Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 15,00 €
  • Buch

"Wenn man Italien verstehen will, sollte man den Baedecker weglegen und Theologie studieren", sagt der italienische Journalist Beppe Severgnini. Tatsächlich ist der italienische Umgang mit Religion oft nicht leicht zu verstehen. Kirchengeschichte und Papstgeschichte allein lösen die Rätsel noch nicht. Don Camillo ist doch eher das Produkt literarischer Phantasie als Abbild der Wirklichkeit. Die Frage nach dem Religiösen in der italienischen Gesellschaft der Moderne, nach der Bedeutung des Christentums katholischer Konfession wird in Italien breit diskutiert. Immerhin war und ist die…mehr

Produktbeschreibung
"Wenn man Italien verstehen will, sollte man den Baedecker weglegen und Theologie studieren", sagt der italienische Journalist Beppe Severgnini. Tatsächlich ist der italienische Umgang mit Religion oft nicht leicht zu verstehen. Kirchengeschichte und Papstgeschichte allein lösen die Rätsel noch nicht. Don Camillo ist doch eher das Produkt literarischer Phantasie als Abbild der Wirklichkeit. Die Frage nach dem Religiösen in der italienischen Gesellschaft der Moderne, nach der Bedeutung des Christentums katholischer Konfession wird in Italien breit diskutiert. Immerhin war und ist die italienische Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit ja katholisch. Aber was ist damit eigentlich ausgesagt? Was bedeutet es für die politischen Ideen, für die Gesellschaftsentwürfe und für die "nationale Identität" der Italiener? Die Beiträge dieses Buchs spannen den Bogen von der italienischen Nationalstaatsbewegung im 19. Jahrhundert bis in die Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und der großen Säkularisierungsdebatten der frühen Siebziger Jahre. Sie gehen der Frage nach, wie im öffentlichen Diskurs Italiens Religion und Politik, Staat und Kirche, religiöser Glauben und ziviles Bürgerethos zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Die Aufsätze gelten den italienischen Wortführern der Debatten ebenso wie den sozialen Organisationen und Strukturen und werden ergänzt durch vier Portraits prominenter Intellektueller und Politiker, die je auf ihre Weise versucht haben, die machtvolle Präsenz des Katholizismus in Italien kulturell zu deuten und religiös und politisch zu handhaben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2016

Zeugnis des Beichtvaters
Francesco Traniello über Italien und seine Katholiken

Wiewohl das große europäische Nachbarland weltweit zu den führenden Wirtschaftsmächten zählt und seinen festen Platz im Konzert der "G 7" hat, gelangt die Wahrnehmung Italiens hierzulande selten über Klischees hinaus. Häufig verharrt sie in blanker Ignoranz. Auch wird niemand behaupten wollen, dass dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, dem in Rom geborenen Mario Draghi, in den deutschen Medien der gebührende Respekt widerfahre. In diesem Umfeld ist jeder Versuch willkommen, der zur erleichterten Kenntnis der Apenninenhalbinsel beiträgt - wie jetzt der ins Deutsche übersetzte Essay-Band von Francesco Traniello.

Abgesehen von der kleinen jüdischen Minderheit und dem kaum größeren Grüppchen der Waldenser, ist Italien faktisch monokonfessionell, aber das Verhältnis von Staat und Kirche - historisch bedingt - alles andere als einfach. Der emeritierte Ordinarius der Universität Turin spannt einen großen, immens kenntnisreichen Bogen von der nationalen Einheitsbewegung des Risorgimento (ein Begriff, der sich ohne die starke Präsenz der Kirche im Geistesleben kaum etabliert hätte) bis hin zu Alcide De Gasperi, dem ersten Ministerpräsidenten des Nachkriegsitalien. Der Klerus selbst war im Risorgimento alles andere als homogen. Im österreichisch besetzten Veltlin etwa entwickelte er - als intellektuelle Speerspitze - prononciert nationale Züge. Im Kirchenstaat sah es dagegen ganz anders aus. Über De Gasperi fügte sich die Karriere einer eminent wichtigen Figur des republikanischen Italien: Giulio Andreotti. De Gasperi hatte den jungen Römer und Juristen während seines Exils in der vatikanischen Bibliothek entdeckt. Der vielfache Ministerpräsident, Minister und schließlich Senator - selten verlegen um ein Bonmot - quittierte während seiner langen, durchaus auch turbulenten Karriere einen gescheiterten Zwergenaufstand der jungen Democrazia Cristiana gegen ihn, indem er ein Wort von Papst Julius IV. zitierte: "Dies hätte ich nicht einmal Christus verziehen." Notabene, ohne fürchten zu müssen, nicht verstanden zu werden.

