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Produktdetails
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Seitenzahl: 619
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 794g
  • ISBN-13: 9783351025168
  • ISBN-10: 3351025165
  • Artikelnr.: 25048793
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2001

Gespenster am toten Klischee
In seiner Biographie Heiner Müllers sieht Jan-Christoph Hauschild Harmonie, wo Widersprüche toben · Von Hans Christoph Buch

"Müller, Müller", sagte Erich Honecker und blätterte zerstreut in der vor ihm liegenden Kaderakte. "Der Name kommt mir bekannt vor." - "Richtig", sagte Heiner Müller, seine Chance witternd. "1951 trat ich mit einer Lyrik-Brigade der FDJ bei den Weltjugendfestspielen auf." Honecker strahlte: "Das waren schöne Zeiten. Damals haben die Schriftsteller uns noch keine Schwierigkeiten gemacht. - Was hast du auf dem Herzen, Genosse?" Heiner Müller beichtete dem Staatsratsvorsitzenden, daß er Ginka Tscholakowa heiraten wollte, eine Studentin aus Sofia, die von der Staatssicherheit ohne Angabe von Gründen aus der DDR ausgewiesen worden war. "Es gibt so viele hübsche junge Mädels in unserer Republik", sagte Honecker. "Warum muß es unbedingt eine Ausländerin sein? Hand aufs Herz, Genosse - liebst du sie wirklich?" - "Ich denke schon." - "Und wie stehst du zu unserer Republik?" Heiner Müller wurde abwechselnd heiß und kalt. Eine zu positive Antwort klang unglaubwürdig, eine negative schied aus, und trotz anderslautender Beteuerungen war der Generalsekretär der SED allergisch gegen Kritik. "Mir gefällt's hier", sagte er lapidar. Honecker strahlte erneut. "Also meinetwegen, ihr könnt heiraten." - "Dürfen wir auch in den Westen reisen?" - "Ja, aber zurückkommen in die DDR!" Erich Honecker drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger.

Derartige Anekdoten, die Heiner Müller zu vorgerückter Stunde, bei Whisky und Zigarren, umwerfend zu erzählen verstand, sucht man vergeblich in Jan-Christoph Hauschilds 620 Seiten starker Biographie des sozialistischen Dramatikers. Vielleicht sollte man nicht erwarten, Heiner Müllers schwarzen Humor, seine trotz aller Zynismen zarte Lakonie in einem Buch wiederzufinden, das Leben und Werk des deutsch-deutschen Stückeschreibers von außen schildert und literarhistorisch auf den Begriff zu bringen versucht. "Mit Hilfe von Paul Dessau erhält er schließlich einen Termin bei Honecker, der ihm persönlich ein Visum genehmigt" - in diesem wenig aussagekräftigen Satz faßt Hauschild die erwähnte Episode zusammen. Daß Müllers Ehe mit Ginka Tscholakowa zwar noch Jahre fortbestand, aber innerlich in die Brüche ging, kaum waren die äußeren Hindernisse aus dem Weg geräumt - auch diese Pointe wird vom Autor verschenkt, wie er überhaupt die Risse in Müllers Leben und Werk nicht deutlich herausstellt. Dabei waren beide aus dem gleichen Stoff gemacht: Zwischen den historischen Koordinaten seiner Biographie - von der Weimarer Republik über die Machtergreifung der Nationalsozialisten bis zu Aufbau und Niedergang der DDR - und den privaten Tragödien des Autors Müller - von Inge Müllers Selbstmord bis zu seinem durch Whisky und Zigarren beschleunigten, frühen Tod - besteht, so besehen, kein prinzipieller Unterschied: Beide Höllen hat er in seiner Arbeit immer wieder thematisiert. Nicht nur die politische Geschichte, auch sein Privatleben war - so hat er selbst es einmal formuliert - für den Dramatiker nur Material: Medeamaterial (wie der Tod von Inge Müller) oder eben Müllermaterial.

Trotz oder wegen ihrer zu allem entschlossenen Post-Modernität haben Heiner Müllers Stücke das Verfallsdatum der real existierenden DDR nur knapp überlebt: Nach seinem Tod Ende 1995 wurde es überraschend schnell still um den vor und nach der Wende in beiden Deutschlands frenetisch Gefeierten. Nicht so sehr wegen der kleinlichen Kompromisse, die der große Schriftsteller eingegangen war, wie etwa die zeitweilige Kooperation mit der Staatssicherheit, die im Buch auf peinliche Weise bagatellisiert werden. Die Ursachen des Paradigmenwechsels liegen tiefer. Ähnlich wie bei Joseph Beuys, von dem er viel gelernt hat, bildeten Heiner Müllers Person und Werk eine untrennbare Einheit, sozusagen ein Gesamtkunstwerk. In gewisser Weise war Müller ein östlich verortetes, literarisches Pendant zu Beuys, mit T-Shirt und Zigarre statt Trenchcoat und Hut, und mit dem Ableben der Person brach das Kraftzentrum weg, das die Späne auf dem Magnetfeld zusammenhielt: Ohne die Existenz des Autors, die das Werk beglaubigte (und umgekehrt), implodierte dieses wie der reale Sozialismus der DDR.

