in die Krise. Der Optimismus der Halachisten erwies sich als eine ebensolche Illusion wie der der jüdischen Aufklärer.

Da die jüdische Tradition ohne die Berücksichtigung der Bedeutung der Halacha für die Gemeinde nicht verständlich ist, so bedeutet jüdische Sozialgeschichte zu schreiben, nicht nur die "Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden" (so ein Werk von Gustav Caro) darzustellen, sondern auch, mit einer intimen Kenntnis des Talmuds und der auf ihm basierenden religiösen Rechtsprechung zu schreiben. Diese schwierige Materie, die in dem Anmerkungsapparat eindrücklich dokumentiert wird, behandelt Katz flüssig und gut lesbar, auch für völlige Laien. Man kann das Buch auch ohne die gelehrten Anmerkungen wie einen großen Essay lesen, der einführt in die Welt einer verfallenen Tradition, die unter der Feder von Katz in ihrer Größe wie in ihrer Zwiespältigkeit lebendig wird.

Diese soziologische Studie kann aber, als ein genuin jüdisches Buch, auch gelesen werden als eine neue Geschichte der Halacha in ihren Beziehungen zu den konkreten Wirklichkeiten in der Neuzeit: Karl Mannheims Soziologie mit dem Blick eines Talmudisten. Jacob Katz, der in Frankfurt am Main ordinierte Rabbiner, hat mit diesem Buch ein faszinierendes Meisterwerk geschrieben.

Jacob Katz: "Tradition und Krise". Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. Aus dem Englischen von Christian Wiese. Mit einem Vorwort von Michael Brenner. Verlag C. H. Beck, München 2002. 382 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2003

