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Produktdetails
  • Verlag: Volk und Welt
  • Seitenzahl: 381
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 626g
  • ISBN-13: 9783353010971
  • ISBN-10: 3353010971
  • Artikelnr.: 24141365
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2000

Vom Stammtisch direkt zur Polizei
Wie man persönliche Gegner mit einer gezielten Denunziation aus dem Rennen wirft
KAROL SAUERLAND: Dreißig Silberlinge. Denunziation, Gegenwart und Geschichte, Verlag Volk und Welt, Berlin 2000. 381 Seiten, 44 Mark.
Schon Caesar sagte, er liebe den Verrat – den Verrat zu seinen Gunsten freilich, nicht aber den Verräter. Diese kluge Einsicht in Politik und Moral nutzte dem starken Mann der späten römischen Republik bekanntlich wenig, als seine Stunde schlug („auch du, mein Freund Brutus?”). Dabei stand der Begriff der Denunziation im römischen Recht anfangs wertfrei für eine Mitteilung seitens ein privater Person wie auch einer Behörde. Erst in neuerer Zeit versteht man darunter eine Anzeige aus niederer Gesinnung. Ein Denunziant ist verhasst, und er weiß, was er tut. Die Tat kann bloßer Tratsch sein, aber auch üble Nachrede, oder sie kann abzielen auf Verrat und Konspiration. Meist geht sie auf persönliche, niederträchtige Motive zurück. Massenhaft tritt das Phänomen erst in der Moderne auf, hat Karol Sauerland herausgefunden. Sein Buch über die Denunziation bringt Staunenswertes zu Tage über den Abbau von Instanzen informeller sozialer Kontrolle durch das Dorf, die Familie und die Kirche – und über die Zunahme des unschönen Verrats.
Der bekannteste Denunziant war Judas Ischarioth. Mit seinem berühmten Kuss verriet er Jesus – sei es um lächerlicher „30 Silberlinge” willen oder aber im Übereifer religiöser Gefolgschaft: Jesus sollte, so die weniger bekannte Deutung des Judaskusses, vor den mit Rom verbündeten Hohepriestern endlich offenbaren, dass er der wahre Messias ist.
Zeigen, wer er ist
Weniger bekannt ist der Fall der Helene Schwärzel, die im August 1944 beim Richten des Frühstückstischs in einem Wirtshaus in Conradswalde einen Gast den Nazis auslieferte. Carl Goerdeler wurde von ihr verraten – um einer Ordnung willen, deren Kollaps längst absehbar war. Es „wäre doch gefährlich gewesen, nichts zu unternehmen” gegen diesen Mann des Widerstandes, auf dessen Kopf eine Million Reichsmark ausge-setzt waren, sagte sie.
Sauerland stellt dennoch fest, dass finanzielle Motive meist ebenso sekundär sind wie ideologische. Den „meisten Denunziationen lagen private Motive zugrunde, die nur äußerlich als politische frisiert wurden'. So etwa, als eine Ehefrau ihre Bekannte anschwärzte, diese höre Feindsender. Tatsächlich ließ sie die Bekannte hochgehen, weil diese ihren Mann angezeigt hatte, der aus dem besetzten Frankreich zwei Teppiche mitgehen ließ.
Mit Akribie und einer Fülle an neuer Fachliteratur geht der polnische Autor, der in Warschau und Thorn deutsche Literatur und Ästhetik lehrt, dem Phänomen unter den verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen nach. Dabei untersucht er vor allem die Mechanismen im NS-System und im „KGB-Reich”. Dazu zählt auch die DDR, wo ein ungeheurer Apparat von „Informellen Mitarbeitern” (IM) oder „Offizieren im besonderen Einsatz” (OibE) ins Spitzelsystem eingebunden war. Das hatte Konsequenzen bis nach der Wende: „Als die DDR ihrem Ende zuging, stand (der verstorbene) Ibrahim Böhme an der Spitze der in der DDR neugegründeten SPD, der IM de Maiziere an der Spitze der sich aus der Nationalen Front lösenden CDU mit dem IM Kirchner als Generalsekretär daneben; der IM Schnur war bis zu seiner Enttarnung Leitfigur des Demokratischen Aufbruchs'.
Im historischen Teil wird verständlich, wie Menschen unter den Bedingungen der Diktatur „funktionieren”. In der Nazizeit etwa war die Bereitschaft zur Denunziation so groß, dass die Machthaber ihre Gefolgsleute mitunter „zurückpfeifen” mussten, nicht jedem bösen Geschwätz zu folgen. Häufigste Anlässe für eine Denunziation in der NS-Zeit waren Homosexualität, der Kontakt mit Fremdarbeitern, die sexuelle Beziehung mit einem Juden und Desertion. Mit 30 000 vollstreckten Todesurteilen wegen „Wehrkraftzersetzung” leistete sich die Militärjustiz im Krieg den Verlust von zwei Divisionen, merkt der Autor an. Die Haltung der Deutschen erklärt sich für Sauerland letztlich „aus einem radikalen ahumanen Denken' heraus. In vielen Fällen bildete „das Wirtshaus den Ausgangspunkt für Denunziationen”, häufig waren die Grundlage Nachbarschaftskonflikte, manchmal die eigene Frau, die ihren lästigen Mann loswerden wollte. Bedienstete suchten in Anwürfen gegen ihre Chefs die Chance, sich an ihrer Herrschaft zu rächen.
Im zweiten Teil wagt Sauerland sich außerhalb der Chronologie an eine freilich recht unübersichtliche Typologie dieses Unwesens im Laufe der Jahrhunderte. Er stellt fest, mehrheitlich sei in den unteren Schichten denunziert worden; und im Dritten Reich sei eine Anzeige selten anonym eingegangen. Die Opfer waren meist sozial deklassierte, ideologisch verfemte Gruppen, insbesondere Juden.
Doch es gab auch Fälle, in denen etwa ein ganzes Dorf oder eine Gruppe von Kollegen den Denunzierten schützen konnten. So konnte im antisemitischen Polen einst ein Jude von einem jüdischen Gestapoagenten verleumdet und von einem deutschen Gestapomann gerettet werden, der mit diesem im Ersten Weltkrieg im selben Regiment gedient hatte. Auch sieht der Autor die Bereitschaft keineswegs auf autoritäre Gesellschaften beschränkt. So kommt es auch heute vor, dass ein Nachbar seinen Mitbewohner wegen einer Scheinehe mit einer Ausländerin anzeigt. Selbst manches outing im Fernsehen oder im anonymen Internet ähnele dem Phänomen, so Sauerland.
Letztlich, so der Autor, gehe die Denunziation auf die uralte Furcht zurück vor „den Nichtsesshaften, den Vagabunden, den Zigeunern, Bettlern, Arbeitslosen, Kranken, Juden, Flüchtlingen und Exilanten”. Deren Wurzellosigkeit (sprich Freiheit) empfänden die in fest gefügte Lebensweisen eingebundenen Normalbürger mitunter als Bedrohung. Der Ausgegrenzte werde zur Verkörperung des Bösen: „Er ist der Ungläubige, der Konterrevolutionär, Volksfeind, Antisozialist, Antikommunist, steht im Bündnis mit dem Teufel, dem Feind . . .”
KONRAD WATRIN
Der Rezensent ist Journalist in
Hamburg.
IM Ibrahim Böhme: mitteilsam nur dann, wenn es um andere ging.
Foto: AP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2000

