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Marion Kaplan liefert mit dieser bahnbrechenden Studie eine Innensicht der Judenverfolgung, wobei ihre Aufmerksamkeit weniger den Tätern und den "ganz normalen Deutschen" gilt. Sie lenkt vielmehr den Blick auf die Perspektive der Opfer: Wie haben die deutschen Juden den Alltag im Nationalsozialismus erfahren? Diese Frage beantwortet Marion Kaplan anhand einer Fülle von bislang kaum ausgewerteten Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen und Interviews hauptsächlich jüdischer Frauen. Ihr Blick verharrt zwangsläufig dort, wo ihn andere Historiker bislang rasch wieder abgewendet haben: in den Küchen und…mehr

Produktbeschreibung
Marion Kaplan liefert mit dieser bahnbrechenden Studie eine Innensicht der Judenverfolgung, wobei ihre Aufmerksamkeit weniger den Tätern und den "ganz normalen Deutschen" gilt. Sie lenkt vielmehr den Blick auf die Perspektive der Opfer: Wie haben die deutschen Juden den Alltag im Nationalsozialismus erfahren? Diese Frage beantwortet Marion Kaplan anhand einer Fülle von bislang kaum ausgewerteten Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen und Interviews hauptsächlich jüdischer Frauen. Ihr Blick verharrt zwangsläufig dort, wo ihn andere Historiker bislang rasch wieder abgewendet haben: in den Küchen und Wohnstuben, Straßen, Nachbarschaften, Kindergärten und Schulen, beim Einkaufen, in Cafés, auf Ämtern und Behörden. Erst aus dieser beklemmenden Nähe heraus begreift man die allmähliche Verengung des Lebens und den ungeheuren Mut, den das Überleben täglich gekostet hat.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2001

Holocaust vor der Haustür
Jüdisches Frauenleben im Dritten Reich
MARION KAPLAN: Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 409 Seiten, 34,32 Mark.
Mit der Schilderung einer Gewalt, die ihren Ursprung in den kleinsten Äußerungen von Vorurteil und Hass habe, werde hier der Holocaust vor der eigenen Haustür gezeigt, schrieb die New York Times über das jüngste Werk der Historikerin Marion Kaplan. Da ist zum Beispiel die Frau, die den Bäcker in Leipzig auffordert, ihren jüdischen Nachbarn keine Brötchen mehr zu liefern –„Juden brauchen keine Brötchen”. Da sind die Nachbarn, die mit einem Schild an der Tür vor den Juden nebenan warnen – „Nichts abgeben für uns, nichts mündlich hinterlassen”. Da sind die Hauswarte, die es als ihre staatsbürgerliche Pflicht ansehen, jüdische Mieter auszuspionieren und bei der Gestapo über sie Bericht zu erstat-
ten.
Diese zwischen 1933 und 1939 sich abzeichnende und verdichtende Verunsicherung und Bedrohung, die das Leben der Juden in Deutschland prägte, protokolliert Marion Kaplan. Sie zeigt die Beeinträchtigung, die allmähliche Störung und Zerstörung jüdischen Familien- und Gesellschaftslebens, die konkret erlebte soziale Desintegration, die Auswirkungen des schleichenden Faschismus und des unverhohlenen Antisemitismus, die zur zunehmenden Isolierung jüdischen Mitbürger führten.
Bleiben oder gehen?
Viele machten es nach dem Fall des Dritten Reiches den Juden offen oder unterschwellig zum Vorwurf, dass sie Deutschland nicht eher verlassen hatten. Auch darauf antwortet die Autorin. Und außerdem ist es ihr wichtig zu klären, welche besondere Rolle die Geschlechtszugehörigkeit bei den Reaktionen der jüdischen Opfer auf Ausgrenzung und Verfolgung spielte, bei den Entscheidungen etwa, die gefällt werden mussten, ob man in Deutschland bleiben oder vielleicht doch auswandern solle.
„Between Dignity and Despair” (Zwischen Würde und Verzweiflung) heißt der amerikanische Originaltitel der Untersuchung, und er legt den Finger auf die Wunde: Die jüdischen Frauen und ihre Familien in Nazideutschland führten einen Überlebenskampf, in dem ihre Würde und Selbstachtung andauernd im Widerstreit lag mit der Resignation und Verzweiflung, gegen die sie sich wehren mussten. Das macht die Frauen in Kaplans Perspektive zu Heldinnen: Sie erscheinen als Vorbilder, manchmal fast idealisiert. Wie schwer es dabei für jüdische Frauen und Männer oft wurde, die Gefahr, die sich über ihnen zusammenballte, in ihrer ganzen Auswirkung verstehen, wie stark es ihnen widerstrebte, Schikanen, Verfolgungen und allmähliche Verluste von Beruf, Vermögen, Freunden, Nachbarn und sozialem Leben in ihrem Umkreis als Beginn der antisemitischen Vernichtungspolitik zu begreifen, das wird aus den vielen Zitaten, Erinnerungspartikeln, Memoiren deutlich.
So differierte zwischen den Geschlechtern auch häufig die Bewertung dieser Gefahr und die Einschätzung einer Situation als extrem oder vorübergehend. Außerdem konnten emotionale Bewertungen von Frauen dazu führen, dass ihnen Hysterie vorgeworfen wurde. Oftmals mussten sie ihre Ängste vor Ehemann und Kindern verbergen und ihre Energie darauf konzentrieren, die ausgegrenzte Familie mit dem Nötigsten zu versorgen.
Das Erinnerungsmosaik dieses Buches beginnt 1933 und reicht bis zum Kriegsausbruch mit Bombenangriffen, Zwangsarbeit und Deportation, Verzweiflung und Selbstmord oder dem Leben im Untergrund und in der Illegalität. Dazu gibt es detaillierte Einsichten darüber, wie man sich bis zum Novemberpogrom 1938 einzurichten versuchte in einer Normalität, die keine mehr war, wie man mit Familiengründungen, Mischehen und dem Schulalltag umging.
Die Bedrohung, welche die Juden erlebten, vermischte sich, so Kaplan, auf verwirrende Weise mit dem Alltag, den sie bisher gekannt hatten. Den jüdischen Opfern zeigte sich bei der Ausgrenzungspolitik der Nazis kein gradlinig fortschreitendes Muster, sie sahen vielfach widersprüchliche Maßnahmen, die alle diejenigen trügerische Hoffnung schöpfen ließen, die glaubten, dass der Spuk vorbeigehen werde.
Der Perspektive der Opfer stellt Kaplan die Sichtweise und Motivation der Täter gegenüber: Auch unter Bezug auf andere Forscher wie Robert Gellately und Daniel Goldhagen setzt sich die Autorin mit dem Mitläufertum und den Wurzeln des deutschen Antisemitismus auseinander. So entwickelt Kaplan hier erfolgreich weiter, was sie in ihrer Studie über das jüdische Bürgertum im deutschen Kaiserreich und die Rolle der jüdischen Frau erstmals unternahm: Sie zeigt die Vernetzung von Alltagsgeschichte, von Frauengeschichte und allgemeiner Geschichte.
BIRGIT WEIDINGER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2001

