Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 2,70 €
  • Broschiertes Buch

Irena Brezná gibt Menschen eine Stimme, die entwurzelt sind, sich an Traditionen klammern oder mit ihnen brechen, ihr Leben meistern oder darum bangen müssen. Im Porträt einer Tschetschenin, die den Westen aufrütteln will, in den Reportagen über eine polnische Goralenhochzeit, über Bauern und Nonnen in Siebenbürgen oder Moldawien und über Flüchtlinge aus dem Kosovo, in grotesken Skizzen und Tagebuchnotizen variiert sie ihr Grundthema Heimat und Fremde. Ihre faktenreichen und wahrhaftigen Texte, die über den Realismus der Details und des Alltags hinausweisen, erschließen die Fülle und Vielfalt…mehr

Produktbeschreibung
Irena Brezná gibt Menschen eine Stimme, die entwurzelt sind, sich an Traditionen klammern oder mit ihnen brechen, ihr Leben meistern oder darum bangen müssen. Im Porträt einer Tschetschenin, die den Westen aufrütteln will, in den Reportagen über eine polnische Goralenhochzeit, über Bauern und Nonnen in Siebenbürgen oder Moldawien und über Flüchtlinge aus dem Kosovo, in grotesken Skizzen und Tagebuchnotizen variiert sie ihr Grundthema Heimat und Fremde. Ihre faktenreichen und wahrhaftigen Texte, die über den Realismus der Details und des Alltags hinausweisen, erschließen die Fülle und Vielfalt der Dinge und ermutigen zu Freiheit und Menschlichkeit. Ein lebenbejahendes Buch.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Emphase der Freundschaft
Heimat als Begabung: Irena Brezná sammelt Seelen
Die Heimat steht in schlechtem Ruf. Sie wird assoziiert mit Heimat-Vertriebenen, die ihrer politischen Repräsentanten wegen eine ungebührlich schlechte Nachrede haben, oder mit kostümierten Heimat-Schützern, die in der ländlichen Tracht vergangener Jahrhunderte durch die Stadt ziehen. Urbane Gesellen, die nicht in den Verdacht geraten wollen, womöglich provinzielle Spießer zu sein, pflegen sich indigniert abzuwenden, sobald von Heimat gesprochen wird. Irena Brezná, 1950 in Bratislava geboren, 1968 aus der Slowakei in die Schweiz geflohen, eine Frau, die sich in entlegenen Regionen der Welt umgesehen hat und wahrlich eine freie, ungebändigte Intellektuelle geworden ist, fürchtet sich hingegen nicht, seit zwanzig Jahren im Grunde über nichts anderes als über Heimat zu schreiben. Über die Neigung des Menschen, nicht als Fremder unter Fremden leben zu wollen, sondern sich eine Heimat zu suchen, und über seine Fähigkeit, diese dort zu finden, ja zu erfinden, wo man sie nicht vermuten würde. Heimat ist ihr kein Besitzstand, sondern eine spezifische Begabung, sich die Welt anzueignen und in ihr wider wechselnde Mächte und Moden zu behaupten.
Die Reportagen, die sie jetzt vorlegt, verschränken geschickt Informationen, subjektive Eindrücke, Porträts von Menschen, Schilderungen von Landschaften mit Reflexionen auf Erlebtes, Gehörtes, Erinnertes. Die drei Kapitel des Sammelbands sind dem Kosovo, den unbekannten Ländern am Rand unseres Europa des Wohlstands, namentlich Rumänien, Moldawien und der Slowakei, sowie dem grausamen, notorisch verdrängten Komplex „Russland und Tschetschenien” gewidmet. Den Reportagen sind einige Texte vorangestellt, in der Irena Brezná die Frage von Heimat und Fremde grundsätzlich und persönlich zugleich angeht.
„Heimatsinne und Fremd-Card” ist die mitreißende Suada überschrieben, mit der sie ihre Heimat-Erkundungen antritt. Sie erinnert sich darin an die schottische Percussionistin Evelyn Glenny, die den Sonderfall einer tauben Musikerin darstellt. Wie sie ihre Musik eigentlich höre, wollte Brezná nach einem Konzert von der Gehörlosen erfahren. Die Musikerin bedeutete ihr, dass man ein Schlagzeug auch durch die Druckwellen wahrnehmen könne, die es erzeugt: „Seither höre ich auch mit den Beinen.”