Das Männlein spitzelt nicht allein
Denunzianten als Helfer bei Massenverwaltungsverbrechen

Karol Sauerland: 30 Silberlinge. Denunziation: Gegenwart und Geschichte. Verlag Volk und Welt, Berlin 2000. 381 Seiten, 44,- Mark.

August Heinrich Hoffmann, genannt von Fallersleben, wußte, wovon er sprach, als er sich seinen Reim auf die Demokratenverfolgung machte: "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." Hoffmann verlor 1843 wegen seines Engagements für politische Freiheit und deutsche Einheit sein Amt als Germanistikprofessor in Breslau und ging außer Landes. Ein 1974 in der Bundesrepublik als Lizenzausgabe herausgegebenes DDR-Lexikon "deutschsprachiger Schriftsteller" würdigte Hoffmann von Fallersleben als "Klassiker des Kinderliedes". Zu "seinen gelungenen Leistungen" zählten die damals tonangebenden Germanisten aus Ost und West die beliebten Verse "Alle Vögel sind schon da", "Ein Männlein steht im Walde", "Kuckuck, Kuckuck" und "Maikäfer, flieg". Zum "Lied der Deutschen" wird knapp vermerkt, daß Hoffmann es aus Sorge "über die Zersplitterung Deutschlands schuf" und es "bis heute von Imperialisten und Faschisten nationalistisch mißbraucht wird".

