Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer
  • Seitenzahl: 288
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 436g
  • ISBN-13: 9783378006287
  • ISBN-10: 3378006285
  • Artikelnr.: 08978234
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2001

Vater in der Tiefkühltruhe
Beschneit: Annett Gröschner holt die DDR aus dem Kälteschlaf

Die Zeiten des "Leselands DDR" sind vorbei, aber einige Jahre nach seinem Ende ist der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden zum Erzählland geworden. Zum Land, über das gerade von jüngeren Autoren mit viel Lust am historischen Detail erzählt wird, in diversen Tonlagen, die vom Ostalgisch-Weichgestimmten über das Behäbig-Dokumentenechte bis zum Kritisch-Komischen reichen. Die westdeutsche Lebensform, die sich einfach weiter in die Zukunft fortsetzt, kann offenbar nicht die gleichen Erzählanreize bieten wie eine rundum abgeschlossene Vergangenheit.

Zu den eigenwilligsten Erscheinungen dieser ostwärts gewandten Literatur gehört der erste Roman der 1964 in Magdeburg geborenen, in Berlin lebenden Annett Gröschner. "Moskauer Eis" lautet der Titel, der bei allen Eingeweihten unwillkürlichen Speichelfluß auslöst, denn das Moskauer Eis mit seinem verschwenderisch hohen Milchfettanteil gehörte zum Feinsten, was die DDR ihren ansonsten nicht genußverwöhnten Bewohnern bieten konnte. Der Umschlag des Buches erhöht den Ostalgieverdacht. Er zeigt putzige Requisiten der DDR-Alltagskultur, ein Stück sehr trendige VEB-Blümchentapete und drei Plaste-Eislöffel mit aufgedruckten Lieblingsnamen wie "Maik".

Aber putzig und sentimental geht es in diesem Roman gerade nicht zu. Erzählt wird eine bizarre Familiengeschichte, in der zugleich die Geschichte der DDR wie im Zerrspiegel sichtbar wird. Die Kobes, zu Hause auf einer Magdeburger Elbinsel, haben sich mit Leib und Seele allem Gefrorenen verschrieben. Der Eisschrank ist nicht nur der private Mittelpunkt der Familie, in der Kälteingenieure den Ton angeben. Der Großvater, Vertreter der vom Pioniergeist angetriebenen Aufbaugeneration, arbeitet als Kühlanlagenkonstrukteur, der Vater ist Gefrierkostentwickler. Tochter Annja, die Hauptfigur und Erzählerin des Buches, jobbt als Eisverkäuferin auf dem Berliner Alexanderplatz und gehört zur kritischen Wendegeneration, die auch gegenüber dem Westen kalt geblieben ist.

Die Kobes haben sich die Vervollkommnung und Erweiterung der Kühlkette bis zum Endverbraucher zum Ziel gesetzt. Mit einiger Mühe überzeugt man die Regierenden davon, daß die "Gefrierkonserve die modernste Form der gesellschaftlichen Verpflegung" ist. Schöne Utopie: "Eines Tages würden alle Menschen ihren Blumenkohl zu Hause einfrieren." Zwar wird die "Blitzkost" sogar im Weltall ausprobiert, man ist dem Westen wieder einmal um Längen voraus, aber bald macht der irdische Alltag im Realsozialismus den Traum von der vitaminschonenden Rundumversorgung zunichte. Wenn nicht gerade etwas fehlt, läuft zumindest etwas falsch. Man muß einsehen, daß die Kühlkette in der Mangelwirtschaft nicht zu schließen ist. Auf höhere Anordnung widmet sich der Vater fortan kleineren Zielen. "Wissenschaftlich einwandfreie Eiskrem" heißt die neue Vorgabe.