Verbotener Alltag
Jüdische Familien in der NS-Zeit: Vom sozialen zum physischen Tod

Marion Kaplan: Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 320 Seiten, 39,00 Mark.

Was bedeutete es, als Jüdin im nationalsozialistischen Deutschland zu leben? Pablo Picasso schrieb einmal, wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen. Marion Kaplan sucht nicht nach einer historischen Wahrheit über die Opfer, sondern nähert sich den verschiedenen, oftmals verwirrenden Wahrheiten in der Darstellung individueller Schicksale. In der Beschreibung des jüdischen Alltags will die amerikanische Historikerin und Tochter jüdischer Emigranten vermitteln, wie jüdische Frauen mit den wachsenden Spannungen und Anfeindungen umgingen und welche Handlungsmöglichkeiten ihnen blieben. Die sorgfältig ausgewählten Briefe, Erinnerungen und Interviews, die zum großen Teil für das vorliegende Buch erstmals ausgewertet wurden, zeichnen ein eindringliches Bild der Bedrängnis, in der sich deutsche Juden seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten befanden.

Der erste Teil des Buches widmet sich den zunehmenden Einschränkungen im Alltagsleben und im Privatbereich. Systematisch wird die jüdische Bevölkerung Deutschlands bis 1938 dem sozialen Tod preisgegeben, bevor später der physische Tod als "Endlösung" folgt. Jüdische Frauen müssen versuchen, die Normalität des Familienlebens unter sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Kaplan schildert die tagtäglichen Schwierigkeiten beim Einkauf, in der Nachbarschaft, im Umgang mit Schule und Kindergarten und die ständige Angst, in der Öffentlichkeit als jüdisch identifiziert und angefeindet zu werden. Sie vermag durch diese Innenperspektive zu zeigen, daß der tödliche Haß, der zum Genozid führte, in den Vorurteilen und Repressalien des Alltags seinen Ursprung hatte.