Im Zuge der Revolution von 1848 wurde Hoffmann politisch rehabilitiert und finanziell entschädigt. Nach der Revolution von 1918 erwählte sich die Weimarer Republik das mit Haydns Melodie unterlegte Freiheitsgedicht Hoffmanns als Nationalhymne. Mit der demokratischen Revolution von 1989 erblühte das alte Lied von "Einigkeit und Recht und Freiheit" ganz unerwartet in neuem Glanz. Aber auch Hoffmanns Vers vom größten Lumpen im ganzen Land kehrte in den Zitatenschatz des Alltags einer sich neu konstituierenden gesamtdeutschen Realität zurück, nachdem das bestürzende Ausmaß der Spitzelei im SED-Regime bekannt wurde.

Gut ein halbes Jahrhundert nach Margret Boveris bahnbrechender Studie über das Jahrhundert des Verrats legt der Warschauer Germanist und Mathematiker Karol Sauerland eine Kulturgeschichte der Denunziation vor, die mit Judas beginnt und bei "Vera am Mittag" endet. Zwar gerät auch der heutige Boulevard- und Talkshow-Voyeurismus bisweilen zur öffentlichen Denunziation, doch die Geschichte, die Sauerland erzählt, enthält unzählige und viel schlimmere Beispiele, in denen böse Zungen rechtschaffene Bürger um ihren Ruf, ihre Existenz oder gar um ihr Leben gebracht haben. Sauerland vergleicht im ersten Teil seiner Studie die Denunziation und Spitzelei des "Dritten Reiches" mit der im "KGB-Reich". Der zweite Teil des Buches bietet einen historischen und systematisch-begrifflichen Zugang zum Phänomen des Denunziantentums.

Bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) waren 1936 rund 7000 Personen angestellt. Die Zahl der verdeckt arbeitenden V-Leute war entsprechend niedrig. Die russische Tscheka verfügte 1921, drei Jahre nach der bolschewistischen Machtübernahme, bereits über 280000 Geheimpolizisten, der polnische Sicherheitsdienst 1948 über 30000 hauptamtliche Beamte und 53000 Spitzel. Für den Staatssicherheitsdienst der DDR arbeiteten 1989 mindestens 83985 hauptamtliche und 176000 Inoffizielle Mitarbeiter.

Die Gestapo hätte ohne eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung ihre Aufgaben nicht erfüllen können. Sie schwamm gleichsam auf einem "Meer von Denunziation", schreibt Sauerland. Über 80 Prozent der politischen Strafverfahren wurden durch die Eigeninitiative von Denunzianten in Gang gesetzt. Die hohe Zahl der bereitwillig und freiwillig erstatteten Anzeigen überraschte nach der Machtübernahme sogar nationalsozialistische Spitzenfunktionäre. Reichsinnenminister Wilhelm Frick forderte 1934 in einem Erlaß eine Eindämmung der "des nationalsozialistischen Staates unwürdigen Erscheinung des Denunziantentums". Reinhard Heydrich verlangte zwei Tage nach Kriegsbeginn in seinen "Grundsätzen der inneren Staatssicherung", daß "gegen Denunzianten, die aus persönlichen Gründen ungerechtfertigte oder übertriebene Anzeigen gegen Volksgenossen erstatten", entschieden vorzugehen sei: "in böswilligen Fällen durch Verbringung in ein Konzentrationslager".

Das spontane Denunziantentum war für die Geheimpolizeien der kommunistischen Staaten von untergeordneter Bedeutung, meint Sauerland. Der "eigentliche Impuls" ging hier von oben aus, von den Parteiführungen und den Sicherheitsdiensten. Dort wurden die Listen der zu verhaftenden und zu erschießenden Personen erstellt, dort wurden die Parteiüberprüfungen eingeleitet und dort wurde die Anzahl der auszuschließenden Parteimitglieder festgelegt. Die NSDAP kannte parteidisziplinarisch nichts auch nur annähernd den kommunistischen Säuberungen Vergleichbares. So beziffert Sauerland die Zahl der 1968 "im Rahmen einer großangelegten antisemitischen und antiintellektuellen Kampagne" aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossenen Personen auf 230000.

