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3 Kundenbewertungen

Einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren begibt sich mit diesen grandiosen Roman auf die Suche nach der Zeit.
Nicht weit von Genf, der Stadt der Atomphysiker, Diplomaten und Uhrmacher, liegen die unterirdischen Anlagen des Kernforschungszentrums CERN. Als an einem sonnigen Augusttag eine Besuchergruppe wieder ans Tageslicht tritt, ist die gesamte Genfer Region, ja ganz Europa in einen Dornröschenschlaf gefallen. Die Besucher bewegen sich wie in einer "Fotografie der Welt". Steht die Zeit still? Was ist geschehen? Hat der Teilchenbeschleuniger eine Zeitkatastrophe verursacht? Die 70…mehr

Produktbeschreibung
Einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren begibt sich mit diesen grandiosen Roman auf die Suche nach der Zeit.

Nicht weit von Genf, der Stadt der Atomphysiker, Diplomaten und Uhrmacher, liegen die unterirdischen Anlagen des Kernforschungszentrums CERN. Als an einem sonnigen Augusttag eine Besuchergruppe wieder ans Tageslicht tritt, ist die gesamte Genfer Region, ja ganz Europa in einen Dornröschenschlaf gefallen. Die Besucher bewegen sich wie in einer "Fotografie der Welt". Steht die Zeit still? Was ist geschehen? Hat der Teilchenbeschleuniger eine Zeitkatastrophe verursacht? Die 70 "Chronifizierten" müssen mit einer traumatischen Situation von Einsamkeit, Macht und Ohnmacht zurechtkommen, Theorien entwickeln und Strategien des Zusammenlebens erproben. Obwohl für sie die persönliche Zeit weiterläuft, in der sogar Kinder geboren werden, sind sie scheinbar in alle Ewigkeit gefangen in der 42. Sekunde um 12:47 dieses Sommertags - bis nach fünf Jahren aus wahrhaft heiterem Himmel die Weltzeit plötzlich für 3 kostbare Sekunden weitertickt. Aus ihrer Lethargie gerissen, sammelt sich die inzwischen durch Krankheiten und mörderische Auseinandersetzungen dezimierte Gruppe zu einem "finalen Experiment". In diesem furiosen Roman schießen die erzählerischen Momente wie in einem Teilchenbeschleuniger zusammen: modernste Zeittheorien, existentielle Deutungen und eine mitreißende Sprache. Thomas Lehr legt mit diesem Roman das wichtigste Buch seines bisher vielfach preisgekrönten Werkes vor.

Autorenporträt
Thomas Lehr, geboren 1957, lebt in Berlin. Für jedes seiner Bücher erhielt er mehrere Literaturpreise, darunter den Wolfgang-Koeppen-Preis der Hansestadt Greifswald, den Kunstpreis Rheinland-Pfalz, den Rheingau Literatur-Preis. 2010 wurde Thomas Lehr mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet, 2012 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk sowie 2015 mit dem Joseph-Breitbach-Preis für sein Gesamtwerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2005

Die Zeit ist aus den Fugen
Im Erzählteilchenbeschleuniger: Thomas Lehr läßt in seinem neuen Roman Atomphysik und literarische Tradition kollidieren

Es hätte jeden treffen können. Besuche im Cern bei Genf, dem größten europäischen Forschungszentrum für Teilchenphysik, sind kostenlos und stehen jedem offen. Doch der Preis, der an diesem Tag für den Blick in die Zukunft der Menschheit zu zahlen ist, übersteigt jede Vorstellungskraft: Als Adrian Haffner, ein freier Wissenschaftsjournalist, Mitte Dreißig, mit etwa siebzig anderen Besuchern nach der Besichtigung der unterirdischen Detektoranlage Delphi am legendären Elektronen-Positronen-Beschleuniger wieder ins Freie tritt, bleibt die Zeit stehen.