In einem Londoner Café beobachtet die Autorin einen Transvestiten, der, „trunken davon, endlich eine Frau zu sein”, mit Schminke und Hüftschwung „ein permanentes Fest der Weiblichkeit veranstaltet” und die Beobachterin beschämt, weil sie, „in die Weiblichkeit hineingeboren”, vergessen hat, welchen „Genuss dieser Umstand” gewährt oder immerhin gewähren könnte. Als drittes fallen ihr die Krim-Tataren ein, die unter Stalin in die zentralasiatische Steppe umgesiedelt wurden und ihre Toten, verborgen im Koffer, zur Beerdigung nach Hause bringen mussten – trotzig einer Region verbunden, in der noch die Erinnerung an sie getilgt wurde: „Für mich sind das alles Heimatgeschichten”, fasst Brezná das scheinbar Unzusammengehörige zusammen, wie sie auch ihrem zweiten Sohn, dessen Vater Afrikaner ist, ein Heimatgefühl verdanke: Seit er geboren ist, „trägt die Heimat dunkle Haut”. Als sie jedoch in den USA lebt und gefragt wird, was das für ein Dialekt sei, den sie spreche, fühlt sie ein so großes Befremden, dass sie nach Europa zurückkehrt: „Ich gebe sie nicht her, meine belastete Vergangenheit, sie ist mir Heimat.”
Irena Brezná erzählt in ihren Reportagen von tschetschenischen Frauen, die vor den Augen ihrer Männer vergewaltigt wurden, die daraufhin vor den Augen ihrer Frauen an russische Panzer gehängt und zu Tode geschleift wurden; von Vertriebenen, Flüchtlingen, Heimatlosen, von Asylanten, die wie Verbrecher gehalten werden. Sie scheut nicht den genauen Blick auf die rohe Gewalt, die Grausamkeit, das Leid. Zumal ihre Berichte über ein Frauengefängnis im Ural, über das bestens florierende Netz von russischen Frauenhändlern oder über das Leben tschetschenischer Kriegswitwen sind eine Lektüre, die man kaum erträgt.
Aber diese schmerzwache Genauigkeit macht Breznás Kunst der Reportage noch nicht aus. Das Besondere ist vielmehr, dass hier keine Chronistin des Elends spricht, sondern eine Emphatikerin der Freundschaft. Wo immer sie sich umgesehen hat – in einem slowakischen Dorf in Rumänien, bei den letzten, auf die Ausreise wartenden Siebenbürgen oder inmitten der Ruinenlandschaft Tschetscheniens – ist sie auf merkwürdige, großmütige, beeindruckende Leute gestoßen. Es sind Leute, die nicht nur unterdrückt werden, sondern auf ihre eigene und ganz verschiedene Weise auch Widerstand leisten, nicht nur in bitterer Armut leben, sondern auch einen Reichtum an unverwechselbaren Sitten und menschlichen Beziehungen hüten.
Irena Brezná ist keine Romantikerin der fröhlichen Armut und der gesellschaftlichen Rückständigkeit. Weil sie den Verheißungen eines bloß technisch oder ökonomisch gedachten Fortschritts misstraut, ist sie jedoch in der Lage, mit wachem Auge Schönheit, Würde, Glück dort wahrzunehmen, wo der müde Blick des Konsumeuropäers nichts als Mangel und Defizit zu erkennen glaubt.
KARL-MARKUS GAUSS
IRENA BREZNÁ : Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa. Aufbau-Verlag, Berlin 2003. 207 Seiten, 16 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dass die Idee der Heimat seit längerem "in schlechtem Ruf steht", konnte Irena Brezna nicht davon abhalten, sich seit zwanzig Jahren mit eben dieser Idee zu beschäftigen, schreibt ein erfreuter Karl-Markus Gauß. Für Brezna sei Heimat "kein Besitzstand, sondern eine spezifische Begabung, sich die Welt anzueignen". Ihre Reportagen, die nun in einem Sammelband erscheinen, hat der Rezensent mit merklicher Begeisterung gelesen. Breznas Blick auf Osteuropa, den Balkan und den Kaukasus verschränke auf sehr anregende Weise Informationen mit Eindrücken von Menschen und Landschaften. Dabei scheue sie sich nicht, mit glasklarem Blick auf "die rohe Gewalt, die Grausamkeit, das Leid" zu schauen, so dass es der Leser zum Teil "kaum erträgt". Doch für Gauß ist es nicht nur diese "schmerzwache Genauigkeit", die Breznas Kunst ausmacht. Vielmehr spreche sie nie als "Chronistin des Elends", sondern als "Emphatikerin der Freundschaft", die sich fernab von jeglicher Armutsromantik einen Blick bewahrt habe für "Schönheit, Würde und Glück" der Menschen. Den Reportagen vorangestellt, so Gauß, sind einige Texte, in denen Brezna die "Frage von Heimat und Fremde" aufwirft, auf ihre ganz eigene, zugleich "grundsätzliche" und "persönliche" Art.

© Perlentaucher Medien GmbH