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Kaum ein Text des 19. Jahrhunderts - sieht man einmal von Goethes "Italienischer Reise" ab - war so prägend für die nördliche Italienaneignung wie Burckhardts "Cicerone". Ganze Generationen von Italienpilgern folgten bis heute dem Weg zu südlicher Kunstschönheit anhand dieser kundigen " Genußanleitung". Die vorliegende kritische Edition ist die erste ihrer Art. Sie rekonstruiert nicht nur die vielfältigen Quellen des Burckhardtschen Kunsturteils aus der Reise- und Guidenliteratur des 15. bis 19. Jahrhunderts. Sie weist darüber hinaus auch die Unmenge der erwähnten Kunstwerke nach ihrer…mehr

Produktbeschreibung
Kaum ein Text des 19. Jahrhunderts - sieht man einmal von Goethes "Italienischer Reise" ab - war so prägend für die nördliche Italienaneignung wie Burckhardts "Cicerone". Ganze Generationen von Italienpilgern folgten bis heute dem Weg zu südlicher Kunstschönheit anhand dieser kundigen " Genußanleitung". Die vorliegende kritische Edition ist die erste ihrer Art. Sie rekonstruiert nicht nur die vielfältigen Quellen des Burckhardtschen Kunsturteils aus der Reise- und Guidenliteratur des 15. bis 19. Jahrhunderts. Sie weist darüber hinaus auch die Unmenge der erwähnten Kunstwerke nach ihrer derzeitigen Lokalisierung und mit denjenigen Zuschreibungen und Datierungen nach, die dem heutigen Stand der kunsthistorischen Forschung entsprechen. Textgrundlage ist der "Urcicerone", der 1855 in Basel erschienen ist.
Autorenporträt
Bernd Roeck, geboren 1953, ist seit 1999 Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit an der Universität Zürich. Von 1991 bis 1999 war er Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Bonn und von 1996 bis 1999 zugleich Generalsekretär des deutsch-italienischen Kulturzentrums Villa Vigoni.
Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. 2001 erhielt er den Philip Morris Forschungspreis für Geisteswissenschaften.

Christine Tauber, geb. 1967, ist Verantwortliche Redakteurin der Kunstchronik am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München und lehrt als Privatdozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität. Zahlreiche Publikationen zur italienischen und französischen Renaissance, zur Kunstpatronage und zur französischen Kunst der Revolutionszeit.

Prof. Dr. Martin Warnke ist emeritierter Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. 1990 erhielt er den Leibniz-Preis, 2006 wurde er mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Es gefällt der gewisse zündende Funke
Ein Herkules mit Fackeln, von dessen Arbeiten sich erst die Nachwelt anstecken lassen kann: Jacob Burckhardts "Kunstgeschichte nach Aufgaben" eröffnet die neue Gesamtausgabe / Von Henning Ritter

Von seiner London-Reise im Sommer 1879 berichtet Jacob Burckhardt seinen Freunden in Basel mit nur mühsam verborgener Erregung über seinen Besuch des South Kensington Museum: "Kartons Raffaels. Von Originalarbeiten Michelangelos eine ganze Anzahl, darunter der Cupido, anderes in Abgüssen. Von Luca della Robbia bald so viel als in Florenz! Von der ganzen florentinischen Skulptorenschule die größte und herrlichste Auswahl von Originalen! ja ein ganzes Chorgewölbe einer Sakristei von Brunellesco! ganze Altäre und Grabmäler in Abgüssen! ganze Portale im Original!" Seit Jahrzehnten in Europas Museen und Galerien zu Hause, hatte der Basler Kunsthistoriker eine solche Fülle des Neuerworbenen zuvor wohl kaum gesehen. Das vor kurzem gegründete Londoner Museum mischt Originale und Kopien, Kunst und Kunstgewerbe, Erst- und Zweitrangiges mit der größten Unbefangenheit: "Was mich einstweilen ganz konfus macht, ist, daß diese Sammlung außer den dekorativen und als Schmuck angewandten Künsten so fürchterlich viele und wichtige künstlerische Originalsachen des hohen und höchsten Ranges enthält."