Um 12 Uhr 47 Minuten und 42 Sekunden gefriert jede Bewegung, verstummt jeder Laut, hält jedes Auto an und versteinert jedes Lebewesen - mit Ausnahme jener siebzig Menschen, die in einer Art Zeitblase überleben oder besser: überdauern. Denn ihre Umgebung ist nicht tot, sondern jedem Werden und Vergehen entzogen, ewige Gegenwart. Die Welt wird zum riesigen Skulpturenpark, zum Wachsfigurenkabinett, zu einem betretbaren (und nie mehr zu verlassenden) Tableau, dessen menschliche Bewohner sich in zwei Gruppen teilen: die "Chronifizierten" oder "Zombies", wie sich die von der kosmologischen Katastrophe Verschonten bald selbst bezeichnen, und die "Fotografierten" und schon bald respektlos "Fuzzis" Genannten, die in der Haltung versteinerten, die sie in der zweiundvierzigsten Sekunde jenes Augusttages zufällig einnahmen.

Womit haben wir es hier zu tun? Mit Science-fiction, jenem Literaturgenre, das dem Kind im älter gewordenen Mann den Chemiebaukasten ersetzt? Oder einer romanhaften Kopfgeburt, die pünktlich zum Einstein-Jahr die Relativitätstheorie und Zeitphilosophie zu einer eingängigen Story mit "human touch" trivialisiert? Ernstzunehmende deutsche Gegenwartsliteratur kann das doch wohl kaum sein? Denn daß diese ein so hohes Risiko eingeht, sich so angreifbar macht, sich auf das dünne Eis naturwissenschaftlich-philosophischer Spekulation begibt - das scheint fast so unwahrscheinlich wie ein Zeitleck im Teilchenbeschleuniger. Jedenfalls, solange man nicht mit einem Autor wie Thomas Lehr rechnet, einem unserer klügsten und brillantesten Schriftsteller, der 1999 mit "Nabokovs Katze" einen der wichtigsten Romane des vergangenen Jahrzehnts geschrieben und seither nur die schmale Novelle "Frühling" nachgelegt hat.

In seinem lang erwarteten neuen Roman stellt Lehr nun den Begriff des literarischen Experiments vom Kopf auf die Füße: Nicht die Erzählweise, sondern die beschriebene Welt gehorcht plötzlich unbekannten Gesetzen. Aus einem schlichten Einfall, der in allen nur denkbaren Konsequenzen und in aller Radikalität durchgespielt wird, ergibt sich eine kaum auszumessende Romanwelt. Wie die Wissenschaftler an ihren Überwachungsmonitoren schaut der Leser der Entstehung eines Paralleluniversums aus sprachlicher Antimaterie zu, wo Kunst und Technik, geistige und naturwissenschaftliche Traditionen kollidieren. Denn überall bieten Philosophie und Kunst - von den Vorsokratikern über Augustinus bis zur Laokoon-Debatte und zur Theorie der Fotografie - den Bezugsrahmen dieser wissenschaftlich-technischen Dystopie.

Die Chronifizierten versuchen sich nach dem ersten, heftigen Schock in der erstarrten Welt einzurichten. Rasch bilden sich Fraktionen, Splittergruppen, Zweckgemeinschaften. Adrian hält sich zunächst an ein befreundetes Journalistenpärchen, Anna und Boris, erkundet jedoch bald allein die so bekannte und doch völlig fremde Eiswelt. Ein Nationalrat samt Familie und Leibwächtern gehört zur Besuchergruppe, auch viele renommierte Wissenschaftler und hochspezialisierte "Cerniten" aus aller Welt, die allerdings trotz abenteuerlichster Theoriebildungen keine Erklärung für das Geschehene bieten können, die den Spekulationen der Laien wesentlich überlegen wäre: War es ein Cern-Unfall? Ein fehlgeschlagenes Experiment? Oder gar der Eingriff einer außerirdischen, technisch höher stehenden Intelligenz?

Der Stillstand der Zeit ist irrwitzig genug, noch mysteriöser allerdings sind die Ausnahmen, die merkwürdigen Axiome der "Neuen Physik", unter denen fortan zu leben ist: Jeder einzelne der Überlebenden ist von einer individuellen, eng begrenzten Zeitblase umgeben, die sich mit ihm fortbewegt, aber deren Kraft nicht einmal ausreicht, um eine Maus durch Berührung wiederzubeleben oder ein Fahrrad zu benutzen. Mehrere Blasen können sich zu größeren zusammenschließen, so daß immerhin Gespräche in einer ansonsten schallwellenlosen Atmosphäre möglich werden. Daß dies nicht auch für Lichtstrahlen gilt und man stets unter der stechenden Mittagssonne des Katastrophentages lebt, gehört zu den physikalischen Geheimnissen der neuen Weltordnung. Kommt man einem "Fotografierten" zu nahe, entlockt man ihm immerhin trügerische muskuläre Reaktionen, was Gelegenheit zu allem möglichen Mißbrauch bietet. Elektrische Geräte dagegen geben augenblicklich den Geist auf, während mechanische Uhren, in Genf keine Mangelware, bald unentbehrlich werden. Denn neben dem eigenen Herzschlag sind sie Beweis der fortschreitenden Eigenzeit ihrer Träger.