Es ist ein Lesevergnügen, wie Annett Gröschner ihre Gefrierthematik mit vielfältigen Frostmotiven entfaltet und auf allen Ebenen episodenreich durchspielt. Sogar Annjas weibliche Entwicklung hängt entscheidend mit dem Moskauer Eis zusammen, das dem Vater endlich gelungen ist. Es verschafft dem magersüchtigen Mädchen zur Freude der pfeifenden Männerwelt Körperrundungen. Auch für das Ende der DDR findet die Autorin das passende Bild: An den Straßenrändern stehen die aus den Wohnungen gewiesenen Ostkühlschränke Spalier. Der irrwitzige Realismus, der über die absonderlichsten Details verfügt, ergibt eine groteske Perspektive auf das öffentliche und private Leben in der DDR. Die auf der Hand liegende Symbolik des allgegenwärtigen Wärmeentzugs wird nur selten überstrapaziert, der Erzählton ist passend auf feinfrostigen Sarkasmus gestimmt. Zumindest die Kühlkette dieses Buches ist so dicht geschlossen, daß der Ausbruch der Mutter - sie flieht nach Ost-Berlin, um etwas Warmherziges wie Kulturwissenschaften zu studieren - merkwürdig anmutet wie in der kalt-hermetischen Welt von Kafkas "Schloß" die Erwähnung des sonnigen Spanien, über die sich einst Adorno kritisch wunderte.

Viel Gutes ist über dieses Buch zu sagen. Aber auch nach Einwänden muß man nicht lange suchen. Sie betreffen zum geringeren Teil die Gefahr, daß wie bei Thomas Brussig alles und jedes zur Anekdote gerinnt. Die engen politischen Winkelverhältnisse, in denen man überall schnell an Grenzen stoßen konnte, bieten sich an zur anekdotischen Engführung von Privatleben und Zeitgeschichte. Für die lustige Ethnologie des DDR-Alltags genügen schon ein paar Markennamen oder Blüten des amtlichen Jargons; auch die mit allem Ernst betriebenen Münchhausen-Projekte der DDR-Ernährungswissenschaft wie die Versuche, aus Möhrenbrei Tomatenketchup oder aus unreifen Tomaten Zitronat zu gewinnen, garantieren Heiterkeit. Satirische Anekdoten werden allerdings selten um der Figuren willen erzählt, die in ihnen bloß exemplarisch agieren, und wenn sie der Charakterisierung dienen, sind die Figuren damit erschöpfend auf den Punkt gebracht. Ein Roman von einigen hundert Seiten lebt jedoch von entwicklungsfähigem Personal. In "Moskauer Eis" ist es ebenso beschränkt wie die Verhältnisse. Das gilt an erster Stelle für den Vater, diesen kleinkarierten Schemen sozialistischer Pflichterfüllung, der sich mit fügsamer Miene in alle Zumutungen der Realgroteske einlebt.

Ein viel größeres Problem hat dieses Buch mit seinem zweiten Handlungsstrang. Die Gefrierforscher-Saga ist ja nur die ausschweifende Vorgeschichte, die irgendwann in eine Geschichte münden muß. Auf der Ebene der erzählten Gegenwart aber herrscht Ratlosigkeit. Im Wechsel mit den Episoden aus der Vergangenheit berichtet Annja Kobe, wie sie im Winter 1991/92 ins kaputte Magdeburg zurückkehrt, um ihre sterbende Großmutter zu pflegen. Der Vater hat gerade im Auftrag der Treuhand sein Lebenswerk, das Kälteinstitut, abgewickelt, worauf er sich der neuen Zeit auf ihm gemäße Weise entzieht: Er liegt bei minus 18 Grad in der Tiefkühltruhe, obwohl diese nicht an den Stromkreis angeschlossen ist - ein Wunder? Der Roman macht viele Worte um diesen mysteriösen Gefriervorgang; ist es Selbstmord, oder hat sich der Vater für bessere Zeiten kaltgelagert? Am Ende weiß die Autorin selbst nicht recht, was sie mit dem starrgefrorenen Vater anfangen soll, der als Bild für die Opfer der Treuhand so aufdringlich ist wie der Prolog des Buches mit seinen metaphernseligen Räsonnements über die Wendezeit. Da könnte man beinahe vergessen, daß "Moskauer Eis" ein weit überdurchschnittliches Debüt ist, mit dem sich Annett Gröschner als markante Stimme im Chor der Berliner Literatur ausweist.