Ein wachsendes Interesse an alter Kunst trieb offenbar dazu an, den schon arg geplünderten italienischen Kunstmarkt mit allen Mitteln auszupressen. Burckhardt war verwirrt bei dem Gedanken an die Folgen für die Kunstgeschichte: "Wo soll das hinaus mit unserer Kunstgeschichte, wenn auf diese Weise gesammelt wird? und niemand die Gesamtübersicht mehr macht? Hätte ich ein Jahr hier zu vertun, ich würde in die Hände spucken und mich mit anderer guter Hilfe bemühen, die lebendigen Gesetze der Formen in möglichst klare Formeln zu bringen; soweit mit Worten etwas erreicht werden kann, würde ich es probieren."

Als Burckhardt dies schrieb, hatte er seit Erscheinen der "Baukunst der Renaissance" (1867) nichts mehr veröffentlicht und sogar allem Publizieren abgeschworen. Wohin die Erregungen im South Kensington Museum geführt hätten, läßt sich allenfalls erraten. Immerhin haben sich in seinem Nachlaß Manuskripte erhalten, die, 1893 zuerst publiziert und später in die Gesamtausgabe von 1934 aufgenommen, nun den Auftakt der neuen Gesamtausgabe bilden: "Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien", bestehend aus drei Stücken: "Das Altarbild", "Das Porträt" und "Die Sammler". Es sind kunsthistorische Vermächtnisse, die zu einer neuen Beurteilung auffordern. Die Abhandlung über die Sammler beispielsweise untersucht die Verhältnisse von Künstlern und Auftraggebern, wirkt in ihren Gesichtspunkten völlig frisch und gehört zu dem wenigen, was in gegenwärtigen Studien zu diesem Thema auch international immer noch zitiert wird. Der Kunsthistoriker Burckhardt ist eben nicht nur der Autor des "Cicerone", der "Kultur der Renaissance" und der "Baukunst der Renaissance" sowie der immer gern gelesenen Publikumsvorträge über kunstgeschichtliche Themen, er hat vielmehr für die Schublade ein kunsthistorisches Spätwerk vorangetrieben, das nicht einmal von seinem folgenreichsten Schüler Heinrich Wölfflin verstanden und aufgegriffen wurde.

Man hätte dies schon längst als Hinweis darauf nehmen können, daß Jacob Burckhardt nur am Rande zur deutschen Kunstgeschichte gehört, die sich an den Universitäten mächtig entwickelte. Zwar lehrte er selbst in Basel neben der Geschichte auch Kunstgeschichte, in seinen späten Jahren sogar ausschließlich, aber er vermied die engere Berührung mit dem Fach und seinen Fachkollegen. Schon der Untertitel seines "Cicerone" - "Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens" - wies mit dem heute philiströs anmutenden Wort darauf hin, daß es nicht primär um historische Belehrung ging, sondern darum, das Verhalten anzuleiten.

Burckhardts zehn Jahre später erschienene "Kultur der Renaissance" war auf Kunstwerke nur äußerst zurückhaltend eingegangen, was damit erklärt werden konnte, daß der Verfasser ein eigenes umfangreiches Werk über die Kunst der Renaissance angekündigt hatte. Was dann erschien, die "Baukunst der Renaissance in Italien", war nur mehr ein Bruchstück des ursprünglichen Plans. Vor allem aber blieb ein Werk aus, das Kunst- und Kulturgeschichte integrieren sollte. Es gehörte zu den weitreichenden publizistischen Plänen, die der junge Burckhardt gehegt hatte und dessen Verwirklichung man gerade von ihm als dem Meister der kulturgeschichtlichen Darstellung erwartete. Aber Burckhardt gab die wissenschaftlichen Publikationen ganz auf und beschränkte sich für die restlichen Jahrzehnte auf seine Vorlesungen an der Universität und auf Vorträge vor dem Basler Publikum.

Was war geschehen? Offenbar schreckte er vor jener Art von Forschung zurück, zu der er selbst den Anstoß gegeben hatte, vor den institutionellen Bahnen, in die sie gelenkt worden war, und vor der Spezialisierung, die sie mehr und mehr verlangte. Burckhardt reihte sich bei den Dilettanten ein, bei den Kunstliebhabern und Kennern. Dadurch bewegte er sich in einem europäischen Horizont. Er stand den Liebhabern und Sammlern näher als den Vertretern der jungen Kunstwissenschaft, die es nur im deutschsprachigen Raum gab. Ein ums andere Jahr reiste er nach Italien, nach Paris, nach London, studierte die Sammlungen und Museen, sah die Weltausstellung und wahrscheinlich viel mehr an zeitgenössischer Kunst, als wir aus seinen Briefen erfahren.