Zu Beginn des Romans liegt die Katastrophe bereits über fünf Jahre zurück. Rückblickend bilanziert der Ich-Erzähler Adrian die bisherige Geschichte der reduzierten Menschheit, die einer der Wissenschaftler in fünf idealtypische Phasen eingeteilt hat: "1. Schock; 2. Orientierung; 3. Mißbrauch; 4. Depression; 5. Fanatismus". Nach ersten Versuchen einer notdürftigen Infrastruktur - ein handkopiertes Bulletin bietet eine Chronik der laufenden Ereignisse und den neuesten Stand der Ursachenforschung, eine improvisierte Arztpraxis und eine Bar werden zu gesellschaftlichen Treffpunkten - zerfällt die Gruppe fast vollständig. Ethische Differenzen über den Umgang mit "Fuzzis", sektiererische, ans Wahnsinnige grenzende Erlösungshoffnungen, Ausstiegsphantasien, Selbstjustiz und perverse Verbrechen - im Mikrokosmos der Überlebenden wiederholen sich sämtliche Ab- und Irrwege der Menschheitsgeschichte. Geworfen in eine Kreuzung zwischen spätmodernem, dekadentem Schlaraffenland und vorzivilisatorischen Naturzustand, sind Kultur und Moral erst wieder mühsam zu erarbeiten. Die Staatstheorien der frühen Neuzeit von Hobbes bis Rousseau werden im Modellbaumaßstab ausagiert; schon zwei Jahre nach der Stunde Null sind Landminen und Handfeuerwaffen wichtiger als Uhren geworden.

Geschickt webt Lehr in sein apokalyptisches Panorama die Fäden von Einzelschicksalen, mit denen er trotz aller Statik die Spannungskurve hoch hält. So ist Adrian auf der Suche nach seiner in der gefrorenen Restwelt gebliebenen Frau durch Mitteleuropa hin und her gewandert, um sie schließlich beim Ehebruch - für immer in flagranti - in einem Florentiner Hotelzimmer zu finden. Zugleich verzehrt er sich nach der fernen Anna, die mit Boris eines der wenigen Paare bildet. Die materiellen wie sexuellen Verführungen der Situation, deren Gewalt auch Adrian nicht fremd ist, werden an der thrillerhaften Handlung um den irren japanischen Wissenschaftler Hayami vorgeführt, der sich aus den wehrlosen Puppenmädchen einen eigenen Lusttempel errichtet hat und die ganze Rumpfgesellschaft ins Verderben stürzen will.

Nachdem ein drei Sekunden andauernder "Ruck" die Hoffnungen auf ein definitives Ende der Zeitstarre genährt hat, begegnen sich die drei auf der Reise nach Genf, dem inoffiziellen Treffpunkt, wieder. Als sich den Wissenschaftlern nun scheinbar ein Ausweg eröffnet, treibt die Dynamik der Erzählung ihrem überraschenden, auf der letzten Seite eine weitere Wendung nehmenden Höhepunkt zu, der weniger eine Auflösung der Widersprüche als eine weitere Komplizierung der Fragestellung ist.