WOLFGANG SCHNEIDER

Annett Gröschner: "Moskauer Eis". Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000. 287 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2001

Die Kühlmacher
Annett Gröschners kältetechnisches Romandebüt „Moskauer Eis”
Der Vater liegt in einer Gefriertruhe, und die Tochter, die ihn entdeckt hat und sich die Truhe von starken Männern an ihre Aufenthaltsorte nachschleppen lässt, fühlt sich auch nicht so richtig wohl. Denn der Vater geht nicht den Weg allen Fleisches. Sein Körper bleibt unverändert, obwohl die Gefriertruhe nicht ans Stromnetz angeschlossen ist und somit der Leichnam nicht gekühlt wird.
Wo befinden wir uns? In Absurdistan? Und womit haben wir es zu tun? Mit einem Mysterium, einem Menetekel, einer symbolträchtigen Situation? Von allem etwas. Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, erzählt in ihrem Debütroman vom Leben in der DDR, einem Land, das – wie der Vater – ganz schön tot ist und über dem dennoch der Sargdeckel noch nicht geschlossen ist.
Im Prolog beschreibt die Autorin die soziologische Basis einer Existenz in der DDR: Es herrschten „Stillstand im Raum und Zeit”, „die Horizonte waren abgesteckt”, „die Uhren gingen langsam”. Dieser kühl-distanzierten Feststellung kontrastiert sie dann eine Familiengeschichte, die bunt, widersprüchlich von subjektiven Verrenkungen und (vergeblichen) Selbstbefreiungsversuchen unter den Bedingungen der Parteidiktatur kündet.
Prophet im eigenen Land
In den Weihnachtstagen 1991 hat sich die Ich-Erzählerin Annja mit ihrer gefüllten Gefriertruhe in die Wohnung ihrer Großmutter zurückgezogen. Sie hat die alte Frau, die niemanden mehr erkennt, aus dem Krankenhaus eigenmächtig mitgenommen und wird sie nun in den nächsten Wochen bis zu ihrem Tode pflegen. Doch ihre wahre Tätigkeit ist das Erinnern: In Rückblenden erzählt sie sich und uns die Geschichte der Kühldynastie Kobe. Großvater Paul hatte zur Nazizeit begonnen, Lebensmittel tiefzukühlen und es dann in der DDR sogar zum Nationalpreis III. Klasse gebracht. Doch der wirkliche Held des Romans ist Klaus Kobe, der Vater der Ich-Erzählerin, „der oberste Kälteingenieur des Landes”, der einen beharrlichen und tragikomischen Kampf gegen die Mangelwirtschaft seines Landes führt. Dreißig Jahre arbeitet er im „Kälteinstitut”, ein Prophet der Tiefkühlkost, der in unendlichen Versuchsanordnungen die Voraussetzungen für ein schöneres Leben schaffen will, für eine bessere Zukunft, in der die Kühlkette endlich geschlossen sein wird und jeder Bürger aus der Gefriertruhe gesunde Gerichte holen und in wenigen Minuten zubereiten kann. Welch ein Fortschritt, welch ein Segen, sagt sich Klaus Kobe und sprengt unermüdlich gegen die Windmühlen der Bürokratie an.
Doch wie es jedem Utopisten ergeht: Die Welt rümpft die Nase, und die Nachwelt flicht ihm keine Kränze. Die Vakuumgefriertrocknung, für die er beinahe wie sein Vater den Nationalpreis III. Klasse erhalten hätte, wird vom staatlichen Plankomitee verworfen, und er muss sich fortan mit der Erfindung neuer Eissorten, wie zum Beispiel dem „Moskauer Eis”, begnügen. Und so macht er Eis mit Pflanzenfett (was scheußlich schmeckt) und Sorbet aus Austauschstoffen. Und wie seine Kollegen aus der Lebensmittelbranche, die aus grünen Tomaten Zitronat und aus Möhrenbrei Tomatenketchup herstellen, gibt er nicht auf.