Francis Haskell hat schon dem jungen Burckhardt bescheinigt, daß dieser "ein derart breites kunsthistorisches Verständnis" gewann, "daß Ruskin dagegen geradezu provinziell wirkt"; wie wenige sonst in Europa sei Burckhardt darauf vorbereitet gewesen, das Zeugnis der bildenden Künste für das Verständnis der Geschichte zu nutzen. Von Ruskin und anderen Kunstpropheten der Zeit unterschied ihn allerdings auch, daß es ihm an missionarischem Temperament fehlte. Daraus zu schließen, daß er keine "Mission" hatte, wäre freilich ein Irrtum: Er beschränkte seine Mitteilungen vielmehr auf einen kleinen Kreis von Schülern und Freunden, darüber hinaus allenfalls auf das gebildete Publikum seiner Heimatstadt, das bei seinen Vorträgen anwesend war.

Der Austausch mit jungen Fachkollegen beschränkte sich weitgehend auf die Bearbeitung der Neuauflagen des "Cicerone", die er Jüngeren, wie dem aufstrebenden Wilhelm Bode, anvertraute. Und doch war der Ruf des kommenden Kunsthistorikers, der ihm trotz aller Versuche der Camouflage vorausging, nicht unbegründet, auch wenn er sich auf seine früheren Veröffentlichungen und das aus ihnen ablesbare Programm einer Verbindung von Kunstgeschichte und Kulturgeschichte bezog. Von dieser Absicht entfernte sich Burckhardt allerdings immer mehr. Er sah seine Versuche in dieser Richtung als gescheitert an und arbeitete statt dessen für sich an einer "Kunstgeschichte nach Aufgaben": Die Abhandlungen über das Altarbild und das Porträt sind Beispiele dafür.

Während diese Texte Musterbeispiele einer solchen Kunstgeschichte sind, unternimmt die Abhandlung über die "Sammler" den höchst originellen Versuch, Bedingungen und Antriebskräfte der Kunst freizulegen am Beispiel des italienischen "Privatbesitzes und Privatgeschmacks". Die Verehrung einer Kunst, der antiken, in deren großer Zeit der Privatgeschmack und Privatbesitz keine Rolle spielten, traf, Burckhardt zufolge, in Italien zusammen mit einer neuen Art des Sammelns, Bestellens und Besitzens von Kunst für die häusliche Andacht oder den privaten Genuß. Vieles an der Kunstproduktion wird nun Gegenstand des Sammelns, wodurch sich Themen und Darstellungsweise verändern, eine neue Art von Malerei und Skulptur hervorbringen.

Der Autor verbirgt, was er aus Quellen, Reiseeindrücken und Galerienotizen zusammenfügt, unter dem Mantel der Bescheidenheit: "Ahnung und Vorschläge, Nachrichten und Vermutungen". Wovon handelt Burckhardt auf diesen zweihundert Seiten: vom Sammeln, vergleichenden Urteilen und von der Konkurrenz der Sammler und Künstler, von der Einwirkung der Hausandacht auf die Feinmalerei und überhaupt die Qualität von Bildern, die von Generation zu Generation im Haus vererbt werden und "dauernde und nahe Besichtigung" vertragen müssen. Geschildert wird die Rolle der holländischen Malerei, deren Bilder ein Jahrhundert lang aus Holland bestellt werden und den Geschmack der reichen Leute prägen.

Burckhardt schildert, wie sich Gewohnheiten des Sehens und Sammelns bilden und wie die Kunst in dem großen Strom der "Individualistik" ihren Part übernimmt. Es entsteht ein Stil des Sammelns, dessen höchste Stufe es wird, "von verschiedenen Meistern Vorzügliches oder auch das Beste zu erwerben", unübersehbar ein geistiger und moralischer Fortschritt des Aufnahme- und Urteilsvermögens. Und in all dem behält die antike Kunst, mit den besonderen Bedingungen ihrer Verfügbarkeit, eine bestimmende Rolle: Sie zuerst und am mächtigsten werde "nicht als bloßer Besitz betrachtet, sondern als Gegenstand künstlerischen Studiums". Mitteilung, Gespräch, kunstliterarische Diskussion schließen sich an. Besondere Anstrengungen der Künstler und besonderes Einvernehmen zwischen Besteller und Maler lassen jene Kunstwelt hervorgehen, deren Erzeugnisse die Glanzstücke der Galerien und Sammlungen der Zeit Burckhardts und der heutigen sind.