Das Kopfzerbrechen, das der Leser mit den Romanfiguren teilt, ist nun bei Lehr nicht einfach die Veranschaulichung relativitätstheoretischer Paradoxien, sondern zugleich ein metafiktionales Spiel, das sich aus ganz anderen Quellen speist. Die Fülle der Verweise - schon der Name der Hauptfigur erinnert an Leverkühn aus dem Doktor Faustus, und Lehrs großes Vorbild Vladimir Nabokov hat einen ironischen Auftritt als lebensgroße Statue (diesmal eine echte!) im Palace Hotel von Montreux - macht die Geschichte durchsichtig als erzählerisches Palimpsest. Die Gesetze der "Neuen Physik" gelten allein im Kosmos des Romans. Es sind Bedingungen, die der Wissenschaftler für sein Gedankenexperiment definiert hat. Daher verblaßt auch die Frage nach der physikalisch-logischen Wahrscheinlichkeit der Handlung vor der verblüffenden Vorstellungskraft, mit der Lehr die Kontaktflächen zwischen Stillstand und Bewegung für originelle Sprachbilder und erzählerische Volten nutzbar macht.

Thomas Lehrs Roman ist vieles zugleich: Wissenschaftssatire, Zukunftsroman, eine Parabel auf die Aufklärung, ja auch die Geschichte einer männlichen Midlife-crisis von kosmischen Dimensionen. Vor allem aber ist er eine beeindruckende Demonstration dessen, was Kunst leisten kann, wenn sie sich mit der Macht ihrer Vergangenheit auf Augenhöhe mit der Gegenwart begibt.

Thomas Lehr: "42". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2005. 368 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Daß Lehr über ungewöhnliche Sprachkraft verfügt, hat er bereits in drei preisgekrönten Romanen gezeigt." F.A.Z.

"Auf jedem Wort liegt die ungeheure Spannung des Ganzen." Die Zeit

"Ein Autor, der gewinnt, weil er wagt." Frankfurter Rundschau

"Er ist nicht der Epigone Nabokovs, sondern der nachgeborene Mitschüler." Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2005