Jan-Christoph Hauschilds Biographie zeichnet Heiner Müllers Leben und Arbeit literarisch zuverlässig und psychologisch glaubwürdig nach. Es ist eine germanistische Fleißarbeit, die durch die Ausgewogenheit ihres Urteils überzeugt und zugleich verstimmt. Die Banalität des Buchs steht in auffälligem Widerspruch zur Brisanz seines Objekts, dessen Sprengkraft die deutschsprachige Literatur gehörig aufgemischt hat - mit zeitlicher Verzögerung in Ost und West. Heiner Müller wird von seinem Biographen vereinnahmt für etwas, was er sicher nicht war: Vertreter einer lauen Vernunft, eines linken Mainstreams aus ideologischen Versatzstücken - Antifaschismus aus zweiter und dritter Hand, gepaart mit einer utopischen Heilserwartung, die ausgerechnet in der DDR ihre Verwirklichung gefunden zu haben glaubte.

Die Brüche in Heiner Müllers politischer und literarischer Existenz entziehen sich einer harmonisierenden Sicht, in der die Stasi als humanitäre Organisation erscheint, die in kniffligen Fällen unbürokratisch Hilfe leistete. Die schmerzenden Widersprüche werden in unzulässiger Weise eskamotiert: der Widerspruch zwischen der literarischen Kühnheit von Müllers Werk und der persönlichen Feigheit des Autors, der in Köpenick auf die andere Straßenseite ging, als seine Frau Ginka von Betrunkenen angepöbelt wurde, und das obszöne Schauspiel sichtlich genoß - der Verfasser dieser Zeilen war selbst dabei. Oder der Widerspruch zwischen der von spätbürgerlicher Avantgardekunst inspirierten Form seines Spätwerks und dessen vom Agitprop der frühen DDR geprägter, holzschnittartiger Botschaft. Oder, last but not least, der Widerspruch zwischen der Sanftheit des Autors, der mit allen gut Freund war und immer Zeit hatte für einen Whisky oder ein Gespräch - Müller schien nie zu arbeiten -, und der tollwütigen Gewalt seiner Dramen, die Reinhard Lettau einmal treffend als "Blut-, Sperma-, Eiter-, Kotze-Theater" charakterisiert hat. Diese anstößige Formel trifft die Eigenart von Heiner Müllers Schaffen, das pubertäre Schockelement ebenso wie die an Aischylos und Shakespeare anknüpfende Form der großen Tragödie, sehr viel genauer als das Allerweltsmotto "Das Prinzip Zweifel", unter das Hauschild sein Buch stellt. Der "Sadomarxist" Heiner Müller - ein Etikett, gegen das dieser nichts einzuwenden hatte - wird verharmlost zu einem kleineren Bruder von Brecht: weniger vernünftig vielleicht, aber nicht minder glaubensstark. Indem sie Heiner Müllers Leben und Werk auf gängige Klischees reduziert, wird Hauschilds Biographie trotz ihrer Gründlichkeit ihrem Gegenstand nicht gerecht.

Jan-Christoph Hauschild: "Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel". Eine Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 620 S., geb., 59,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Zu Heiner Müllers zehntem Todestag sind zwei Bücher erschienen, denen sich Beatrice von Matt in einer Doppelrezension widmet. Heiner Müllers "Autobiografie", die nun als neunter Band der Werkausgabe erscheint, war unter anderem Titel bereits 1992 erschienen, wurde 1994 erweitert und liegt nun in einem kommentierten Nachdruck vor, erklärt die Rezensentin. Sie lobt, dass daraus "viel zu erfahren" sei, auch wenn sie weiß, dass Müller selbst mit dem Buch nicht zufrieden war. Der Text ist aus Gesprächen, die Müller mit seinem Lektor Helge Malchow und anderen geführt hat, entstanden, und der Autor beklagte, dass es ihm nicht gelungen sei, die Dialoge "in Literatur" zu übertragen, informiert Matt. Trotzdem findet sie, dass der Band viele "hellsichtige Passagen von schlagender Prägnanz" zu bieten hat, etwa wenn Müller sein Schreiben in der Malerei Goyas "spiegelt". Auch wenn der Autor Kleist oder Shakespeare "von ihren Umbruchzeiten her" interpretiert, "denkt er politisch", stellt die Rezensentin fest, und sieht damit Müller als wahrhaft "europäischen Autor". Das demonstriere nicht zuletzt seine "weitgespannte Lektüre" von griechischen Schriftstellern über Faulkner bis zu den umstrittenen Autoren wie Ernst Jünger und Carl Schmitt, so Von Matt interessiert.

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