Die Fülle der Gesichtspunkte macht es nicht leicht, ein solches, hier auf ein paar Aspekte zusammengedrängtes, in Wahrheit weit ausgreifendes Unternehmen bündig zu charakterisieren. Auch hier hat Burckhardt eine prägnante Formel gefunden: "Die Triebkräfte, welche das Ganze der Kunst beherrschten, die Präzedentien, von welchen der einzelne Meister bei seinem Schaffen bedingt war, treten hier in den Vordergrund." Sieht man einmal von den unersetzlichen Quellentexten der Kunst ab, so lassen wenige Texte der Kunstgeschichtsschreibung in vergleichbarer Weise einen ganzen Kontinent aufleuchten - freilich in flackerndem Licht und vielleicht nur für Augenblicke. Das Erstaunliche für uns ist dabei, daß ein verehrendes, in unseren Augen altmodisches Verhältnis zur großen Kunst die Nüchternheit aufbringt, in alle Winkel der Tatsächlichkeit, in das alltägliche, das wirtschaftliche Verhalten und die elementaren geistigen Orientierungen der Vergangenheit hineinzuleuchten. Nüchterner als Burckhardt kann man mit Gegenständen der höchsten Bewunderung nicht umgehen, auch das Eingeständnis ihrer begrenzten irdischen Dauer fehlt nicht. Vielleicht hat nur in diesen späten Texten, denen noch seine "Erinnerungen aus Rubens" an die Seite zu stellen sind, die deutschsprachige Kunstgeschichtsschreibung eine Brücke zu jener englischen, französischen und heute amerikanischen Kunstforschung geschlagen, die den Begriff des Geschmacks nie preisgegeben hat und dem lebendigen Sammeln nahe geblieben ist. Burckhardt ist heute für uns die Brücke zu den lebendigen Kunsteindrücken und -gedanken des neunzehnten Jahrhunderts.

Ein Rätsel ist, daß der Rang seines Spätwerks bisher kaum erkannt wurde. Daß die neue Gesamtausgabe hier einen Anstoß zur Revision gibt, wäre zu wünschen. Vergegenwärtigt man sich diese Fülle der Themen, die Burckhardt im raschen Durchgang aufruft, so sieht man diese Kunstgeschichte etwa im Werk des jüngst verstorbenen Francis Haskell sich abzeichnen. Er bewegte sich in seinen Untersuchungen über Künstler und Auftraggeber des Barock, über die Geschichte des Geschmacks und des Ausstellungswesens und allgemein in einer Verhaltensgeschichte der Kunst in Burckhardts Spuren. Man nenne es nur nicht Kunstsoziologie, um diese Fragen nicht gleich wieder in methodologische Diskussionen und Zuständigkeiten zu verwickeln.

In allen seinen kunstgeschichtlichen Arbeiten wollte er sich von jeder Art von Kunstphilosophie absetzen. Es gibt keine "Ästhetik" Jacob Burckhardts. Daß vor einigen Jahren eine Vorlesung mit diesem Begriff im Titel veröffentlicht und jetzt in den zehnten Band der neuen Gesamtausgabe aufgenommen wurde, kann daran nichts ändern. Die knappe Erklärung zu Beginn der "Einleitung in die Ästhetik der bildenden Kunst" ist deutlich genug: Sie will "keine Begriffsdefinitionen und keine Einleitung von Plato und Aristoteles an" geben und begnügt sich mit der Feststellung: "Ästhetik ist die Beziehung des gebildeten Menschen zur Kunst, a) zum Sehen überhaupt b) speziell zum Kunstschönen, tausendgestaltig wie das Innere des Menschen und wie die Kunst selbst." Ästhetik bedeutete für Burckhardt also allenfalls wahrnehmenden Umgang mit der Kunst. Philosophische Ästhetik, besonders jene, die sich an die philosophische Bewegung in Deutschland seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert angeschlossen hatte, lehnte er ab. Die Rede von der "Idee des Kunstwerks", die auch in der Kunstgeschichte der Zeitgenossen Burckhardts ihre Spuren hinterlassen hatte, war ihm zuwider, er sprach gar vom "stinkenden Philosophenhochmut", der von der "Idee" des Kunstwerks rede, um darüber zu herrschen.