Der Katholizismus hat in Italien eben auch eine sehr weltläufige, bildungsstarke und intellektuelle Note. Man denke nur an die einflussreiche Laienbewegung "Comunione e Liberazione" (CEL) und einen Exponenten wie Giovanni Bazoli, den langjährigen Chef der Großbank "Intesa Sanpaolo". Bazoli hat nicht die geringste Mühe, in der führenden Wirtschaftszeitung des Landes ("Il Sole 24 Ore") ganzseitig einen Essay zu schreiben über die ethischen Grundlagen von Bank, Kredit und Kapitalzuweisung zur Mehrung des Allgemeinwohls. Bazoli ist wahrscheinlich auch in Italien nicht der Regelfall, aber außerhalb des Landes derzeit unvorstellbar.

Kirche und Kapital bilden in Italien keinen Gegensatz. Die "Banco Ambrosiano" entstand auf Initiative eines Geistlichen. Wer die Aktien zeichnen wollte, war gehalten, einen Taufschein und ein Leumundszeugnis des Beichtvaters beizubringen. Aber auch diese Hürden verhinderten schlussendlich nicht ihr dramatisches Ende. Ihr letzter "chief executive" wurde kunstgerecht erhängt unter der Blackfriars-Brücke in London aufgefunden.

Dank Silvio Berlusconi, dem mehrfachen Ministerpräsidenten, Medienbesitzer und Initiator nie gekannter TV-Vulgarität, definiert sich Italien heute mehr über tiefe Dekolletés und kunstvoll blond gefärbte Haare als über Taufscheine und Marienandachten. Aber Berlusconi selbst mit seinem altsprachlichen Abitur ist ein Zögling des Salesianer-Ordens. Seine Lehrer werden kaum je behauptet haben wollen, dass er in der Schule etwas "fürs Leben gelernt" hätte.

Die geistlichen Kollegien sind in Italien - ähnlich wie in der katholischen Schweiz - ein wichtiger Pfeiler des Erziehungswesens. Auch Umberto Bossi, der langjährige Lega-Nord-Führer und Erfinder der fiktiven Nordregion "Padania", vertraute seinen Sohn den Patres an. Dies hinderte ihn aber keineswegs, in aller Öffentlichkeit den "Professoren aus dem Süden" das schulische Versagen seines Sohnes anzulasten. Im Zweifelsfall sind in Italien ebender Katholizismus und der Süden an allem schuld. Außer an der extrem schwachen Geburtenrate.

IGNAZ MILLER

Franceso Traniello: Katholizismus und politische Kultur in Italien. Mit einem Vorwort von Martin Baumeister und übersetzt von Christiane Liermann. Aschendorff Verlag, Münster 2016. 318 S., 29,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ignaz Miller erfährt viel über Italien mit Franceso Traniellos "kenntnisreichem", sich von der nationalen Einheitsbewegung des Risorgimento bis hin zu Alcide De Gasperi spannendem Essay: Dass Italien quasi monokonfessionell ist, welche Rolle Andreotti spielte und der Katholizismus für die Intellektuellen und umgekehrt, wie Kirche und Kapital verbandelt sind und dass die geistigen Kollegien ein bedeutender Pfeiler des Erziehungswesens sind. Um die klischeeselige Wahrnehmung Italiens ein bisschen der Realität anzugleichen, ein unverzichtbares Buch, findet Miller.

© Perlentaucher Medien GmbH