Die unberechenbare Software der Begierde
Wer hat an der Uhr gedreht? Thomas Lehrs Physik-Science-Fiction-Roman „42” hält die Zeit an
Noch ganz im Bann dieses abenteuerlichen Romans, der die Gesetze der modernen Physik außer Kraft setzen will, schießen auch wir eine steile These in die Umlaufbahn: Jeder Autor träumt von einem Buch, mit dem er alle Menschen auf dem Planeten in die Knie zwingen kann. Die Geschichte der modernen Literatur zumindest legt den Schluss nahe. Dort liegen sie alle, die Meteoriten geistiger Schöpfungskraft: Musils „Mann ohne Eigenschaften”, Hans Henny Jahnns „Fluß ohne Ufer”, Mallarmés Konvolut zu „Le Livre”, dem absoluten Buch, um nur einige der prominentesten zu nennen. Der 1957 in Speyer geborene Thomas Lehr, der schon in mehreren Büchern literarisch die Muskeln spielen ließ, will es mit seinem neuen Roman „42” endlich wissen. Mit kontrolliertem Größenwahn spielt er eine Partie Billard gegen sich selbst. Dabei interessiert ihn weniger der Mann mit dem Queue, mehr die Berichterstattung aus dem Innern der schwarzen Kugel, die sich am Ende selbst im Loch versenkt.
Am 14. August 2000 um die Mittagszeit fährt eine Gruppe von Besuchern des Genfer Kernforschungszentrums CERN 105 Meter tief hinab ins Juragestein, um den Großen-Elektronen-Positronen-Kollider DELPHI zu besichtigen. So weit, so normal. Man ist gebührend beeindruckt, irgendwie aber auch gelangweilt von dem Riesending mit seinem 80-Tonnen-Magneten (schließlich kann man die Ungeheuerlichkeiten der modernen Physik nicht sehen). Doch als die Besuchergruppe, es sind vor allem Journalisten, Physiker, Politiker, wieder ans Tageslicht kommt, ist irgend etwas anders. Immer noch knallt die Sonne strahlend hell vom Augusthimmel herab, doch die Luft lässt sich schwerer atmen, auch optisch scheint sie verändert, eine Mischung aus Aspik und Eis.
Das Merkwürdigste aber sind die Menschen rund um das von einer Catering-Firma aufgebaute Büfett: wie eingefroren in ihren Bewegungen stehen sie da. Das Lächeln der jungen Catering-Damen ist erstarrt, der Sekt steht in der Luft wie schlanke, aus Kunstharz gedrehte Säulen, die beiden Fahrer der CERN-Busse stehen sich, fixiert in der Geste des Hosenbodenkratzens und Genickmassierens, gegenüber. Und auch der Blick in den Himmel ist nicht wirklich beruhigend: Eine Maschine der Swiss Air ist in der Luft stehen geblieben. Diese Szene, luftig hell in der Darstellung, messerscharf in den Gedanken, schattenhaft in der erwarteten Bedrohung des Zukünftigen, zeigt Thomas Lehr ganz auf der Höhe seiner Erzählkunst. Bei wenigen Gegenwartsautoren verbinden sich Intelligenz und Sinnlichkeit so selbstverständlich zu einem Stil, der ebenso sprachgenau wie unprätentiös daherkommt. Unschwer zu erkennen, dass Vladimir Nabokov einer seiner Lehrmeister ist. Er hat ihn nicht nur in den Titel seines bisher besten Romans, „Nabokovs Katze” (1999), eingebaut, auch der neue Roman lebt von der Nähe zu diesem Autor, dem er augenzwinkernd ein kleines Denkmal errichtet, in der Pose eines seiner berühmtesten Fotos natürlich, als Schmetterlingsfänger.
In der Zeitblase gefangen
Was in „Nabokovs Katze” Drogen, Philosophie und Sex bewirken, nämlich die Erweiterung des eigenen Bewusstseins, treibt Thomas Lehr dieses Mal auf die Spitze. Der Autor, der vier Jahre in Berlin Biochemie studiert hat, strapaziert sein eigenes Bewusstsein - und das des Lesers - mit einer unlösbaren Denkaufgabe. Während die Gegend um Genf, später wird sich erweisen, auch Europa, und vermutlich die ganze Welt, in die Starre der still gestellten Zeit gefallen ist, leben die zunächst 70 Personen der Besuchergruppe (zwei sterben rasch, weitere Todesfälle kommen später hinzu) ungehindert weiter. Jeder einzelne geschützt in einer ungefähr auf Armlänge wirkenden Blase der Eigenzeit, streifen sie durch eine bewegungslose Welt. Das ergibt viele, zum Teil sehr hübsche und originelle Effekte, insgesamt lässt sich die Logik aber nicht aufrechterhalten. Am Zusammenstoß zwischen Phantasie und physikalischer Gesetze scheitern regelmäßig auch Science-Fiction-Autoren, die ihre Figuren in den Weltraum katapultieren. Ungleich schwerer ist die Aufgabe, eine Gruppe von Menschen in Zeitschiffen auf dem Boden der Erde durch die Gegend zu navigieren. Angestoßen von den Implikationen der Relativitätstheorie, manövriert sich der Autor in die aussichtslose Lage, gegen sie anzuschreiben. Dass nichts schneller sein kann als das Licht, ist nun einmal die Erkenntnis, an der man nicht vorbei kommt.
Und Thomas Lehr muss eine Menge Aufwand betreiben, um seinen Roman immer wieder um die Klippen herumzulenken, die er selbst aufgebaut hat. Am Ende gar steht der Versuch einer Zeitreise in die Vergangenheit. Mit einem der Teilchenbeschleuniger des CERN ist es ein Witz, auf den Physiker auch in der größten Verzweiflung nicht kämen. Gerade das aber versucht uns Thomas Lehr, versteckt hinter allerlei vergnüglichem Zeitreisen-Schabernack, zu suggerieren.