Die Kunst sollte von Diktaten aller Art freigehalten werden, es war das Glück der Griechen, daß sie ihre bildenden Künstler als Banausen verachteten und nicht für wert hielten, ihnen Vorschriften zu machen. So dachte Burckhardt nicht daran, die Kunstgeschichte, die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts an die Stelle der Ästhetik trat, zum pflichtmäßigen Organ für den Umgang mit der Kunst machen zu wollen: Das Verhältnis zum Kunstwerk und zur Kunst sollte auch nicht in dem aufgehen, was die Kunstforschung über die Kunst zu sagen hatte. Insofern überrascht es nicht, daß bedeutsame Überlegungen über die Kunst auf höchster Stufe der Verallgemeinerung in den Vorlesungen "Über das Studium der Geschichte" versteckt sind.

Die als "Weltgeschichtliche Betrachtungen" berühmt gewordenen Aufzeichnungen über die Illusionen des Fortschritts und der historischen Größe und über die Lebensmächte der Religion, der Kultur, des Staates und über die geschichtlichen Krisen enthalten eingestreute Bemerkungen zu einer Anthropologie, wie man es allenfalls nennen könnte. Auch hier prägnante Formeln, fast Schlagworte: "die Kunst eine Verräterin". Der Kerngedanke ist einfach: Sosehr die Kunst, vor allem in ihrer Frühzeit, durch die Religion bedingt sein mag und in Abhängigkeit von ihr lebt, sie übt doch auch Verrat an ihr, indem sie die Inhalte veräußerlicht und entweiht, sie "ausschwatzt", die Andacht vertieft, aber auch veräußerlicht, überhaupt nur "freie Bündnisse" mit der Religion schließt, sich anregen läßt, um dann doch ihrer "hohen und unabhängigen Eigentümlichkeit" zu folgen.

Zwischen Abhängigkeit und Freiheit, zwischen Belebung und Erstarrung, zwischen Weihe und Profanation schwanken Religion und Kunst in ihrem Verhältnis zueinander: Als "wundersam zudringliche Verbündete" charakterisiert Burckhardt die Kunst, die sich auch "unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem Tempel weisen" lasse und sie noch darstelle, wenn der Glaube, "wenigstens bei den Gebildeten", längst erloschen sei. So wie der Autor der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" die großen "Potenzen" des geschichtlichen Lebens wechselseitig aufeinander einwirken, zur Unabhängigkeit drängen und in Abhängigkeit verharren läßt, hat er auch die Kunst als eine vieldeutige Mitspielerin eingeführt.

Was sonst die Philosophie mit metaphysischen Weiheformeln zu sagen sich bemühte, wird von diesem Beobachter des Tatsächlichen, dem es vor allem darum geht, "den Dingen ihr Geheimnis abzulauschen", nur angedeutet. Unzuverlässigkeit des Geistes in Verbindung mit schöpferischer Energie wird ihm zur Antriebskraft für ein verwirrend wechselvolles Geschehen. Am Ende ist die Kunst für Burckhardt die Macht, Unersetzliches hervorzubringen, aufgrund unbeherrschbarer Bedingungen: Immer ist damit zu rechnen, daß um ein weniges ein Raffael nicht entstanden wäre. Die Bedingungen solchen Hervortretens lassen sich ebensowenig absichtlich erzeugen wie von neuem herbeiführen, nachdem ihr Augenblick einmal vorübergegangen ist.

Auch deswegen ist die Kunst "die Uhr, welche die Stunde verrät". Wenn die Kunst es uns nicht geben würde, so wüßten wir nicht, daß es vorhanden wäre: In diesem merkwürdigen Spruch behauptet sich eine durch Zweifel und Scheu des Pathos zu einem Minimum des Ausdrucks verdichtete Verehrung der Kunst. In seiner lakonischen Mitteilung geistiger und künstlerischer Erfahrungen ist Burckhardt vielleicht der nüchternste seiner Zeitgenossen, mit dem kleinsten Gepäck an anspruchsvollen Überzeugungen, aber mit dem eindrucksvollsten Vermächtnis - der Hingabe an geistige Spontaneität.