Auf dem Anger
Jacob Katz zeigt die jüdische Gesellschaft der Vormoderne
Bis heute ist es üblich, jüdische Geschichte als Teil einer nationalen Geschichte zu schreiben: deutsch-jüdische Geschichte, l’histoire des Juifs de France, American Jewish History. Diese Einteilung verdankt sich der Historiographie des 19. Jahrhunderts, als die Historiker bevorzugt die nationale Geschichte der europäischen Nationalstaaten schrieben. Aber vor dem 19. Jahrhundert greifen diese nationalen Kategorien nicht.
Die Juden im Europa der frühen Neuzeit begriffen sich nicht als Deutsche, Franzosen oder Italiener, sondern als Teil des in den Nöten des Exils zerstreut lebenden jüdischen Volkes. Ihr Status in den heterogenen Monarchien und Fürstentümern Europas war der einer allenfalls tolerierten, oft verfolgten, durch Religion, Wohnviertel, Sprache, Essens- und Reinigungsvorschriften, Kleidung, Bart- und Haartracht von der christlichen Mehrheitsgesellschaft separierten Minderheit.
Dieser Minderheit war trotz der regional oft sehr unterschiedlichen äußeren Situation etwas gemeinsam: Die jüdische Gesellschaft in Aschkenas, also in Mittel- und Osteuropa, war vor dem Zeitalter der Nationalstaaten, der Aufklärung und der Emanzipation des jüdischen Bürgertums geprägt durch die Institution der jüdischen Gemeinde, die kehilla. Nicht die Großfamilie und nicht der Staat, sondern die soziale und religiöse Institution der Gemeinde strukturierte die vormoderne jüdische Gesellschaft des Ghetto oder des Stetl. Wie generell verbreitet diese Prägung durch die Kehilla war, beweist der Umstand, dass ein berühmter und gefragter Rabbiner wie Chacham Zwi zwischen etwa 1690 und 1720 europaweit in fast einem Dutzend verschiedenen Gemeinden amtieren konnte. Von Sarajewo bis Amsterdam, von Preßburg bis Altona versuchte er die gleichen rigiden Normen halachischer Rechtgläubigkeit und Observanz durchzusetzen – gleich ob beim Fasten, beim Beten oder beim Schlachten.
Dieses vormoderne, durch die Normen der Kehilla geprägte aschkenasische Judentum des 16. bis 18. Jahrhunderts ist der Gegenstand von Jakob Katz’ Werk „Tradition und Krise”. Es erschien erstmals 1958 auf Hebräisch und liegt nun in einer ausgezeichneten und bis in die schwierigste religionsgesetzliche Terminologie sorgfältigen deutschen Übersetzung von Christian Wiese vor. Das Buch markierte einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, wie Michael Brenner in seinem einführenden Vorwort zur deutschen Ausgabe betont. Denn Jacob Katz war ein bei Karl Mannheim noch 1935 vor der Emigration nach Palästina in Frankfurt am Main promovierter Sozialhistoriker.
Katz interessierten nicht die Höhepunkte des jüdischen Religions-, Literatur- und Geisteslebens, sondern, wie er selbst schreibt, das normale und religionsgesetzlich normierte Verhalten durchschnittlicher Juden im Alltag der Gemeinden. Damit wird die durch Heinrich Graetz geprägte Perspektive der monumentalen jüdischen Leidens- und Gelehrtengeschichte verabschiedet, die in den Jahrhunderten zwischen der kulturellen Blütezeit des jüdischen Spanien im Mittelalter und der von Mendelssohn angeführten jüdischen Aufklärung im späten 18. Jahrhundert nur finstere Zeiten des Niedergangs und Zerfalls sehen konnte. Katz macht dem Leser deutlich, dass der Blick auf die „typischen Prozesse” in der vormodernen jüdischen Gesellschaft sich von der Ereignisgeschichte und chronologischen Betrachtung lösen und stattdessen einen „Querschnitt” durch immer ähnliche, über lange Jahre stabile Lebensverhältnisse und Verhaltensnormen vornehmen muss. Erst aufgrund dieser Veränderung der historischen Perspektive wird die dominante Rolle der Kehilla richtig sichtbar. Sie ist die stabile, religiös wie sozial normierende und dabei alltägliche Struktur, welche den Kern der vormodernen aschkenasischen Tradition bildete, innerhalb derer die Juden Mittel- und Osteuropas nach eigenen Regeln und vergleichsweise unabhängig als eine religiöse und soziale Gemeinschaft leben konnten. Katz’ Quellen, auch hier betrat er Neuland, sind folgerichtig die Pinkasim (Gemeinderegister), die ethische sowie die religionsgesetzliche Literatur, und die Responsen, also die moralischen und juristischen Entscheidungen der Rabbiner, welche Streitfälle regelten und das religiös- soziale Verhalten sanktionierten.
Die Gemeinde war in Aschkenas der Mittelpunkt jüdischen Lebens. Trotz Kriegen, Hungersnöten, Pogromen, Zwangstaufen und anderen äußerlichen Veränderungen der Geschichte war die Kehilla der Raum, der vom 16. bis zum 18. Jahrhundert die jeweilige örtliche jüdische Gemeinschaft formierte und zusammenhielt. Hat sich der Blick des Historikers erst einmal von den intellektuellen Highlights der jüdischen Universalgeschichte und den Wechselfällen der europäischen Ereignisgeschichte gelöst, zeigt sich die Kehilla als der soziale und religiöse Ort, der die Kontinuität jüdischen Lebens bewahrte. Wohin immer es eine jüdische Familie verschlug, stets endete die Migration wieder in der Normalität einer Gemeinde.
Nichts für Wundermänner
Anders war dies nur in den sefardischen Gemeinden in den Niederlanden, in England, in den Hafenstädten Italiens, Nordafrikas oder auf dem Balkan. Hier hatte die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal im 15. Jahrhundert, die Zwangskonversionen und Rekonversionen der Marranen die Gemeindestrukturen über Jahrhunderte destabilisiert. Aber diese Gemeinden nimmt Katz von seinen Untersuchungen ausdrücklich aus, neuere Untersuchungen über die sefardischen Gemeinden ergänzen sein Werk eher, als dass sie es korrigieren.
Die Traditionen der aschkenasischen Kehilla gerät in der Mitte des 18. Jahrhunderts in eine Krise. Die Geltung der halachischen Tradition wird durch die Chassidim einerseits, die jüdische Aufklärung andererseits unterminiert und schließlich zu Fall gebracht. Die Krise, so Katz, lösen zwei diametral entgegengesetzte Kräfte aus, die seitdem in der jüdischen und in der europäischen Moderne alle Traditionen erschüttern: Charisma und rationale Kritik. Katz hat diese Elemente aus Max Webers Religionssoziologie auf Phänomene der jüdischen Geschichte angewandt: Die religiös, moralisch und juristisch normative Tradition der vormodernen Kehilla wird durch das Charisma chassidischer Wundermänner und ihrer ekstatischen Anhänger in Osteuropa und durch den Rationalismus der jüdischen Aufklärer und deren Kritik an der Halacha zerstört.
Am Ende des 18. Jahrhunderts setzt die moderne religiöse Pluralisierung des Judentums ein, die bis heute anhält. Es gibt liberale, konservative, orthodoxe, neo-orthodoxe und ultra-orthodoxe Gemeinden. Die heute in Deutschland existierende, vorgeblich orthodoxe jüdische „Einheitsgemeinde” ist nur noch ein fernes Echo jener vormodernen, religiös Norm gebenden kehilla, aber die Einheit wie die Einheitlichkeit bleiben eine Wunschvorstellung. Denn keine Tradition hält stand, wenn Individuen sich massenhaft der totalen Reglementierung ihres Lebens nicht mehr beugen. Wie bedrückend eng die Halacha das Leben in der Kehilla reglementierte, ist bei Katz breit geschildert. Eine Pflichtlektüre, auch für die Orthodoxen von heute.
CHRISTOPHSCHULTE
JAKOB KATZ: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. Aus dem Englischen von Christian Wiese. C.H. Beck Verlag, München 2002. 382 S., 39,90 Euro.
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"Katz hat unser Verständnis der jüdischen Geschichte zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert grundlegend verändert. Wir verstehen jetzt, dass das jüdische Ghetto in dieser Zeit nicht mehr komplett von allen äußerden Entwicklungen abgeschnitten war und dass der Weg der Juden in die Moderne lange vor iherer rechtlichen Emanzipation begonnen hat." (Arthur Hertzberg)