Die kommunistischen Sicherheitsdienste suchten sich im Unterschied zur Gestapo ihre Denunzianten selbst aus, und sie verpflichteten sie dauerhaft und über Jahre zu einer konspirativen und inoffiziellen Zusammenarbeit. Sie schufen ein neues System "des staatlich gelenkten denunziatorischen Klatsches" und erwarteten von ihren Spitzeln bei den regelmäßigen geheimen Zusammenkünften überhaupt nicht, daß sie etwa eindeutig Strafbares mitteilen würden. Gefragt wurde begierig nach kleinsten Details aus dem Alltag - wann, wo, wie, wer mit wem, wer ist wer? -, ja sogar Freundschafts- und Liebesverhältnisse waren von Belang. Die bürokratisch angeleiteten Staatssicherheits-Spitzel sollten gar nicht aus Zufall oder im Affekt handeln. Sie verfügten im Unterschied zu nationalsozialistischen Denunzianten zumeist nicht über die Tatherrschaft, weil sie nicht wußten, wofür ihre zahlreichen und beliebigen Mitteilungen von den Führungsoffizieren verwandt wurden.

Am Ende sind die kommunistischen Geheimpolizeien an ihren überbordenden Spitzelberichten regelrecht erstickt und weithin in bürokratischen Leerlauf verfallen. Die DDR-Staatssicherheit hinterließ trotz einer zur Zeit der Modrow-Regierung in Gang gesetzten Aktenvernichtungsorgie 180 laufende Kilometer, der polnische Sicherheitsdienst sogar 200 Aktenkilometer. Über die Hinterlassenschaft des KGB liegen noch nicht einmal Schätzwerte vor.

Im letzten Kapitel seiner Studie wendet sich Sauerland der Frage nach der Bestrafung von Denunzianten und Spitzeln zu und bestätigt, daß ihre justizielle Aufarbeitung kaum möglich ist. Gerechterweise müßte nämlich eine ganze Tätergruppe, die an dem jeweiligen "Massenverwaltungsverbrechen" beteiligt war, auf der Strafbank sitzen. Damit aber können klassische Gerichtsverfahren, die nach der Rechtsverletzung des Einzeltäters suchen, nicht dienen. Am Ende gibt es eine Unzahl von Untaten und Opfern, aber keine Täter mit einem rechtsbrecherischen Handlungswillen. So blieb es nach dem Ende der zweiten Diktatur wie nach der ersten bei dem Grundsatz: Was einmal Recht war, kann später nicht Unrecht sein. Der Rechtsstaat kann politische Verbrechen der vorausgegangenen Unrechtsregime nur unpolitisch beurteilen und spricht deswegen ihre Zuträger frei. Den Gerichtssaal müssen Spitzel und Denunzianten nicht fürchten. Es bleibt nur das Licht der Öffentlichkeit, das ihnen auf der Seele brennt.

JOCHEN STAADT

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die verschiedenen Denunziationsstile in den Diktaturen des 20.Jahrhunderts hat der polnische Literaturwissenschaftler in diesem Buch aufgezeigt, und Elke Schuberts Besprechung zeichnet vor allem die Ergebnisse nach. "Art und Ablauf der Denunziation" erzählt immer auch etwas "über die Art des totalitären Staates", heißt es da. Motive, die Art der Berichterstattung und die Sprache der Denunziation unterscheiden sich erheblich: unter den Nazis wurde viel an eine anonyme Behörde weitergegeben, in der Regel zeichneten die Denunzianten mit ihrem Namen. In der DDR und Polen dagegen wurde in ausführlichen Gesprächen zwischen IM und Führungsoffizier eine geradezu intime Beziehung hergestellt. Wenn die Gestapo mit Material überschwemmt wurde, waren die Motive der Denunzianten meist nicht politisch, sondern speisten sich aus Ehekonflikten, Sozialneid und Nachbarschaftsstreit. In Polen, das als Beispiel einer östlichen Nachkriegsdiktatur vorgeführt wird, wurde dagegen mehr aus politischer Überzeugung gepetzt, wobei die potenziellen Denunzianten zuerst von Geheimdienstlich aufwendig überzeugt werden mussten. Nicht ganz gelungen findet Elke Schubert die Einteilung des Buches und hätte sich mehr konkretes Material zusammenhängend dargestellt gewünscht, das hier manchmal zugunsten des analytischen Zugriffs auseinandergerissen wird. Interessant immerhin auch der Hinweis, dass heutzutage und allenthalben weiterdenunziert wird: bei Finanz- und Ordnungsämtern.

© Perlentaucher Medien GmbH
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