Die neue Gesamtausgabe wird es aufgrund einer Vielzahl aus dem Nachlaß erstmals veröffentlichter kunstgeschichtlicher Arbeiten möglich machen, Jacob Burckhardts Einsichten in ihren vielen Verzweigungen nachzugehen. Bisher war der Leser bei vielem auf Referate und Zitate in Werner Kaegis sieben Bände umfassender Biographie angewiesen. Jetzt sind neben einer erweiterten Ausgabe der Vorträge insgesamt fünf Bände zur Kunst des Altertums, des Mittelalters, der Renaissance, des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sowie - bisher weitgehend unbekannt - Galerie- und Reisenotizen angekündigt. Ein Vorgriff auf diese Folge von Bänden zur Kunst ist die "Ästhetik der bildenden Kunst", die zusammen mit der Neuausgabe der vielbeachteten Edition der handschriftlichen Fassung der "Vorlesung über das Studium der Geschichte" erscheint, die Peter Ganz 1982 vorgelegt hatte.

Den Grundsätzen der Gesamtausgabe entsprechend, die von Redundanzen abzusehen verpflichten, beschränkt sich der Herausgeber diesmal auf das sogenannte "Alte Schema" und das "Neue Schema" und verzichtet auf die "Einleitung in das Studium der Geschichte", auf "Unbestimmte Blätter", auf "Zwischenblätter" und "Übersichtsblätter", die in der Ausgabe von 1982 rund hundert Seiten ausmachten. Da es sich zum großen Teil um Entwürfe und Übersichten handelt, versteht sich von selbst, daß starke Überschneidungen mit den für die Vorlesung weiter ausgeführten Texten bestehen müssen, andererseits leisten die jetzt ausgeschiedenen Texte für den Leser das, was sie für ihren Autor leisteten: eine rasche und prägnante Übersicht. Insofern ist ihr Ausscheiden zu bedauern.

Die Einzelausgabe von Peter Ganz wird für das Studium der Textgenese und für die Geschichte der Formulierung unentbehrlich bleiben. Statt dessen erhält der Leser jetzt im Anschluß an das von Burckhardt hinterlassene Manuskript die Überarbeitung durch seinen Neffen Jacob Oeri, die unter dem berühmt gewordenen und nach wie vor gebräuchlichen Titel "Weltgeschichtliche Betrachtungen" 1905 erschienen ist. Der Vergleich beider Fassungen stellt dem Neffen ein exzellentes Zeugnis aus. Er hat sich, geleitet von seinem Respekt vor Burckhardt, weitgehend darauf beschränkt, Sätze zu vervollständigen und bloße Andeutungen vorsichtig zu restaurieren. Man wird künftig gerne wieder auf seinen Text zurückgreifen, mit dem Text der handschriftlichen Fassungen als Kontrolle und den nützlichen Anmerkungen.

Jacob Burckhardt: "Werke. Kritische Gesamtausgabe". Herausgegeben von der Jacob Burckhardt-Stiftung, Basel. Verlag C. H. Beck, München, und Schwabe Verlag, Basel 2000.

Band 6: "Das Altarbild. Das Porträt in der Malerei. Die Sammler. Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Stella von Boch, Johannes Hartau, Kerstin Hengevoss-Dürkopp und Martin Warnke. 592 S., geb., 178,- DM.

Band 10: "Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte". Mit dem Text der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" in der Fassung von 1905. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Peter Ganz. 695 S., geb., 198,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Cicerone war als Reisebegleiter konzipiert worden für Kunstfreunde mit 'genussfähigen Augen', wie der Rezensent Hanno Helbling den Autor zitiert. Dabei sei der Band aber nicht als Fremdenführer misszuverstehen, sondern vermittle gleichsam den Eindruck, auch mit den Augen Burckhardts zu sehen. Burkhardt bleibe in seiner Didaktik zwar "diskret", aber doch "unüberhörbar", wie Helbling schreibt. Immer schwinge eine gewisse Sorge um ein "bedeutungsvolles Menschenbild" in den Ausführungen mit. Helbling lobt enthusiastisch die ausgiebige Kommentierung durch die Herausgeber, die "Perfektion der textkritischen Anmerkungen und weiterer editorischer Zutaten". "Beglückt" verfolgt er das Fortschreiten der ganzen kritischen Edition.

© Perlentaucher Medien GmbH
"... ein Gewinn für Leserinnen und Leser, die den ganzen und den besten Burckhardt kennen möchten." (Hanno Hlebling, Neue Zürcher Zeitung)