Wirklich gut ist der Roman immer dann, wenn er das alles hinter sich lassen kann, um sich ganz auf die Effekte zu konzentrieren, die sich im Inneren des Helden durch die herbe Versuchsanordnung seines komplett aus den Fugen geratenen Lebens ergeben. Adrian Haffner, geboren 1965, ein „mittelmäßiger Wissenschaftsjournalist”, verheiratet mit einer Zahnärztin, die sich angeblich auf einer Ferienreise mit einer Freundin an der Ostsee befindet, kommt recht bald zu Beginn der fünf Jahre der so genannten „Verwunschenheit” in sexuelle Nöte. Während er sich zu Fuß (alle Verkehrsmittel sind natürlich ausgefallen) auf die Suche nach seiner Frau begibt - er findet sie schließlich mit einem Liebhaber in einem Florentiner Hotel, eingefroren auf der Kante eines Doppelbettes -, erfindet er ein ziemlich raffiniertes System, fremde Frauen zu begatten. Schnell muss es gehen, denn es gibt einen kurzen Augenblick der Zeitübertragung von den „Chronifizierten” auf die Erstarrten, ein paar Sekunden nur, sodass die kurz aus dem Dauerschlaf erwachenden Damen zumindest einen kleinen Moment vaginaler Begrüßung zustande bringen. Aber so sehr sich dieses System verfeinern lässt, am Ende bleibt die Sache grausam: „Wie man es auch nachmacht, es ist erbärmlich ohne die tastende, unberechenbare Software der anderen Seite.” Nur mit Anna, der ebenfalls in einer Chronosphäre lebenden Kollegin, die ihren Mann zur Seite hat, ist es schön (aber selten). In Gesprächen zu dritt bilden sie manchmal eine Sphäre glücklicher Gemeinsamkeit. Nur wenn man die eigene Chronosphäre mit einer andern koppelt, entsteht ein fast normaler Raum, ein Art Zeit-Zelt.
Der Sinn des Universums
„Wir wollen eine ANTWORT. Sie muss noch nicht einmal gut sein”, wird das verzweifelte Lebensgefühl der scheinbar Privilegierten am Ende des Romans zusammengefasst. Seinen Titel trägt er aus zwei Gründen. „42” bezeichnet exakt jene Sekunde der 47. Minute der 12. Stunde, an der die Zeit stehen geblieben ist und in deren Endlosschleife sich die Figuren fünf Jahre ihres mühsam aufrechterhaltenen Kalenders bewegen. Aber „42” ist auch die Antwort, die der Supercomputer Deep Thought in Douglas Adams „The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy” auf die Frage nach dem Sinn des Universums gibt - nachdem er siebeneinhalb Millionen Jahre lang überlegte und rechnete.
Science-Fiction-Fans werden bei diesem Roman, der die gedanklichen Strapazen keineswegs mit einer sonst im Genre üblichen flotten Schreibe aufwiegt, nicht auf ihre Kosten kommen. Und dass er auch den Thomas-Lehr-Fans ziemlich zusetzt, schwante dem Autor offenbar selbst. Auf einer der Jahrestreffen, während derer die Zeitbewohner verzweifelt nach irgendeiner plausiblen Theorie suchen, stellt der Erzähler die entscheidende Frage: Warum der „Experimentator”, wenn es denn einen gäbe, nichts weiter mit ihnen anstelle, als sie „lange Jahre durch ein Standbild unserer Welt irren zu lassen”.
MEIKE FESSMANN
THOMAS LEHR: 42. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2005. 368 S., 22,90 Euro.
Die Ungeheuerlichkeiten der modernen Physik kann man mit Augen nicht sehen: Blick auf den Ring des Teilchenbeschleunigers CERN in Genf
Foto: CERN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensent Richard Kämmerlings ist in höchstem Maße angetan von diesem Roman, der für ihn vieles zugleich ist: "Wissenschaftssartire, Zukunftsroman, eine Parabel auf die Aufklärung, ja auch die Geschichte einer männlichen Midlife-Crisis von kosmischen Dimensionen". Es geht, wie Kämmerlings in einer kurzen Handlungsskizze schreibt, um den Stillstand der Zeit, von dem nur siebzig Menschen in einer Zeitblase verschont worden seien. Weil alles um 12 Uhr 47 Minuten und 42 Sekunden versteinert ist, habe sich die Welt in einen Skulpturenpark verwandelt, in dem die übriggebliebenen "Chronifizierten" sich langsam einzurichten versuchten. Im Verlauf des Romans wird dieser Zeitstillstand mit luzider Findigkeit gestaltet, wie man Kämmerlings faszinierten Beschreibung entnehmen kann. Ihn begeistert die physikalisch durchdachte Ausgestaltung dieser neuen Welt mit ihren eigenen Gesetzen. Auch das soziale und staatstheoretische Experiment des Autors mit seinen siebzig "Chronifizierten" findet der Rezensent höchst interessant. Geschickt reichere Lehr sein "apokalyptisches Panorama" mit einzelnen Schicksalen an. Seine "verblüffende Vorstellungskraft" erlaube es dem Autor, den Gegensatz von Stillstand und Bewegung für originelle Sprachbilder und erzählerische Volten nutzbar machen.

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