Die wachsende psychische Belastung überträgt sich zunehmend auch auf die Privatsphäre und damit auf Ehe- und Familienleben. Als viele jüdische Männer ihre Arbeit verlieren, werden die traditionellen Geschlechterrollen auf den Kopf gestellt. Häufig sind es die Frauen, die die notwendigen Behördengänge für die Emigration erledigen, da sie seltener Opfer spontaner Brutalität werden als ihre Männer. "Bis jetzt habe ich eine Sammlung von dreiundzwanzig Dokumenten zusammen", schreibt eine Frau in ihren Erinnerungen: "In der Zeit, die ich auf diese wertvollen Papiere wartete, konnte ich die Beamten und das Mobiliar von fünfundzwanzig Dienststellen gründlich studieren." Und es sind oft die Frauen, die sich neue Fähigkeiten aneignen, um sich auf ein Leben im Ausland vorzubereiten. Ihre Männer leiden eher unter dem Statusverlust und erstarren in Verzweiflung und der Hoffnung, es handele sich um eine vorübergehende Phase.

Mit der sozialen Stigmatisierung geht für Männer wie Frauen ein doppelter Identitätsverlust als Deutsche und Juden einher, den viele durch eine Rückbesinnung auf jüdische Traditionen und Werte abzufangen versuchen. Die vertraute Umgebung wird Schritt für Schritt zum "Niemehr-Heimatland", wie es die deutsch-jüdische Lyrikerin Ilse Blumenthal-Weiss in ihren Gedichten nennt. Dabei sind die Anzeichen der drohenden Vernichtung oftmals verwirrend: In manchen Erinnerungen, die Kaplan zitiert, ist es das freundliche Wort der deutschen Nachbarin, an das eine ganze Familie die Hoffnung auf bessere Zeiten knüpft und bleibt.

Im zweiten Teil ihres Buches schildert Kaplan das Leben nach dem Novemberpogrom 1938. Der öffentliche Raum ist für die jüdische Bevölkerung tabu, und 1941 werden selbst Ausflüge in den Wald verboten. Die letzten noch aktiven jüdischen Gemeinden gestalten jedes freie Plätzchen auf den Friedhöfen zu Spielplätzen für kleinere Kinder um, während die größeren das Unkraut auf den Gräbern jäten sollen, um frische Luft zu bekommen. Die doppelte Bedrohung durch Bombenangriffe und die Gestapo im Krieg und die ständige Angst vor der Deportation fordern jeden Tag aufs neue den Mut zum Überleben. Viele sehen in dieser Zeit den Selbstmord als einzige Möglichkeit, sich den Nazis zu entziehen und einen "eigenen Tod" zu sterben. Andere versuchen im Untergrund zu überleben und müssen ständig das Versteck wechseln - immer in der Angst, entdeckt oder verraten zu werden.

"So, leb denn wohl, mein geliebtes Kätilein, sei weiter glücklich. Du hast mir nur Freude bereitet, ich weiß von keinem Kummer", schreibt eine Mutter in ihrem letzten Brief vor der Deportation an ihre Tochter in England. Solche Quellen erschließen eine andere Dimension der Wahrheit dieser dunklen Jahre, denn in ihnen wird die Verzweiflung der Opfer greifbar. "Was Heimat heißt, nun heißt es Hölle", so der jüdisch-österreichische Essayist und Dramatiker Berthold Viertel über das Land seiner Herkunft. Marion Kaplan gelingt es, in der Darstellung des Alltags den Weg durch die verschiedenen Kreise der Hölle sensibel und anschaulich nachzuzeichnen.

CONSTANZE KRINGS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr anschaulich und klar führe die Historikerin Marion Kaplan dem Leser vor Augen, wie sich das Leben für die Juden während der Nazi-Zeit zunehmend bedrohlicher und unsicherer entwickelte, schreibt Birgit Weidinger. Besonders interessant findet die Rezensentin, dass die Autorin in ihrer Studie auf die Unterschiede zwischen den Geschlechterrollen hinweist. Die Frauen, so Weidinger, verbargen ihre Sorgen und Ängste vor der Familie, um nicht als hysterisch zu gelten und so konzentrierten sie all ihre Energie auf einen Überlebenskampf, in dem ob der durchaus auch widersprüchlichen Politik der Nazis immer ein Hoffnungsschimmer, doch nicht dem Schlimmsten ausgesetzt zu sein, glimmte. Sehr gelungen findet Weidinger auch, wie Kaplan der Perspektive der Opfer die Perspektive der Täter gegenüberstellt und sich mit dem Mitläufertum der Deutschen auseinandersetzt.

© Perlentaucher Medien GmbH