In einer Gesellschaft, in der nichts funktioniert und alles zerbröselt, wirkt jeder lächerlich, der nicht zynisch oder gleichgültig wird, sondern vielmehr störrisch an Idealen, und sei es dem Ideal eines wohlschmeckenden Speiseeises, festhält. Insofern erleben wir in Annett Gröschners Buch die Tragödie eines lächerlichen Mannes, eines Mannes, dessen Frau ihn verlässt, weil sie seinen Kampf um flächendeckende Eisversorgung nicht mehr erträgt, und dessen Tochter ihn zwar wegen seiner Obsession verehrt, ihm sich aber immer mehr entfremdet.
Das Schöne an der Moritat vom Eismann: Hier klingen viele Töne an, von komisch bis traurig, von melodramatisch bis lakonisch. Doch keiner dominiert, und sentimentale Töne meidet die Autorin glücklicherweise konsequent, vor allem, wenn Annja von ihren eigenen Erfahrungen als Mädchen und junge Frau erzählt. Die Stichwörter ihres Alltags: Enge, Dunkelheit, Mangel und – Verfall. Häuser und Wohnungen verfallen, aber auch die menschlichen Beziehungen. Alles treibt auf ein Ende zu. Aber auf welches? Der Vater, der auch als Kommunalpolitiker aktiv ist, geht am Wahltag mit seiner Urne zu den Wählern, damit das erwünschte Ergebnis von knapp 100 Prozent erzielt wird. Es klappt, natürlich, und ist doch vergeblich. Eine Episode, die wie im Brennglas die Wirklichkeit des angeblich real existierenden Sozialismus einfängt. Authentisch und zugleich von parabelhafter Eindringlichkeit.
Und dann? Dann ist alles vorbei. Das Kälteinstitut des Vaters wird nach der Wende evaluiert und abgeschafft. Der Westen übernimmt die DDR, aber das ist schon eine andere Geschichte. Ein Geheimnis aber bleibt: Wie war das eigentlich mit dem Vater in der Gefriertruhe?
Annett Gröschner ist eine Erzählerin mit grimmigem Humor, die gern auch in die dunklen Ecken schaut. Ihre Sprache ist direkt und anschaulich, manchmal wünschte man sich etwas mehr Stilwillen und Konzentration, wie auch die Nebenfiguren prägnanter gezeichnet sein könnten. Ihre Erzähllust und gelegentlich auch -wut sind jedoch groß genug, um den Leser immer wieder einzufangen. So gelingt es ihr, in ihrem Buch auf ganz eigene Art die abseitige Geschichte der DDR zu erzählen, die letztlich die alte deutsche Geschichte ist: von fehlgeleitetem und enttäuschtem Idealismus, von der Qual gesellschaftlicher Enge.
CLAUS-ULRICH BIELEFELD
ANNETT GRÖSCHNER: Moskauer Eis. Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000. 288 Seiten, 34 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein Erinnerungsbuch, eine Familiengeschichte und ein mit Irrwitz und Realismus hantierender DDR-Roman wird hier besprochen. Karl-Heinz Ott hat das Buch offenbar gern. Ihm gefällt, wie die junge Autorin, statt zu urteilen, "einzig Anspruch auf ein `es war einmal` erhebt" und mit Komik erzählt, "was im Grunde nur mit Wut zu ertragen ist". Dass sie das Bild eines Lebens in der DDR entstehen lässt, das "so schillernd wie jedes andere auf der Welt sein konnte", macht den Rezensenten staunen. Dies um so mehr, als die Leichtigkeit und der Witz des Buches die Trauer nicht verdecken könnten über das Vergangene, das immer zuerst das Eigene sei.

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